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Weinheim (Rhein-Neckar-Kreis)
Jüdische Geschichte / Betsaal/Synagoge
Zur jüdischen Geschichte in Weinheim siehe
vor allem auch die Seiten bei
www.juden-in-weinheim.de
Übersicht:
Zur Geschichte der jüdischen Gemeinde (english
version)
In
der bis zum Anfang
des 19. Jahrhunderts zur Kurpfalz gehörenden Stadt Weinheim bestand eine jüdische
Gemeinde zunächst im Mittelalter. Zwischen 1228 und 1391 werden Juden in
der Stadt genannt. In den Jahren 1298 und 1348/49 fanden Judenverfolgungen
statt.
Die Entstehung der neuzeitlichen Gemeinde geht in das 17. Jahrhundert zurück.
In und nach dem Dreißigjährigen Krieg wurden - zunächst vereinzelt - Juden
aufgenommen. Ende des 17. Jahrhunderts lebten bereits 16 jüdische Familien in
der Stadt.
Im 18. Jahrhundert ging die Zahl der Juden zurück. 1722 lebten zehn,
1743 zwölf jüdische Familien in der Stadt. Im 18./19. Jahrhundert lebten die
Weinheimer Juden vor allem vom Kram- und Viehhandel oder waren als Metzger tätig.
Im 19. Jahrhundert entwickelte sich die Zahl der jüdischen Einwohner
wie folgt: 1800 8 jüdische Familien, 1825 54 jüdische Einwohner (1,2 % von
insgesamt 4.693 Einwohnern), 1875 129 (1,9 % von 6.723), 1900 155 (1,4 % von
11.167). Die höchste Zahl jüdischer Einwohner wurde um 1905 mit 192
Personen erreicht, um danach langsam zurückzugehen: 1910 188 jüdische
Einwohner (1,3 % von insgesamt 14.170 Einwohnern).
An Einrichtungen hatte die jüdische Gemeinde eine Synagoge (s.u.), eine
Religionsschule und ein rituelles Bad. Die Toten der jüdischen Gemeinde wurden
auf dem zentralen Friedhof in Hemsbach
beigesetzt. Zur Besorgung religiöser Aufgaben der Gemeinde war ein Lehrer
angestellt, der zugleich als Vorbeter und Schochet tätig war. Besondere, das
Gemeindeleben prägende Lehrerpersönlichkeiten waren: in der 2. Hälfte des 19.
Jahrhunderts Elkan Schreiber, der von 1852 oder 1853 an über mehrere Jahrzehnte in
der Gemeinde wirkte und 1892 sein 40-jähriges Ortsjubiläum feiern konnte (siehe
Texte unten) sowie im 20. Jahrhundert Kantor Marx Maier, der 1904 den
Synagogenchorverein Weinheim und 1918 den Kammermusikverein Weinheim gründete.
Die Gemeinde gehörte (bereits seit 1827) zum Rabbinatsbezirk Heidelberg.
Einige Jahre war in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts Weinheim ein Zentrum
orthodoxen jüdischen Lernens, nachdem der hoch anerkannte jüdische
Gelehrte Dr. Hirsch Plato (ein Schwiegersohn von Samson Raphael Hirsch) 1861
in Weinheim ein Lehrerseminar (Bildungsanstalt für israelitische Lehrer),
verbunden mit einer "Israelitischen Lehr- und Erziehungsanstalt für
Knaben" eröffnete (vgl. Artikel unten).
Im Ersten Weltkrieg fielen aus der jüdischen Gemeinde David Karl (geb.
20.7.1876 in Weinheim, gest. 9.11.1917 in Gefangenschaft), Gefreiter Bernhard
Lehmann (geb. 8.11.1887 in Weinheim, gef. 15.2.1917), Max Lehmann (geb.
25.1.1879 in Weinheim, gef. 6.7.1915), Siegmund Rothschild (geb. 3.11.1883 in
Weinheim, gef. 27.6.1916) und Gefreiter Moritz Rothschild (geb. 23.8.1889 in
Weinheim, gef. 27.8.1917). Ihre Namen stehen auf den Gedenktafeln des Ehrenmales
für die Gefallenen in der Bahnhofstraße. Außerdem sind gefallen: Robert Neu
(geb. 13.6.1890 in Weinheim, vor 1914 in Stuttgart-Bad Cannstatt wohnhaft, gef.
24.8.1914) und Moritz Mendel (geb. 16.2.1890 in Weinheim, vor 1914 in Flamersheim wohnhaft, gef. 20.2.1916).
Um 1924, als zur Gemeinde etwa 160 Personen gehörten, waren die
Vorsteher der Gemeinde Dr. Moritz Pfälzer, David Benjamin und Jakob Bloch. Als
Hauptlehrer an der Simultanschule der Stadt und als Kantor wirkte der bereits
genannte Marx Maier. Er erteilte 1924 insgesamt 45 Kindern an öffentlichen
Schulen den Religionsunterricht (im Schuljahr 1931/32 noch 22 Kindern). An jüdischen
Vereinen bestanden der Bruderverein (Chewrah) Bikkur Cholim
(Israelitische Krankenunterstützungs- und Sterbekassenverein, 1868 gegründet,
1924 unter Leitung von David Benjamin mit 18 Mitgliedern), der Synagogenchorverein
(1924 unter Leitung von Adolf Braun mit 20 Mitgliedern, 1932 unter Leitung von
K. Maier), ein Jüdischer Frauenbund (gegründet 1928; 1932 Vorsitzende
Betty Liebmann mit 29 Mitgliedern; Zweck und Arbeitsgebiet: Unterstützung
Hilfsbedürftiger), ein Jüdischer Jugendbund (1932 unter Leitung von
Ruth Maier), ein Verein "Kameraden" (1932 unter Leitung von
Hannah Lichtenstein). 1932 waren die Vorsteher weiterhin Dr. Moritz Pfälzer
(1. Vors., gest. 1936 siehe Bericht unten), Jakob Bloch (2. Vors.) und David Benjamin (3. Vors.). Es bestand
neben dem Vorstand eine Repräsentanz der Gemeinde mit dem 1.
Vorsitzenden Max Hirsch und dem 2. Vorsitzenden Isak Weil.
Bis nach 1933 gehörte eine große Zahl von Gewerbe- und Handelsbetrieben
jüdischen Familien, darunter Textilgeschäfte, ein Warenhaus und andere Geschäfte.
Von besonderer Bedeutung war die Lederfabrik Hirsch, die bedeutendste
Rosslederfabrik Deutschlands mit bis zu 400 Beschäftigten. Folgende Geschäfte
und Betriebe können in Auswahl genannt werden:
Mehl- und Getreidehandlung Ludwig Altstädter (Tannenstraße 13), Mehl- und
Getreidehandlung Nathan Altstädter (Hauptstraße 50), Modehaus Bergen, Inh.
Siegfried Bergen (Hauptstraße 96), Eisenhandlung Moritz Hamburger (Entengasse
4), Textilgeschäft Isaak Heil (Hauptstraße 63), Fa. Lederwerke Sigmund Hirsch
(im Gewann "Zwischen den Dämmen"), Inh. Artur Hirsch (Bismarckstraße
4), Julius Hirsch (Bismarckstraße 5), Max Hirsch (Bergstraße 6), Metzgerei
Hermann Hirsch (Müllheimer Talstraße 24), Textilgeschäft Gabriel Lehmann
(Hauptstraße 17), Textilgeschäft Heinrich Liebmann (Hauptstraße 97),
Viehhandlung Moses Maas (Nördliche Hauptstraße 70), Warenhaus Geschw. Mayer
(Institutsstraße 3), Holz- und Kohlenhandlung Louis Oppenheimer (Lindenstraße
16), Praktischer Arzt Dr. Friedrich Reiss (Bahnhofstraße 21), Textilhaus Hugo
Rothschild (Hauptstraße 75), Schuhhandlung Leopold Schloß (Grundelbachstraße
18), Schuhmacherei Samuel Simon (Amtsgasse 2), Textilgeschäft Ferdinand Stiefel
(Amtsgasse 3), Textilgeschäft Josef Wetterhahn (Hauptstraße 69) sowie der
Rechtsanwalt Dr. Moritz Pfälzer (Ehretstraße 10).
1933
lebten 168 jüdische Personen in Weinheim. Die Nationalsozialisten hatten
sich bereits Jahre zuvor bemerkbar gemacht. 1927 hatte ein Gemeinderatsmitglied
die Einführung des wahlfreien hebräischen Unterrichts im Realgymnasium
abgelehnt. 1933 wurde jüdische Geschäfte im Zusammenhang mit den
Boykottmaßnahmen teilweise durch gelbe Kreise an den Schaufenstern
gekennzeichnet. Auf Grund der zunehmenden Repressalien, der Entrechtung und der
Folgen des wirtschaftlichen Boykotts sind in den folgenden Jahren 102 der
jüdischen Einwohner - überwiegend in die USA emigriert; 25 verzogen in andere
Städte. Die letzten 47 wurden am 22. Oktober 1940 nach Gurs deportiert. Ein
Großteil von ihnen ist in der Folgezeit in Frankreich beziehungsweise nach dem
Weitertransport in das KZ Auschwitz umgekommen / ermordet worden.
Von den in Weinheim geborenen und/oder
längere Zeit am Ort wohnhaften jüdischen Personen sind in der NS-Zeit
umgekommen (Angaben nach den Listen von Yad
Vashem, Jerusalem und den Angaben des "Gedenkbuches
- Opfer der Verfolgung der Juden unter der nationalsozialistischen
Gewaltherrschaft in Deutschland 1933-1945"): Karoline Altstädter
geb. Hirsch (1893), Ludwig Altstädter (1892), Rosa Altstädter, Leopold
Assenheim (1898), Arthur Auerbacher (1898), Berthold Auerbacher (1927), Herbert
Auerbacher (1931), Johanna Auerbacher geb. Freund (1896), Emil Bär (1877),
Flora Bär (1902), Louis Bär (1881), Richard Bär (1886), Rudolphine Bär
(1879), David Benjamin (1871), Emilie Benjamin geb. Blüm (1870), Friederike
Böhm geb. Lehmann (1888), Elsa Brand geb. Neu (1888), Sigmund Brückmann
(1875), Helene Dahl (1895), Fritz Dalsheim (1892), Johanna Dalsheim geb.
