Artikel in der „Stuttgarter Zeitung“ vom 15.11.2003
Die große Geschichte eines kleinen jüdischen Friedhofs
Fünf Jahre lang hat die Pfarrerin Ulrike Sill warten müssen, nun liegt ihre
Dokumentation über Hochberger Grabsteine als Buch vor
Ein Wiedersehen mit Jacobine
REMSECK. Vor 64 Jahren hat der letzte jüdische Bürger Hochberg verlassen. In
dem Dorf, das heute zu Remseck gehört, blieben 241 Grabsteine mit hebräischen
Inschriften als stumme Zeugen einer Epoche zurück. Die evangelische Pfarrerin
Ulrike Sill hat die Spuren dokumentiert.
Von Frank Buchmeier
Idyllisch liegt er, der jüdische Friedhof in Remseck-Hochberg: an einem grünen
Hang oberhalb des Neckars, in herbstlicher Stille zwischen efeuumrankten
Bäumen. Wer den Weg dorthin nicht kennt, wird ihn schwer finden. Kein Schild
weist auf das Kleinod hin. Die Angst vor ungebetenen Besuchern sitzt tief bei
all jenen, die es pflegen.
Wenn die Pfarrerin Ulrike Sill zu einer Führung einlädt, nennt sie die
Bushaltestelle Lindenstraße als Treffpunkt und weist die Männer darauf hin,
dass sie eine Kopfbedeckung tragen müssen. Am vergangenen Sonntag kamen wieder
einmal mehr als 100 Bürger. "Die Menschen hier haben ein besonderes
Verhältnis zu ihrem jüdischen Friedhof", sagt Ulrike Sill. "Das
berührt mich sehr."
Vor zwölf Jahren, nachdem sie gerade ihr Studium beendet hatte, war die
evangelische Theologin vom Landesdenkmalamt damit beauftragt worden, die -
größtenteils hebräischen - Schriftzeichen auf den Gräbern zu dokumentieren. Das
Forschungsprojekt sollte den praktischen Zweck erfüllen, den Nachkommen der
Hochberger Juden das Auffinden ihrer Ahnengräber zu erleichtern. Viel Zeit
blieb für die Spurensuche nicht: Die bis zu 200 Jahre alten Steine bröckelten,
die Epitaphien waren nur noch schwer lesbar.
Dank den Entschlüsselungskünsten des Judaisten Gil Hüttenmeister schloss Ulrike
Sill ihre wissenschaftliche Arbeit 1998 erfolgreich ab. Gut 300 Seiten hatte
sie voll geschrieben und die Einsicht gewonnen: "Die große Geschichte ist
auch auf einem kleinen jüdischen Friedhof zu erkennen." Zwar wurde von
Hochberg aus niemand deportiert, weil der letzte jüdische Bürger, Adolf Falk,
das Dorf 1939 verlassen hatte. Doch auf dem jüdischen Friedhof in Hochberg,
einem von rund 150 in Baden-Württemberg, haben auch viele Ludwigsburger und
Stuttgarter ihre letzte Ruhe gefunden. Im Dritten Reich galt für die meisten
von ihnen: Entweder sie emigrierten rechtzeitig, oder sie kamen um. "Der
Holocaust ist indirekt auch in Hochberg spürbar", sagt Ulrike Sill.
Fünf Jahre lang musste die evangelische Pfarrerin darauf warten, bis ihre
historischen Erkenntnisse zwischen zwei Buchdeckeln veröffentlicht wurden.
Zunächst fehlte das Kapital. Nachdem örtliche Metzger, Dachdecker und andere
Privatpersonen genug gespendet hatten, sorgte die elektronische
Datenverarbeitung für ein weiteres profanes Problem: Der Computer wollte die
einst eingegebenen hebräischen Zeichen nicht mehr ausspucken.
Gestern konnte das Werk nun doch noch der Öffentlichkeit in der
evangelisch-methodistischen Kirche in Hochberg präsentiert werden, die bis zur
Auflösung der jüdischen Gemeinde 1914 eine Synagoge war. "Wer im Moment
die tagespolitische Diskussion verfolgt, weiß, dass wir uns mit unserer
jüngeren Geschichte beschäftigen müssen", sagte Remsecks Bürgermeister
Karl-Heinz Schlumberger. Als Kontrast zu einer Geschichtsklitterung à la
Hohmann wies Joachim Hahn, der in der Württembergischen Landeskirche für Fragen
zum Judentum zuständig ist, darauf hin, dass auch in Remseck einst evangelische
Pfarrer gegen Juden gehetzt hätten. Nachzulesen ist dies auf den Seiten 37 bis
60 von Sills Dokumentation "Der jüdische Friedhof in
Remseck-Hochberg", die der Gemeindearchivar Eduard Theiner als Gastautor
verfasst hat.
"Ein Friedhof ist eine Stätte der Toten, aber seine Bedeutung erhält er
von den Lebenden", sagt Ulrike Sill. Kürzlich führte die
Friedhofsforscherin die in England lebende Familie Falk, Nachkommen des letzten
Hochberger Juden, zu den Gräbern ihrer Ahnen. Auf dem Stein der 1836
verstorbenen Jacobine Falk lasen sie: "Hier ging die Sonne unter an deinem
Mittag. Dort wird dir leuchten der Herr, dein Gott. Und er wird dich sehen
lassen alle, die dir nahe stehen."