Oppenheimer (1892), Willi David (1880), Albert Eckhaus (1912), Felicitas
Eckstein geb. Freudenberger (1892), Lore Eckstein (1921), Josef Friedhaber
(1906), Minna Frohmann (1898), Hermine Gladtke geb. Neu (1879), Emil Haberer
(1874), Recha Heil geb. Neu (1867, Foto des Grabsteines in Gurs siehe unten), Betty Hirsch geb. Herzog (1879), Martha
Recha Hirsch (1910), Rudolf (Raphael) Hirsch (1877), Rosa Hirsch geb. Herzog
(1883), Frieda Kahn geb. Oppenheimer (1885), Jettchen Kahn (1873), Berta Kassel
geb. Marx (1885), Paul Kassewitz (1900), Berta Kaufmann (1883), Herbert Kaufmann
(1884), Julius Kiefer (1898), Charlotte Kirschbaum geb. Hirsch (1912), Anna
Krell geb. Kapustin (1907), Emma (Ella) Lehmann geb. Götter (1857), Gustav
Lehmann (1880), Erna Leiser geb. Joachimszyk (1886), Bella Lichtenstein (1901),
Heinrich Liebmann (1875), Berta Lindheimer geb. Sommer (1862), Amalie Lörsch
geb. Müller (1897), Daniel Marx (1860), Salomon Marx (1892), Therese Marx geb.
Krämer (1886), Joachim Hans Milkuschütz (1910), Lieselotte Mirjam Milkuschütz
(1914), Alfred Neu (1895), Ferdinand Neu (1878), Hanchen Neu (1882), Hedwig Neu
geb. Rauner (1884), Max Neu (1878), Rosalie Neu geb. Meyer (1880), Elise
Oppenheimer geb. Schimann (1882), Friderika Oppenheimer geb. Lehmann (1885),
Henny Oppenheimer (1896), Louis Oppenheimer (1864), Regina Oppenheimer (1906),
Sara Oppenheimer (1883), Friedrich Rapp (1888), Tilly Rapp geb. Heil (1902),
Heinrich Rosenberg (1878), Selma Rosenberg geb. Levi (1883), Julius Rothschild
(1867), Sophia Rothschild (1880), Helene Schiff geb. Lehmann (1879), Gertrud
Schloss geb. Haas (1899), Leopold Schloss (1898), Lina Schnirer geb. David
(1873), Bernhard Schreiber (1871), Leo Schwarzschild (1871), Rosa Schwarzschild
(), Heinrich Seelig (1874), Max Selig (1893), Fanny Margarete (Grete) Sondheim
geb. Altstädter (1901), Harry Sonnenberg (1897), Martha Sonnenberg geb. Levi
(1897), Ruth Sonnenberg (1926), Ferdinand Stiefel (1878), Berta Strauß geb.
Altstädter (1896), Berta Weichsel (1881), Clementine Weil geb. Lederer (1887),
Heinrich Weil (1875), Bernard Marcel Weill (1885), Lucie Zeilberger geb.
Altstädter (1901).
Berichte aus der Geschichte der jüdischen Gemeinde
Aus der Geschichte der
jüdischen Lehrer
Ausschreibungen der Stelle des Religionslehrers und
Vorsängers/Vorbeters (1847 / 1853)
Anzeige im "Großherzoglich Badischen Anzeige-Blatt für den
See-Kreis" vom 10. Februar 1847 (Quelle: Stadtarchiv Donaueschingen):
"Bei der israelitischen Gemeinde Weinheim ist die
Lehrstelle für den Religionsunterricht der Jugend, mit welcher ein
Gehalt von 135 fl. sowie der
Vorsängerdienst samt den davon abhängigen Gefällen verbunden ist,
erledigt, und durch Übereinkunft mit der Gemeinde unter höherer
Genehmigung zu besetzen. Die rezipierten israelitischen Schulkandidaten werden daher aufgefordert,
unter Vorlage ihrer Rezeptionsurkunde und der Zeugnisse über ihren
sittlichen und religiösen Lebenswandel, binnen 6 Wochen sich bei der
Bezirkssynagoge Heidelberg zu melden.
Auch wird bemerkt, dass im Falle sich weder Schul- noch
Rabbinatskandidaten melden, andere inländische Subjekte, nach
erstandener Prüfung bei dem Rabbiner, zur Bewerbung zugelassen
werden." |
|
Anzeige im "Großherzoglich Badischen Anzeige-Blatt für den
See-Kreis" vom 30. März 1853 (Quelle: Stadtarchiv Donaueschingen):
"Durch die von großherzoglichem Oberrate dem Religionslehrer
Strauß auf Ansuchen bewilligte Dispensation von seinem Amte ist die
Stelle eines Religionslehrers und Vorbeters bei der israelitischen
Gemeinde Weinheim, mit einem Gehalt von 135 fl., einem jährlichen
Schulgelde von 48 kr. für jedes schulpflichtige Kind und den übrigen
Gefällen erledigt.
Die Bewerber haben sich unter Vorlage ihrer Aufnahmeurkunden und der
Zeugnisse über sittlichen und religiösen Lebenswandel binnen sechs
Wochen durch das betreffende Rabbinat an die Bezirkssynagoge Heidelberg zu
wenden." |
50-jähriges Dienstjubiläum sowie 40-jähriges Ortsjubiläum von Lehrer Elkan Schreiber (Lehrer in Weinheim seit
1852)
Anmerkung: auf Grund der Ausschreibung oben vom März 1853 war Elkan
Schreiber vermutlich erst ab 1853 in Weinheim.
Artikel
in der Zeitschrift "Der Israelit" vom 28. April 1892:
"Weinheim. Eine Freuden- und Festesfeier beging am 2. April die
hiesige israelitische Gemeinde zu Ehren ihres Lehrer Herrn Elkan Schreiber,
welcher an diesem Tage sein 50jähriges Dienstjubiläum beging und bereits
40 Jahre in hiesiger Gemeinde wirkt. Morgens 1/2 9 Uhr versammelte sich
die israelitische Gemeinde in der Synagoge zum Festgottesdienst. Die
Gemeinde hatte Festgewand angelegt. Der unter Leitung des Herrn
Hauptlehrers Bomhard gut geschulte Kinderchor sang die Festgesänge in
ergreifender Weise. Herr Lehrer Lehmann, Schwiegersohn des Jubilars, hielt
die Festpredigt. Herr Schreiber hielt sodann eine Anrede an die Gemeinde,
in welcher er einen kurzen Rückblick auf das Entstehen der Gemeinde warf;
mit Dank an Gott und Gemeinde schloss seine Rede. Nach Beendigung des
Gottesdienstes begab sich die Schuljugend unter Begleitung des
Synagogenrates und vieler Gemeindemitglieder in die Wohnung des Jubilars,
wo der gesamte Synagogenrat seine Glückwünsche unter gleichzeitiger
Überreichung eines silbernen Tafelaufsatzes, darbrachte. Der Schüler
Leopold Rosenfeld beglückwünschte den Jubilar im Namen der jetzigen und
früheren Schüler und übergab demselben einen Ruhesessel. Den zweiten
Teil der Feier bildete das Abends 9 Uhr im Gasthause zum grünen Laub
abgehaltene Bierbankett. Fast sämtliche Gemeindemitglieder mit ihren
Familien waren erschienen. Verschiedene Toaste wurden ausgebracht, Gesang-
und Musikstücke wechselten ab, erst morgens 1 Uhr trennte man sich
mit dem Bewusstsein, einen schönen Tag verlebt zu haben. Möge es dem
Jubilar vergönnt sein, noch lange in hiesiger Gemeinde zu wirken." |
Zur
Geschichte der "Israelitischen Lehr- und Erziehungsanstalt für
Knaben" sowie der "Bildungsanstalt für israelitische
Lehrer"
Anzeigen für die beiden Einrichtungen (1861-1863)
Anzeige
in der "Allgemeinen Zeitung des Judentums" vom 29. Januar 1861:
"Die Lehr- und Erziehungsanstalt für israelitische Knaben in
Weinheim an der Bergstraße (Baden) ist am 1. November dieses Jahres
unter Leitung des Herrn Dr. Plato eröffnet worden. - Vier Klassenlehrer
erteilen den Unterricht - Eine Hausmutter sorgt für die körperliche
Pflege der Zöglinge. - Anmeldungen beliebe man an den Direktor zu
adressieren.
Karlsruhe, den 26. Dezember 1860. Das provisorische Komitee der
Gesellschaft zur Unterhaltung des israelitischen Institutes zu Weinheim.
J. Henlé." |
|
Anzeige
in der Zeitschrift "Der Israelit" vom 21. August 1861: "Die
vom Großherzoglichen Badischen Ministerium genehmigte Bildungsanstalt
für israelitische Lehrer in Weinheim an der Bergstraße wird am 1.
Oktober dieses Jahres eröffnet werden. - Die Oberaufsicht führt der
Großherzogliche Oberrat der Israeliten. - Der Unterricht beschäftigt
sich mit der Befestigung und Erweiterung der elementaren Kenntnisse und
Fertigkeiten - namentlich durch Einführung in die vaterländische
Literatur - und umfasst außerdem: Seelenlehre, Unterrichts- und
Erziehungswissenschaft, französische Sprache, kaufmännische Buchführung,
das biblische und rabbinische Schrifttum in dem für den Religionslehrer
wünschenswerten Umfange und theoretische und praktische Anweisung zu den
mit dem Amte eines solchen in der Regel verbundenen Funktionen. -
Gelegenheit zur praktischen Ausbildung im Unterrichts- und Erziehungsfache
bietet das mit dem Seminar verbundene Pensionat. - Die Anstalt steht auf
dem Boden des traditionellen Judentums und erwartet von ihren Angehörigen
einen jüdisch-religiösen Lebenswandel. - Für Wohnung, Kost und
Unterricht jährlich 180 Gulden rhein. - Eine Anzahl unbemittelter Alumnen
kann unentgeltlich aufgenommen werden. - Aspiranten wollen sich unter
Einsendung ihrer Zeugnisse baldigst an den Unterzeichneten wenden. -
Weinheim, 13. August 1861. Dr. H. Plato." |
|
Anzeige
in der "Allgemeinen Zeitung des Judentums" vom 18. März 1862:
"Lehr- und Erziehungsanstalt für israelitische Knaben in
Weinheim a.d. Bergstraße (Baden). Beginn des Sommerkursus am 27. April. -
60 Zöglinge werden von sechs ordentlichen Lehrern und einem Hilfslehrer
unterrichtet. - Unterrichtsgegenstände: Hebräisch, Deutsch,
Schönschreiben, kaufmännisches Rechnen, kaufmännische Buchführung,
Französisch, Englisch, Mathematik, Naturkunde, Geographie, Geschichte,
Zeichnen, Gesang. - Wöchentlich 44 Stunden. - Sorgfältige körperliche
Pflege. -
Jährliche Pension 250 Gulden rhein. - Nähere Auskunft und Anmeldungen
bei Dr. H. Plato in Weinheim." |
|
Anzeigen
in der "Allgemeinen Zeitung des Judentums" vom 7. Oktober 1862:
"Bildungsanstalt für israelitische Lehrer in Weinheim an der
Bergstraße (Großherzogtum Baden). Das Ziel der Anstalt ist die
Ausbildung tüchtiger jüdischer Reallehrer. - Der Unterricht umfasst
daher in einem dreijährigen Lehrkursus das biblische und rabbinische
Schrifttum in dem für den Religionslehrer wünschenswerten Umfang, die
deutsche, englische und französische Sprache, Rechnen, Geometrie,
Algebra, Geographie, Geschichte, Naturgeschichte, Physik, Zeichnen,
Turnen, Gesang und Violinspiel. - Die Anstalt steht auf dem Boden des
traditionellen Judentums, und erwartet von ihren Angehörigen einen
jüdisch-religiösen Lebenswandel. - Der Unterricht wird von 8 Lehrern in
45 wöchentlichen Stunden erteilt. - Für Kost, Wohnung und Unterricht
jährlich 250 Gulden rhein. - Eine Anzahl unbemittelter Alumnen kann
unentgeltlich aufgenommen werden. Der Direktor Dr. H. Plato.
Lehr - und Erziehungsanstalt für israelitische Knaben in Weinheim an
der Bergstraße (Großherzogtum Baden). Der Unterricht wird in
wöchentlich 44 Stunden von 6 ordentlichen und drei Hilfslehrern erteilt.
- Unterrichtsgegenstände: Hebräisch, Deutsch, Schönschreiben,
kaufmännisches Rechnen, kaufmännische Buchführung, Französisch,
Englisch, Mathematik, Naturkunde, Geographie, Geschichte, Zeichnen, Gesang
und Turnen. - Sorgfältige körperliche Pflege. - Jährliche Pension
inklusive Schulgeld 250 Gulden rheinisch. Beginn des Wintersemesters am
26. Oktober. Der Direktor Dr. H. Plato." |
|
Anzeige
in der "Allgemeinen Zeitung des Judentums" vom 7. April 1863:
"Israelitische Lehr- und Erziehungs-Anstalt für Knaben in Weinheim
an der Bergstraße (Großherzogtum Baden). Unterrichtsgegenstände:
Hebräisch, Deutsch, Schönschreiben, kaufmännisches Rechnen,
kaufmännische Buchführung, Französisch, Englisch, Mathematik,
Naturkunde, Geographie, Geschichte, Zeichnen, Gesang und Turnen. - Der
Unterricht wird in drei Klassen von 10 Lehrern erteilt. - Sorgfältige
körperliche Pflege. - Jährliche Pension inklusive Schulgeld 250 Gulden
rhein. Dr. H. Plato". |
|
Verlegung der
Einrichtung nach Karlsruhe (1863) |
Anzeige in der "Allgemeinen Zeitung des Judentums"
vom 15. September 1863: "Unsere Lehr- und Erziehungsanstalt
für israelitische Knaben wird von Weinheim nach Karlsruhe verlegt und im
Oktober dieses Jahres daselbst eröffnet werden. -
Durch den Ankauf eines geräumigen Hauses mit Turnplatz und Garten in
gesunder und schöner Lage sind wir im Stande, den Zöglingen die
Annehmlichkeiten des Landlebens zu bereiten und ihre körperliche
Entwicklung in heilsamer Weise zu fördern.
Unterrichtsgegenstände: Hebräisch, Deutsch, Schönschreiben, Rechnen,
Französisch, Englisch, Mathematik, Naturkunde, Geographie, Geschichte,
Zeichnen, Turnen, Gesang; für Handelsbeflissene auch kaufmännische
Buchführung und Handels-Korrespondenz in deutscher, französischer und
englischer Sprache. - Jährliche Pension 250 fl.
Weinheim, den 6. September 1863. Dr. H. Plato." |
Bericht über die "Lehr- und Erziehungsanstalt" (1861)
Artikel
in der Zeitschrift "Der Israelit" vom 26. Juni 1861: "Aus Baden. Die im
November vorigen Jahres in Weinheim a.d. Bergstraße gegründete
Unterrichts- und Erziehungsanstalt für israelitische Knaben, hat, trotz
der Anfeindung, auf welche sie noch vor ihrem Erstehen gestoßen, trotz
der Vorurteile, welche schon der Idee ihrer Stiftung hinderlich in den Weg
traten, ihre Existenz zu sichern gewusst, und zwar nur durch die wahren
Verdienste um die jüdische Jugend, welche sie an den Tag gelegt. Wir
waren bei der nach kurzer Zeit des Bestehens schon vorgenommenen öffentlichen
Prüfung, und konnten den selbst in den Realien erhielten großen
Fortschritten, unsern vollkommenen Beifall zollen. Denn die Schüler nicht
nur der höheren Klasse, sondern selbst die der niedrigsten 5. Klasse, die
doch im strengsten Sinne des Wortes Nichts mitgebracht haben, zeigten
nicht nur im Hebräischen und Rabbinischen, sondern auch in der
Geschichte, Geographie, der deutschen Sprache, im Französischen etc.
etc., erstaunliche Fortschritte. Besteht auch das ganze Lehrerpersonal aus
lauter akademisch gebildeten Männern, und ist auch der Herr Direktor Dr.
Plato eine anerkannte Persönlichkeit, so muss man doch gestehen, dass das
Vollbrachte nur durch gänzliche Hingebung und selbstverleugnende
Aufopferung hat erreicht werden können. Als Augenzeuge des Berichteten fühlen
wir uns verpflichtet, Obiges der Öffentlichkeit zu übergeben, und das jüdische
Publikum auf diese Anstalt, welche jetzt schon circa 50 Schülern den
Unterricht erteilt, aufmerksam zu machen. Sch." |
|
Derselbe
Artikel erschien in der Zeitschrift "Jeschurun" Jg. 1861 S.
599-600. |
Prüfung an der Lehr- und Erziehungsanstalt für Knaben (1862)
Artikel
in der Zeitschrift "Der Israelit" vom 30. April 1862: "Weinheim, im April
(1862). Die diesjährige öffentliche Prüfung an der hiesigen Lehr- und
Erziehungsanstalt für israelitische Knaben unter Leitung des Herrn Dr.
Plato, fand am 30. und 31. März, 1., 2. und 3. April dieses Jahres statt.
Die Anstalt, welche erst seit 1 ½ Jahren, unter schwierigen Verhältnissen,
gegründet wurde, umfasste am Schlusse dieses Semesters 64 Schüler,
welche je nach ihren Fähigkeiten in drei verschiedene Klassen und deren
Unterabteilungen, eingeteilt sind. Das Nähere diese Einteilung, sowie überhaupt
die Unterrichtsgegenstände, sind in der eigens zu diesem Zwecke
herausgegebenen Einladungsschrift, ausführlich angegeben. Die Prüfung
der Zöglinge nahm die ersten 3 Tage in Anspruch, und fiel glänzend in
allen Beziehungen, zur außerordentlichen Zufriedenheit der Eltern, Behörden
und Lehrer aus. Von der Großherzoglichen Regierung wurden drei Prüfungskommissionen
ernannte, mit der Bestimmung, der Prüfung auf Staatskosten beizuwohnen
und über die Leistungen dieses Instituts, die zur Anwendung gebrachte
Lehrmethode und dergleichen mehr, der höchsten Behörde des Landes
amtlich Bericht zu erstatten. Von diesen drei Prüfungskommissionen waren
bei der Prüfung anwesend: Herr Oberkirchenrat Mühlhäuser, Herr Oberrat
Altmann von Karlsruhe und Herr Konferenz- und Bezirksrabbiner Fürst von
Heidelberg. Außer diesen Herren waren ein Teil der Eltern der Zöglinge,
sonstige Freunde der Anstalt, Herr Oberamtmann von Teuffel, der Herr
Stadtbürgermeister, Freiherr von Schwarzkoppen und noch viele
christliche, jüdische, hiesige und auswärtige Notabilitäten bei der Prüfung
anwesend, welche mit vielem Interesse und großer |
Aufmerksamkeit
den Resultaten der Prüfung folgten. Überraschend war das Wissen der Schüler,
keine Frage blieb unbeantwortet, und die Leistungen der Lehrer und der Schüler
sind ausgezeichnet zu nennen. Die Regierungskommissare, sowie die Eltern
waren sehr zufrieden mit der Ausbildung der Zöglinge, und letztere gingen
mit dem frohen Bewusstsein nach Haus, dass die auf sie verwandte Mühe
reichliche Früchte getragen habe. Mit dieser Lehr- und Erziehungsanstalt
ist noch eine Bildungsanstalt für israelitische Lehrer verbunden, welche
von 6 Zöglingen besucht wird, und welche am 2. und 3. April öffentlich
geprüft wurden. Da es unserer hohen Regierung besonders darum zu tun ist,
tüchtige Lehrer zu bekommen, und diese Zöglinge die ersten sind, welche
sich dem Lehrerfache an dieser Anstalt widmen, so hat schon einen Tag
vorher der Herr evangelische Oberkirchenrat Mühlhäuser die Seminaristen
einer Privatprüfung unterzogen, um sich genau von der Unterrichtsweise,
dem Lehrgang und der wissenschaftlichen Ausbildung dieser jungen Leute
besonders zu überzeugen. Die Privatprüfung und die öffentliche Prüfung
bei den Seminaristen fiel ebenfalls gut aus, und es war nur eine Stimmung
der Anerkennung bei allen Anwesenden zu vernehmen. Endlich wurde es
Donnerstagabend 6 Uhr, und zwei vorgetragene vierstimmige Gesänge zeigten
an, dass der Schluss der Prüfung herangekommen war. Nach Beendigung des
Gesanges hielt Herr Direktor Dr. Plato eine kurze Ansprache mit der
Bemerkung, dass die eigentliche Schlussrede Herr Oberrat Altmann sich
auserbeten habe, und letzterer drückte in seiner glanzvollen Rede seine
Zufriedenheit mit dem Resultat der Prüfung, sowie seinen Dank für das
Wirken der Lehrer an dieser Anstalt mit beredten Worten aus, denn nur
durch vereintes Wirken der Lehrer konnten solche erfreuliche Resultate wie
sie die vorübergegangene Prüfung offen darlegte, erzielt werden. Alle
Anwesenden verließen in gehobener Stimmung das Prüfungslokal mit dem
Wunsche, dass diese Anstalt unter Gottes Segen noch weiter gedeihen und um
Segen für Israel fortblühen möge." |
80. Geburtstag von Dr. Hirsch Plato (Köln, 1902)
Anmerkung: Die Seiten werden nicht ausgeschrieben, da es keine direkten
Zusammenhänge mit der jüdischen Geschichte in Pfungstadt gibt; bei Interesse
zum Lesen bitte anklicken.
Doktor-Jubiläum von Rabbiner Dr. Plato (1903)
Artikel in der Zeitschrift "Der Israelit"
vom 13. August 1903: "Köln, 7. August (1903). (Doktor-Jubiläum).
Der Vorsteher des israelitischen Lehrer-Seminars, Herr Rabbiner Dr.
Plato, feiert heute die fünfzigste Wiederkehr des Tages, an dem er
auf der Universität Jena zum Doktor promovierte. Der Jubilar wurde im
Jahre 1822 in Halberstadt geboren, besuchte das Gymnasium daselbst und
später die Universität Jena, die er 1853 verließ. Nachdem er mehrere
Jahre als Religionslehrer am israelitischen Realgymnasium in Frankfurt am
Main gewirkt, leitete er später eine Knaben-Erziehungsanstalt in
Weinheim an der Bergstraße, und wurde 1867 an das israelitischen
Lehrerseminar für Rheinland und Westfalen berufen, das sich erst in
Düsseldorf, dann in Ehrenfeld befand und nunmehr seit einer Reihe von
Jahren in Köln besteht. Als Direktor dieser Anstalt hat Herr Dr. Plato
eine außerordentlich wirksame und segensreiche Tätigkeit entfaltet und
ist auch literarisch hervorgetreten. Seine Leutseligkeit und sein
Wohltätigkeitssinn sind stadtbekannt und so nehmen die weitesten Kreise
an dem Jubelfeste des bewährten und hoch angesehenen Mannes lebhaften
Anteil.
Soweit die Berichte der Kölnischen Tagesblätter. Wir fügen hinzu, dass
Dr. Plato eine der Säulen des wahren Judentums ist, für dieses stets
seine ganze Kraft eingesetzt hat und dass jeder echte Jude dem Jubilar
heute den Wunsch nicht vergessen wird: Haschem haarich jomow isch'naußof.
Red. d. 'Israelit'." |
Zum ersten Todestag von Dr. Hirsch Plato (1911)
Artikel
in der Zeitschrift "Der Israelit" vom 16. März 1911: "Zum
ersten Jahrzeitstage Dr. H. Platos - das Andenken an den Gerechten ist
zum Segen. (25. Ador). Im vorigen Jahre, als der Lenz seinen Einzug zu
halten sich vorbereitete, haben wir ihn verloren, den herrlichen Lehrer,
den väterlichen Freund, den treuen Berater, den Fürsten der Tauro (Tora)
und des Friedens. Stolz waren die Zöglinge des Kölner Lehrerseminars,
den meister der Halachah, der auch in den gesetzeskundigsten Kreisen der
Diaspora als Gaon geachtet und geehrt war, den ihrigen nennen zu dürfen.
Dankbare Schülerpflicht regte daher auch die ehemaligen Kölner an, mit
Genehmigung der Familien ihrem Dr. Plato den Stein (Grabstein)
zu setzen, um dem Wanderer, der auch den ältesten Teil des Friedhofes
der Colonia Agrippina betritt, zu künden: 'Noch sind dankbare
Erkenntlichkeit und Liebe bis über den Tod nicht ausgestorben.' Der Text
der Mazewoh-Inschrift soll später veröffentlicht werden. Hier möge in
kurzen Zügen nochmals der Lebenslauf des großen Heimgegangenen kurz
geschildert werden. Als Spross einer Familie, welche ihren Stammbaum auf
M. R. Moses Isserles (Remo; in Krakau 1510-1572) zurückführte, am
23. August 1822 in Halberstadt geboren, empfing er dort, zugleich mit
seinem gleichaltrigen, in innigster Freundschaft ihm verbunden gebliebenen
Heimatgenossen Israel Hildesheimer - das Andenken an den Gerechten ist
zum Segen -, in der Haschaarath Zewi-Schule einen über das
Mittelmäßige weit hinaus gebenden Unterricht in den hebräischen und in
den profanen Fächern. Den frommen Eltern stand es fest, den einzigen Sohn
einer Talmudhochschule zuzuführen. Preßburg wurde erwählt. Man musste
es den Verklärten selbst erzählen hören, wie dieser Plan mitten auf der
beschwerlichen, langen Reise aufgegeben wurde und der jugendliche Knabe
von der ihn begleitenden Mutter Abschied nahm, um in Braunschweig zu
lernen. Dort wirkte damals Rabbi Sawel Eger - das Andenken an den
Gerechten ist zum Segen - eine der bedeutendsten rabbinischen Autoritäten
jener Zeit, Verfasser scharfsinniger Novellen zu mehreren Talmudtraktaten.
Der Greis war erblindet und nach antiker Weise erzog er den Knaben zu
seinem Famulus, der beständig um ihn war, ihm 'vorlernt' und das ganz
geistige Leben des Meisters teilte. Hier legte der Jugendliche die
Grundlage zu seinem umfassenden, talmudischen Wissen, das mit nimmer
rastendem Fleiß ein langes Menschenleben hindurch aufgebaut, entwickelt
und vertieft, den Heimgegangenen zu einem wahrhaften Gaon, zu einer
Autorität in allen halachischen Fragen machen, als welche er schon
früher allgemein anerkannt war. Aber auch in weiterer Hinsicht wurde der
Braunschweiger Aufenthalt entscheidend und richtunggebend für sein Leben:
Die Neuerungsbestrebungen, die damals schon in Braunschweig sich regten,
haben in dem empfänglichen Gemüte des hoch begabten Jünglings als
Reaktion eine unerschütterliche Festigkeit, ein seelisches Festsaugen an
dem Born aller Kraft und Größe unseres Volkes, eine unauslöschliche
Ehrfurcht vor dem geschichtlichen Judentum ausgelöst. Diese Lehrjahre mit
ihrer Einsamkeit gedankenhafter Arbeit trugen dazu bei, das Eigentümliche
seiner Wesensart zu entfalten und zur Reihe zu bringen, jenen vornehmen, aristokratischen
Zug auszubilden, der dem Entschlafenen zeitlebens eignete.
Nachdem er seine Gymnasial- und dann in Jena seine Universitätsstudien im
Jahre 1853 beendet hatte, trat er 2 Jahre später als Lehrer in die neu
begründete Realschule der Israelitischen Religionsgesellschaft zu
Frankfurt am Main ein, wo er mit einer Arbeit über 'Machiavelli's
religiöse und politische Gesinnung' literarische debütierte. Hier ward
ihm das größte Glück seines Lebens zuteil: die ebenbürtige Tochter
Samson Raphael Hirschs - das Andenken an den Gerechten ist zum Segen - als
Gattin heimzuführen, die als sein guter Genius ihm das tiefste
Verständnis entgegenbrachte, als Priesterin der Menschenliebe an seiner
Seite wirkte und noch lange wirken möge. Der Plato wäre sicherlich, wie
kaum einer, berufen gewesen, als religiöses Oberhaupt an der Spitze der
größten Gemeinde zu treten; aber in richtiger Erkenntnis der Forderung
der Zeit zog er es vor, Jugendbildner zu sein und zu erziehen. Als er die
Entscheidung über seinen künftigen Beruf zu treffen hatte, tagte in
Braunschweig jene famose Rabbinerversammlung, die sich sakrilegisch
vermaß, an die Stelle des Judentums, wie es den Sturm der Jahrtausende
überdauert hatte, ein willkürlich erklügeltes Machwerk des
Menschengeistes setzen zu wollen, die den lächerlichen Gedanken hegte,
durch Orgelklang und ähnliche armselige Mittelchen die Krankheit der Zeit
heilen zu können. Angesichts dieser Zerstörungsorgien möchte in manchen
die sorgenvolle bange Frage sich regen, wie es mit der Zukunft des
Judentums in Deutschland bestellt sein würde. Dr. Plato war einer jener
einsichtsvollen Männer, die diese Frage rechtzeitig sich stellten, und
seiner inneren Anlage gemäß beantwortete er sie so, wie nach einem
bekannten Berichte des Talmuds Rabbi Chija einst die Frage, was geschehen
müsse, wenn in den Tagen des Verfalls die Tora vergessen werden könnte,
geantwortet hat: 'Ich werde... dorthin gehen, wo es an Kinderlehrern fehlt
und selbst den Unterricht der Jugend übernehmen.'
Von diesem Verlangen beseelt, gründete der Heimgegangene in Weinheim
(Baden), eine Knabenerziehungsanstalt und gliederte derselben unter
namhaften finanziellen Opfern ein Lehrerseminar an, dessen Leistungen in
den behördlichen Prüfungsbescheiden höchstes Lob fanden. Im Jahre 1861
folgte er dem Rufe an das von Rabbiner Dr. Feilchenfeld begründete
jüdische Lehrerseminar in Düsseldorf, welches später, nachdem Dr. Plato
die Leitung übernommen hatte, nach Ehrenfeld und dann im Jahre 1877 nach
Köln verlegt wurde. 'Die Herren Dr. Plato und Schwarzschild', so heißt
es in einem Prüfungsbescheid, 'sind Schulmeister in des Wortes
herrlichster Bedeutung'. Hier gründete der Entschlafene mit wenigen
gesinnungstüchtigen Männern eine Religionsgesellschaft, die heute so
kräftige erstarkte Synagogengemeinde 'Adass Jeschurun' und den
segensreich wirkenden Wohltätigkeitsverein 'Kossnaus Or'...
der weitere Artikel wird nicht ausgeschrieben, da er nicht in
Zusammenhang mit der Weinheimer jüdischen Geschichte steht - bei
Interesse anklicken. |
....
So ist der gottbegnadete, der einzigartige Mann durchs Leben gewandelt; so
wird seine Erinnerung in treuer Hut fortleben über das Grab hinaus. Noch
lange wird seine Lieblingsschöpfung, das Kölner Lehrerseminar, das in
diesen Tagen zum erstenmal die Entlassungsprüfung selbst abzunehmen so
glücklich ist, Schüler und Lehrer in alle Richtungen der Welt
hinaussenden, die Platos Namen dadurch zu Ruhm und Ehrebringen, dass sie
neben beruflicher Tüchtigkeit und vaterländischer Gesinnung das
unverfälschte Gotteswort künden..." |
Zum Tod von Lehrer Mathias Apelt, zeitweise Lehrer am
Dr. Plato'schen Seminar in Weinheim (1907)
Anmerkung: zu den genannten Feiertagen: tischo-boaw vgl. Wikipedia-Artikel
TischabeAv, Asoro-betewes vgl. Wikipedia-Artikel
Assara beTevet, Schiwo-osor-betamus vgl. Wikipedia-Artikel
Schiwa Assar beTammus. Golus meint die jüdische Diaspora, vgl. Wikipedia-Artikel
Jüdische Diaspora.
Artikel im "Frankfurter Israelitischen
Familienblatt"
vom 26. Juli 1907: "Frankfurt am Main. Herr Mathias
Apelt, ein Lehrer-Veteran, der in seiner mehr als 50-jährigen
Dienstzeit das Muster treuer Pflichterfüllung gewesen ist, ist im Alter
von 71 Jahren von seiner irdischen Wirksamkeit abberufen worden.
Treffend zeichnete des Verblichenen Persönlichkeit Herr Rabbinats-Assessor
G. Posen, der in Vertretung des im Bade weilenden Herrn Rabbiners Dr.
Breuer an der Bahre sprach. Der ehrwürdige Redner nahm seinen Ausgang vom
Tischo-boaw, dem Tage unserer nationalen Trauer. Der diesmalige
Tischo-boaw habe der Religionsgesellschaft ein ihr wahrhaft ergebenes
Mitglied und Hunderten von Mitgliedern der Religionsgesellschaft den
Verlust ihres ehemaligen Lehrers gebracht. An den nationalen Verlust, den
unser armes, gedrücktes Volk mit der Vertreibung aus dem Lande der Väter
erlitten hat, erinnern die Fasttage Asoro-betewes und Schiwo-osor-betamus;
Tischo-boaw sei aber nicht nur ein Fasttage, sondern auch ein Tag der
Aweilus, der Trauer um das Golus, in der sich unsere Tora befindet und an
dieses Golus werden wir erinnert, wenn aus der licht gewordenen Zahl der
Frommen wieder einer der alten Garde dahingeht. Mathias Apelt war ein Mann
seltener Pflichttreue, ein von inniger Liebe zu den ihm anvertrauten
Kindern beseelter Lehrer und ein seinen Stolz in der Erfüllung des
heiligen Torawortes suchender Jude. Ihm ward das Glück zuteil, in einen
Söhnen, Töchtern und Schwiegersöhnen eine Nachkommenschaft zu erhalten,
die gleichfalls in der Treue zu der Tora ihre heiligste Aufgabe erblickt.
- Hierauf widmete Herr Direktor Dr. Lange im Namen des Schulrates
und des Lehrerkollegiums Worte des Nachrufes, und dann wurde die
sterbliche Hülle der Erde übergeben. -
M. Apelt besuchte in Halberstadt das damalige israelitische Seminar, war
zuerst Lehrer in Moisling und Lübeck, dann Lehrer an dem ehemaligen
Dr. Plato'schen Seminar in Weinheim und Karlsruhe, darauf an der
Talmud-Tora-Schule in Hamburg und trat 1868 in das Lehrerkollegium der
Israelitischen Realschule in Frankfurt am Main ein, dem er bis zu seiner
Pensionierung im Jahre 1904 angehörte." |
Einzelne Berichte
aus dem jüdischen Gemeindeleben
Antisemitische Aktivitäten und wie sich Weinheimer
Bürger dagegen wehrten (1890)
Artikel
in der Zeitschrift "Der Israelit" vom 1. Mai 1890: "Weinheim. Der in
Handschuhsheim lebende russisch-polnische Untertan Dr. Hentschel, seines
Zeichens ein gewesener Chemiker, hat sich zu gestern in Weinheim
angemeldet, um die Lehre vom unverfälschten urgermanischen Antisemitismus
zum Besten zu geben, was dieser russisch-nihilistische Apostel der Böckelei
und Stöckerei zu seiner, wie er sagt, Lebensaufgabe gemacht hat, seitdem
der Verkauf eines Patents ihn in den Stand gesetzt, seinen äußeren
Menschen mit einem weißen Strohhut und einem neuen Regenschirm verschönern
zu können.
Die Versammlung war auf 3 ½ Uhr festgesetzt und das Lokal drückend
voll.
In diesem Moment betritt ein kleines, unscheinbares Männchen mit
weißem Strohhut und neuem baumwollenem Regenschirm, an der Seite dreier
grüner Bürschchen im Alter von 15-16 Jahren, zweier oder dreier
Couleurstudenten, die aus der interessanten Gegend der Kikeritze und
Itzenplitze stammen mögen und die ihre studentischen Abzeichen auch hier,
den Universitätsgesetzen zum Trotz zur Schau tragen, sowie der Lehrer
Sturm und Bernhard vom Bender’schen Institut in Weinheim und des
bekannten antisemitischen Lehrers Sevin aus Ladenburg den Saal, richtiger
die Wirtsstuben.
Das ist das Signal zum Sturm. Hundert Fäuste erheben
sich, aus hunderten Kehlen dringen allerlei unartikulierte Laute,
eigenartige Koseworte oder hie und da kernige Flüche heraus. Weinheimer Bürger
und Arbeiter wollten den Schimpf noch dulden, den ihrem Orte ein
‚Polacke aus Russland’ angetan, sie wollten einen Apostel des Hasses
nicht zu Worte kommen lassen, denn der Friede unter den Konfessionen steht
ihnen höher, als die eben geschilderte Gesellschaft. Das Pfeifen und
Johlen wollte kein Ende nehmen und als dem Ruf: ‚Jagt ihn zum Ort
hinaus’, ‚wirft ihn aus dem Saal’, die Tat zu folgen schien,
verschaffte die Stimme des Arbeiterführers Süßkind sich Gehör und er
bat um Ruhe, damit der illustre Redner aus Lodz in Russland seine
slawische oder deutsche Litanei in Formvollendung herunter lesen könne,
‚dann kommen könne, ‚dann kommen wir daran’, schloss Herr Süßkind.
Und Ruhe trat ein: mäuschenstill verhielt sich das Publikum, das die
beiden zusammenhängenden geräumigen Wirtsstuben überfüllte. ‚Ich bin
Dr. Hentschel (vielstimmige Rufe: Pfui! Pfui! Runner mit ihm! Jagt ihn zum
Städtle raus! Wir brauchen keine Russen!) … Ich bin – hebt der Redner
noch einmal an – Dr. Hentschel aus Handschuhsheim und habe das Lokal
gemietet…’
Weiter kam der be-rühmte Mann nicht. Ein Gejohle entstand
nun, das jeder Beschreibung spottet. An jedem Tisch kam es zu ernsten
lauten Debatten gegen den Einberufer. Einem Diskurs, dem der Schreiber
dieses an einem der Tische beiwohnte, entnehmen wir: ‚Ja’, sagt einer
der wenigen Begleiter Hentschels zu seinem Tischnachbar, ‚so sind die
Lumpen, die sich mit Bier bezahlen lassen.’ ‚Lumpen’ sind wir für
Euch Lotterbuwn wohl |
nur,
weil wir nichts von Euch wissen wollen’, gibt ein baumstarker, gut
gekleideter und dem antisemitischen Anrempler in jeder Beziehung überlegener
Weinheimer Arbeiterführer zur Antwort: ‚Ja, wenn wir nach Eurem Rezept
bei den Juden einbrechen und plündern wollten, da würden wir keine
Lumpen, sondern Ehrenmänner nach Eurem Herzen sein. Im Übrigens
verbitt’ ich mir, dass Sie mich duzen; mit Tagedieben wir Sie, duze ich
mich nicht.’
So und ähnlich waren die Zwiegespräche, bis Herr
Hentschel an einem der zur Überwachung erschienenen wackeren Weinheimer
Polizeiwachmann – die Polizei benahm sich mustergültig – herantrat
und ihn bat, ihm und seinen Freunden zum Tor hinaus zu verhelfen, damit
sie ungesehen verduften könnten.
Der Bitte wurde gerne willfahrt. Ein
Gendarm oder Polizeiwachtmann – im Gedränge konnte man die Uniform
nicht sehen, sagte sehr treffend zu dem Antisemitenhäuptling:
‚Da sehen
Sie, mein Herr, am besten, wohin Aufwiegeleien führen; gewöhnlich haben
die Ruhestörer zu allermeist unter der Unruhe zu leiden.’
Herr
Hentschel hatte nicht die nötige Sammlung, um sich in einen Disput
einzulassen; er war froh, unter Bewachung das Lokal verlassen zu können,
denn die Rufe: ‚Bübchen, das nächste Mal gibt’s Keile’, wurden
immer allgemeiner; er schlüpfte durch die Hofeinfahrt weg, rettete sich
in das Haus des Bender'schen Instituts und jagte nachher zur Bahn, um den
halb 5 Uhr Zug zur Flucht zu benützen.
Die anwesende Sozialdemokratie,
deren Führer Herrn Hentschel vor ‚handgreiflicher Berührung’ schützten,
gab inzwischen die nötige Illustration zu den Worten des hessischen
Staatsministers Finger, ‚dass die Frucht der antisemitischen Saat die
Sozialdemokratie pflückt.’
Während Dr. Hentschel unter
Polizeibedeckung ins Freie klitschte, bestieg Herr Süßkind eine
improvisierte Tribüne und hielt hierauf eine 1 ½ stündige stürmisch
akklamierte Rede über Antisemitismus und Sozialismus, über Puttkammerei
und Stöckerei im Gegensatz zu den Zielen der Sozialdemokratie, darauf
hinweisend, dass die Gesellschaft Böckel-Pickenbach-Hentschel zwar dem
Agrarier- und Junkertum in die Hände arbeiten wolle, aber tatsächlich für
anarchistische Zwecke und Ziele wirke". |
Überschwemmung der Stadt mit antisemitischen Flugschriften (1919)
Artikel
in der "Allgemeinen Zeitung des Judentums" vom 19. Dezember
1919: "Weinheim, 12. Dezember (1919). In einer starb besuchten
Sitzung des Bürgerausschusses brachte Rechtsanwalt Dr. Pfälzer eine
Interpellation ein, in welcher er unter eingehender Begründung Schutz der
jüdischen Bürgerschaft gegen die Überschwemmung der Stadt mit
antisemitischen Flugschriften fordert. Professor Keller (Dem.) sprach sich
auf das schärfste gegen die vergiftende Hetzpropaganda der Antisemiten
aus. Die Sprecher der Deutschnationalen Fraktion erklärten, der
antisemitischen Propaganda fernzustehen, wurden aber von dem
Mehrheitssozialisten Schäfer und dem Unabhängigen Eller des verkappten
Antisemitismus bezichtigt. Die mehrstündige Debatte gestaltete sich zu
einem scharfen Protest gegen den infamen Unfug des antisemitischen Zettelanklebens
an die Häuser. Bürgermeisterstellvertreter Fichtner erklärte, dass die
Schutzmannschaft Anweisung erhielt, gegen jene Zettelankleber
rücksichtslos vorzugehen." |
Berichte zu einzelnen
Personen aus der Gemeinde
Beleidigungsprozess des Weinheimer jüdischen Arztes Dr.
Haußmann gegen einen antisemitischen Kollegen (1906)
Vorbemerkung: der jüdische Arzt Dr. Hausmann war in Weinheim
außerordentlich geschätzt und beliebt. Vermutlich gerade deswegen richtete
sich der Hass der Antisemiten gegen ihn. Bei Daniel Horsch s.Lit. S. 16 ist
über den Arzt zu lesen: "Es gibt wohl auch keinen alten Weinheimer, der
sich nicht an den Volksarzt Dr. Hausmann erinnern könnte, der im Hause Dr.
Schegtental in der Bahnhofstraße (21) bis zu seinem Tode am 25. Dezember 1923
sehr segensreich wirkte. Er brachte Frohsinn in jedes Krankenzimmer. Seine
Praxis führte in seinem Sinne sein Schwiegersohn, Dr. med. Friedrich Reiss,
weiter, der in der furchtbaren Bedrängnis 1936 nach Israel auswanderte, wo
seine Frau unter dem nagenden Heimweg stark."
Artikel
im "Frankfurter Israelitischen Familienblatt" vom 9. November
1906: "Weinheim. Ein Beleidigungsprozess des hiesigen
jüdischen Arztes Dr. Haußmann gegen einen antisemitischen Kollegen ist
jetzt nach mehreren Verhandlungen zugunsten des Klägers entschieden
worden. Demselben lag folgendes zugrunde. Das Dienstmädchen des Kaufmanns
O. in Hemsbach bei Weinheim erkrankte an Diphteritis, und der Hausherr
ersuchte den behandelnden Arzt, Dr. Ebner, öfter nach demselben zu sehen,
wenn er auch außer der Ortskrankenkasse es aus seiner Tasche bezahlen
müsse. Dieses Angebot aber schlug Dr. Ebner aus und im Laufe der
Unterhaltung und Auseinandersetzung ließ er die Worte fallen: 'Sie haben
mich bestechen wollen, da müssen Sie zum Juden Haußmann gehen, der nimmt
Geld an.' Diese Äußerung bildete nun den Gegenstand der Klage seitens
des Herrn Dr. Haußmann, der in dem vorliegenden Krankheitsfalle
überhaupt nicht zugezogen war und daher von Dr. Ebner willkürlich
beleidigt wurde. Der antisemitische Jünger Äskulaps wurde vom Gericht zu
Mark 75 Geldstrafe und sämtlichen Kosten verurteilt." |
Zum Tod des Fabrikanten und Begründers der Rosslederfabrik Sigmund Hirsch (1908)
Anmerkung: Familie Hirsch und die Lederfabrik spielten in der
Geschichte der jüdischen Gemeinde Weinheims über mehrere Jahrzehnte eine
herausragende Rolle. Das Unternehmen hat sich aus kleinsten Anfängen heraus
(siehe folgenden Artikel) zu einer Weltfirma entwickelt. Hauptabsatzmärkte der
Firma waren Holland und Belgien, doch auch auf dem übrigen Weltmarkt hatten
sich die Hirsch'schen Rossleder einen Namen erworben. Nach dem Tod von Sigmund
Hirsch führten die beiden Sohne - Max und Julius Hirsch - das Unternehmen
weiter. Unmittelbar nach 1933 hatte die Firma 350 bis 400 Beschäftigte. Unter
dem nationalsozialistischen Druck musste die Firma 1938 liquidiert werden. Max
und Julius Hirsch konnten 1939 in die USA emigrieren, wo sie 1950
beziehungsweise 1955 starken. Sowohl Siegmund als auch Max Hirsch waren
Mitglieder des Gemeinderates der Stadt.
Artikel
in der "Allgemeinen Zeitung des Judentums" vom 11. September
1908: "Weinheim a.d. Bergstraße, im September (1908). Unsere
Gemeinde hat einen unersetzlichen Verlust erlitten. Am 24. vorigen Monats
verstarb nach kurzer Krankheit der Vorsteher, Herr Sigmund Hirsch. Mit ihm
ist einer jener Männer, die immer seltener werden, aus dem Leben
geschieden. Ausgestattet mit einer unvergleichlichen
Begeisterungsfähigkeit für alles Schöne und Gute, verband er mit dieser
Eigenschaft ein warmes Herz und stets offene Hand. Der Lebensweg des
Verstorbenen ist kein leichter gewesen. Im Jahre 1868 kam der junge, in
Neukalen in Mecklenburg gebürtige Gerbergeselle nach der Bergstraße und
gründete hier eine Gerberei. Der jugendliche, 23jährige Meister hatte anfangs
mit manchen Widerwärtigkeiten zu kämpfen, aber dank seiner
außerordentlichen Willens- und Schaffenskraft gelang es ihm, doch aus
seinem kleinen Betrieb mit der Zeit eine angesehene Fabrik zu schaffen und
heute gehört die 'Rosslederfabrik Sigmund Hirsch' zu den bedeutendsten
ihrer Branche. Noch vor wenigen Monaten war es dem Verstorbenen vergönnt,
sein 40jähriges Geschäftsjubiläum zu feiern, aus dessen Anlass er für
seine Arbeiter 20.000 Mark als Pensionsfonds stiftete. Es würde zu weit
führen, hier in dem beschränkten zur Verfügung stehenden Raum all die
guten und segensreichen Werke zu erwähnen, die er in der hiesigen
Gemeinde, an deren Spitze er stand, schuf. Wir alle wissen, dass die
Lücke, die er hinterlassen wird, kaum je wird ausgefüllt werden können.
Wer das Glück hatte, dem Verstorbenen im leben näher zu treten, wer sein
wohlwollendes und stets freundlich dreinblickendes Auge einmal auf sich
ruhen sah, wird den Verklärten, ein Bild edelster Männlichkeit und
Ritterlichkeit, niemals vergessen können. Die Beerdigung, die in
Heidelberg stattfand, gab Zeugnis von der Wertschätzung und Verehrung,
die Herr Sigmund Hirsch im Leben in nah und fern genoss. Kopf an Kopf gedrängt
stand die Menge, um ihm die letzte Ehre zu erweisen. Herr Bezirksrabbiner
Dr. Pinkuß hielt eine tief zu Herzen gehende Trauerrede, in der er in
trefflichen Worten ein Charakterbild des Heimgegangenen, seines lieben
Freundes, entrollte. In der Synagoge, deren Mitglied Herr Hirsch war, trat
er besonders für die materielle Besserstellung der Religionslehrer und
Kantoren ein und so verlieren dieselben in ihm einen warmen Freund und
Fürsprecher. Religiös gehörte der Verstorbene der liberalen Richtung
an, war aber immer Gegner jedweder Spaltung. Sein Ziel war, dass die verschiedenen
religiösen Richtungen des Judentums in Friede und Eintracht für die
Gesamtinteressen unserer Glaubensgemeinschaft arbeiten. Dieses Ideal
suchte er wie kaum ein zweiter, im leben zu betätigen. Die Gemeinde, für
die er in ganz außerordentlicher Weise stets gesorgt hat, wird ihm ein
dauerndes und dankbares Andenken bewahren." |
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Artikel
im "Frankfurter Israelitischen Familienblatt" vom 28. August
1908: "Weinheim. Unsere Gemeinde hat einen schweren Verlust erlitten:
Siegmund Hirsch, unser hoch geschätzter erster Vorsteher und Mitglied der
Israelitischen Synode, ist nicht mehr.
1845 in Neukalen (nicht:
Neu-Kalm) in Mecklenburg geboren, ging Hirsch schon früh auf die
Wanderschaft und kam als zünftiger Gerbergeselle nach Heidelberg und bald
darauf nach hier, wo er - erst 23 Jahre alt - eine Gerberei errichtete.
Mit einem Gesellen fing er an, nach einem Jahre hatte er bereits 6
Gesellen, und heute beschäftigt seine Fabrik 260 Arbeiter. Zwischen ihm
und seinen Arbeitern herrschte ein geradezu patriarchalisches Verhältnis.
Für gute Zwecke hatte er stets eine offene Hand. In unserem Weinheim ist
sein Andenken ein dauerndes." |
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Weiteres Dokument zu
den
Lederwerken Hirsch (Firmenkarte 1923)
(Aus der Sammlung von Peter Karl Müller,
Kirchheim /Ries) |
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Die
Firmenkarte der Lederwerke Sigmund Hirsch wurde am 24. Oktober 1923
versandt; sie musste zur damaligen Inflationszeit mit 4 Millionen Mark
frankiert werden. |
Zum Tod von Rechtsanwalt Dr. Moritz Pfälzer
(1936)
Artikel
in der Zeitschrift "Der Israelit" vom 26. März 1936: "Mannheim,
15. März (1936). ... Im nahen Weinheim wurde am 17. Adar der
Parnes (Gemeindevorsteher), Rechtsanwalt Dr. Moritz Pfälzer von
einer großen Zahl von Freunden zur letzten Ruhe geleitet. Nach
langmonatlichem Krankenlager war er an Purim in Frankfurt am Main von
schwerem Leiden erlöst worden, und in den Worten, die von einer ganzen
Reihe von Vertretern verschiedener Körperschaften gesprochen wurden,
entstand noch einmal das Bild dieses außergewöhnlichen Mannes, dieses Isch
jehudi (sc.: überzeugter und bekennender jüdischer Mann),
dessen Lebens-Megila (Schriftrolle) an Purim zu Ende gerollt
wurde. Rabbiner Dr. Grünewald, Mannheim, zeichnete in prägnanter
Formulierung das Leben und Wirken Dr. Pfälzers, der Vorsitzende des
Oberrats der Israeliten Badens, Prof. Dr. Stein, nahm bewegt
Abschied von dem Kollegen im Oberrat, der ein treuer und tätiger,
unermüdlicher Diener des badischen Judentums war. Die Gemeinde beklagte
ihren guten Hirten und Führer, die Berufskollegen den echten Wahrer des
Rechts, die Zionisten und Gesetzestreuen in baden wussten Dank dem Manne,
dem die Liebe zur Tradition und die Sehnsucht nach Erez Israel - er durfte
es vor zwei Jahren sehen und in sich aufnehmen - eingewurzelt war. Alle
die sprachen, wussten eine andere Seite des Heimgegangenen zu rühmen. Und
dann trugen sie ihn von dem Garten seines Hauses, in dem an einem
Vorfrühlingstage der Sarg aufgebahrt war, hinaus und geleiteten
ihn zum Dorfe, aus dem er gekommen war. Im Hemsbach,
wo das alte Bes Olom (Friedhof) seit Jahrhunderten die Ruhestätte der
Toten der vielen Kleingemeinden ist, ruht nun auch Oberrat und Parnes Dr.
Moritz Pfälzer aus Weinheim. Die Wandernden, die zum letzten Mal in
tiefer Bewegung die Stätte betreten, an der ihre Väter und Großväter
und Ahnen ruhen, werden auch am Kewer (Grab) dieses Mannes, der die
kleinen Gemeinden und ihre Sorgen gekannt und sich um sie rastlos gemüht
hat, eine stille Weile verharren. Sein Andenken und die Erinnerung an ihn
werden sie mit hinausnehmen in die fernen Länder. Die aber, die nach Erez
Israel ziehen, werden das heilige Land grüßen von einem, der es geliebt
hat mit solcher Liebe zum Land, dass um ihretwillen Gott den um Dr.
Pfälzer Trauernden Seinen Trost senden möge. Seine Seele sei
eingebunden in den Bund des Lebens." |
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Anzeige
in der Zeitschrift "Der Israelit" vom 12. März 1936: "Am 14.
Adar 5696 (8. März 1936, Purim) verschied nach langer schwerer
Krankheit unser geliebter, unvergesslicher Mann, Vater, Schwiegervater,
Bruder, Schwager und Onkel Herr Rechtsanwalt Dr. Moritz Pfälzer
im Alter von 66 Jahren.
Weinheim a.d. Bergstraße, Bürgermeister Ehretstraße 10. Die
trauernden Hinterbliebenen." |
Erinnerung an die Deportation in das
südfranzösische Internierungslager Gurs im Oktober
1940: Foto des Grabsteines für Recha Heil geb. Neu
Grabstein (jeweils rechts im Vordergrund) im Friedhof des ehemaligen
Internierungslagers Gurs für
Racha (Recha) Heil geb. Neu,
geb. am 17. August 1867 in Lützelsachsen, später wohnhaft in
Weinheim,
am 22. Oktober 1940 nach Gurs deportiert, wo sie am 16. Dezember 1940
umgekommen ist. |
Kennkarte
aus der NS-Zeit |
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Am 23. Juli 1938 wurde
durch den Reichsminister des Innern für bestimmte Gruppen von Staatsangehörigen
des Deutschen Reiches die Kennkartenpflicht eingeführt. Die
Kennkarten jüdischer Personen waren mit einem großen Buchstaben
"J" gekennzeichnet. Wer als "jüdisch" galt, hatte das
Reichsgesetzblatt vom 14. November 1935 ("Erste Verordnung zum
Reichsbürgergesetz") bestimmt.
Hinweis: für die nachfolgenden Kennkarten ist die Quelle: Zentralarchiv
zur Erforschung der Geschichte der Juden in Deutschland: Bestände:
Personenstandsregister: Archivaliensammlung Frankfurt: Abteilung IV:
Kennkarten, Mainz 1939" http://www.uni-heidelberg.de/institute/sonst/aj/STANDREG/FFM1/117-152.htm.
Anfragen bitte gegebenenfalls an zentralarchiv@uni-hd.de |
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Kennkarte
des in Weinheim wohnhaften
Friedrich (Fritz) Rapp |
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KK (Mannnheim-Land
1939) für Friedrich (Fritz)
Rapp (geb. 6. Juli 1888 in Groß-Umstadt),
Kaufmann,
wohnhaft in Weinheim, am 22. Oktober 1940 deportiert
in das Internierungslager Gurs, am 10. August 1942
in das Vernichtungslager Auschwitz, ermordet |
|
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Anzeigen jüdischer Gewerbebetriebe und Privatpersonen
Anzeigen des Modewaren-, Herren- und Damen-Konfektionsgeschäftes J. Heil (1901
/ 1902 / 1905 / 1906)
Anzeige
in der Zeitschrift "Der Israelit" vom 20. Mai 1901:
"Für mein Herren- und Damen-Konfektionsgeschäft suche zum
sofortigen Eintritt eine Verkäuferin, sowie ein Lehrmädchen
bei freier Station.
J. Heil, Weinheim, Baden." |
|
Anzeige
in der Zeitschrift "Der Israelit" vom 31. Juli 1902:
"Für mein Manufaktur-, Herren- und Damen-Konfektionsgeschäft suche
ich zum sofortigen Eintritt ein
Lehrmädchen.
Kost und Logis im Hause.
J. Heil, Weinheim in Baden." |
|
Anzeige
im "Frankfurter Israelitischen Familienblatt" vom 16. Juni 1905:
"Für mein Modewaren-, Herren- und Damen-Konfektions-Geschäft suche
ich zum sofortigen Eintritt ein
Lehrmädchen.
Kost und Wohnung im Hause. Weinheim (Bergstraße), J. Heil." |
|
Anzeige
im "Frankfurter Israelitischen Familienblatt" vom 23. November 1906:
"1 Lehrling und 1 Lehrmädchen
für mein Manufaktur-, Herren- und Damen-Konfektions-Geschäft
gesucht.
J. Heil, Weinheim, Bergstraße." |
Anzeigen von A. Kaufmann Söhne (1901 / 1902)
Anzeige in der Zeitschrift "Der Israelit" vom 19. September
1901: "Koscher - Fruchtin - Zum Backen und Braten
Unter Aufsicht des Herrn Rabbiner Dr. Schiffer, Karlsruhe, ist das
beste, billigste und ausgiebigste Pflanzenfett für Milch und
Fleischspreisen; in jedem rituell (geführten) Haushalt unentbehrlich.
Hergestellt von
A. Kaufmann Söhne, Weinheim in Baden.
Wo nicht vertreten direkt Versandt von 4 1/2 Ko. Postcolli. Proben gratis.
Wiederverkäufer gesucht." |
|
Anzeige
in der Zeitschrift "Der Israelit" vom 24. Juli 1902:
"Backet und bratet mit
Koscher - Fruchtin - Pflanzenbutter.
Erstklassiges Produkt, unter Aufsicht. Jedem rituellen Haushalt für
Milch- und Fleischspeisen unentbehrlich.
Direkt zu beziehen von
A. Kaufmann Söhne, Weinheim.
Wiederverkäufer gesucht." |
Anzeige der Fa. Gebr. Kaufmann (Ladenburg) für die
Filiale in Weinheim (1903)
Anzeige in der Zeitschrift "Der Israelit"
vom 28. Mai 1903: "Für unser Möbel- und Bettengeschäft in Weinheim
suchen per sofort tüchtigen, branchekundigen
Geschäftsführer.
Offerten sind Zeugnisabschriften und Gehaltsanspruch beizufügen. Samstage
und Feiertage geschlossen.
Gebr. Kaufmann, Ladenburg." |
Anzeige eines Café-Restaurant, "sehr geeignet für
jüdisches Café-Restaurant und kleines Hotel" (1911)
Anzeige
im "Frankfurter Israelitischen Familienblatt" vom 15. Dezember
1911:
"Weinheim (Baden). 'Perle der Bergstrasse.'
Am hiesigen Platze (15.000 Einwohner), mit hoch entwickelter Fremden- und
Reisefrequenz bedeutendem Handels- und Gewerbeverkehr, ausgezeichneter
Bahnverbindung, (30 Minuten von Mannheim und Heidelberg, 40 Minuten von
Darmstadt, 50 Minuten von Worms, 1 Stunde 10 Minuten von Frankfurt am
Main, 40 Minuten von Ludwigshafen am Rhein, 1 Stunde 20 Minuten von
Karlsruhe) schönes Haus in vorzüglicher Lage, sehr geeignet für
jüdisches Café-Restaurant und kleinem Hotel, in der Nähe der
Bahnhöfe, zu verkaufen; trotz Bedürfnisses und vieler Nachfragen kein
gleiches Geschäft am Platze.
Weinheim an der Bergstrasse. Immobilien-Bureau Kraut." |
Zur Geschichte des Betsaals / der Synagoge
Mittelalter
Eine erste Synagoge stand in Weinheim bereits im 13.
Jahrhundert. Bei der Judenverfolgung, die am 20. September 1298 von den Horden
des Ritters Rindfleisch in Weinheim veranstaltet wurde, verbrannten 79 Juden in
der Synagoge, darunter Männer, Frauen und Kinder. Von diesem grausamen Ereignis
berichtet das Martyrologium des Nürnberger Memorbuches, in dem die Orte aufgezählt
werden, in denen die "Judenschläger" des Ritters Rindfleisch Juden
ermordeten. Möglicherweise waren die Juden Weinheims in die Synagoge geflüchtet,
worauf diese von den Verfolgern angezündet wurde. Unter den Märtyrern waren
der Rabbiner Mevorach ben Kalonymos, seine Frau Bela, seine Söhne Jehuda,
Meschullam, Kalonymos und David, seine Schwiegermutter, die Hebamme Perla und
deren Kinder. Zum Standort dieser ersten Synagoge lässt sich vermuten, dass
bereits sie in der späteren "Judengasse" stand.
In der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts wohnten wieder
einige jüdische Familien in Weinheim. Insgesamt waren es in Weinheim,
Heppenheim und Bensheim 15 Familien. Die Verfolgung in der Pestzeit vernichtete
1349 auch die kleine Weinheimer Gemeinde. In der zweiten Hälfte des 14.
Jahrhunderts scheinen wieder Juden zugezogen zu sein. 1355-1371 sind
Schutzbriefe für mindestens neun Familien genannt. Sie konnten sich in der
Judengasse eine Synagoge erbauen (die zweite Synagoge Weinheims, im
Bereich des Büdinger Hofes/Nebengebäude, Judengasse 15-17). Als "Judenschule"
wird sie bei der Ausweisung der Juden aus der Kurpfalz 1391 erstmals genannt. An
der Stadtmauer wurde 1878 ein steinerner Torbogen mit einer hebräischer
Inschrift entdeckt, die vermutlich über dem Eingang der mittelalterlichen
Synagoge stand. Leider wurde die Fundstelle damals wieder zugemauert.
Neuzeit
Bis nach der Zeit des Dreißigjährigen Krieges wohnten nur
vereinzelt jüdische Personen in der Stadt. Dann zogen mehrere Familien zu, um
1680/90 waren es bereits 15 Familien. Ihr Vorsteher Mayer Oppenheim und sein
Sohn Mordche, der später ebenfalls Vorsteher war, errichteten 1680 bis 1690 mit
eigenen Mitteln eine neue Synagoge in der heutigen Hauptstraße 143 (vor
der Umnummerierung der Hauptstraße 1935 trug das Gebäude die Hausnummer
Hauptstraße 12). 1683 verfassten Mayer, Abraham und Mardochai, deren Familien
damals den Kern der Weinheimer Gemeinde bildeten, einen Bittbrief an den Kurfürsten,
den Bau finanziell zu unterstützen. Der Kurfürst lehnte jedoch ab. So hatte
die Familie Oppenheim fast alleine die neue Synagoge zu finanzieren und spendete
auch noch einen gestickten Vorhand für den Toraschrein und wahrscheinlich auch
einen Kronleuchter. Diese Synagoge in der Hauptstraße sollte der Weinheimer jüdischen
Gemeinde fast 300 Jahre als Gotteshaus dienen.
Mehrmals wurde das Synagogengebäude renoviert. 1792 und
1802 brachte die Gemeinde etwa 900 Gulden auf, um es instand zu setzen. Trotzdem
war es 1812 in einem so baufälligen Zustand, dass die Synagoge polizeilich
geschlossen werden musste. Da die Gemeinde damals nicht den Betrag von 1420
Gulden für einen Neubau aufbringen konnte, wurde der Gottesdienst in einem
Behelfsraum in der Hauptstraße abgehalten. Die günstigeren Verhältnisse um
die Jahrhundertmitte erlaubten Ende der 1860er Jahre eine Wiederherstellung und
Vergrößerung des alten Synagogengebäudes (Hauptstraße 143). Damals wurden
der Almemor und die Ständer entfernt und feste Bänke aufgestellt. Auch 1888
wurde sie nochmals notdürftig erweitert, indem der Raum der Sukka (Laubhütte)
in den Betraum miteinbezogen wurde. Nach dem Bau der neuen Synagoge wurde das
Gebäude der alten Synagoge mit Kaufvertrag vom 18. Januar 1906 an Privatleute
verkauft. Ein gutes Jahre später erwarb mit Kaufvertrag vom 25. Februar 1907 Bäcker
Hermann Dell das Gebäude und richtete dort eine Bäckerei ein. Größere
Umbaumaßnahmen, unter anderem eine Neugestaltung der Fassade, waren die Folge.
Nach jahrelangen Planungen konnte eine neue Synagoge
1905/06 in der (Bürgermeister-)Ehret-Straße 5 nach Plänen des Frankfurter
Architekten Max Seckbach erbaut werden. Die Finanzierung war vor allem auf Grund
einer großzügigen Förderung durch den Lederfabrikanten Hirsch möglich. Der
stattliche Bau wurde am 2. August 1906 eingeweiht. Um 9 Uhr an diesem Tag hatte
ein Abschiedsgottesdienst in der bisherigen Synagoge stattgefunden. Danach
bewegte sich ein großer Festzug zur neuen Synagoge. Die Einweihungsfeier war
ein Fest für die ganze Stadt.
Einweihung der Synagoge 1906
Artikel
in der "Allgemeinen Zeitung des Judentums" vom 24. August 1906:
"Weinheim, 4. August (1906). Hier fand vorgestern die
Einweihung der neuen Synagoge statt. Bezirksrabbiner Dr. Pinkus,
Heidelberg hielt die Festpredigt, die alle Herzen tief bewegte. Der
Nachmittag brachte zunächst ein Festdiner im 'Pfälzer Hof', das einen
glänzenden Verlauf nahm. - Vor Beginn desselben begrüßte der
Vorsitzende des Synagogenrates Herr Hirsch im Namen der israelitischen
Gemeinde die Anwesenden, ganz besonders die Herren Vertreter der Behörden
und die Delegierten der Nachbargemeinden. Der Großherzogliche Oberrat
Stockheim übermittelte die Glückwünsche des Ministeriums des Kultus und
des Unterrichts, sowie der Synagogengemeinde Mannheim. Er wünschte der
hiesigen israelitischen Gemeinde Wachsen, Blühen und Gedeihen. Herr
Berthold Kaufmann verlas das Huldigungstelegramm an den Großherzog, das
folgenden Wortlaut hat: 'Die zur Einweihung ihrer neuen Synagoge festlich
versammelte jüdische Gemeinde Weinheim bringt ihrem hochverehrten und
geliebten Landesfürsten ihre ehrfurchtsvollste Huldigung mit dem
Gelöbnis unwandelbarer Treue dar.' Später gab derselbe ein Bild der
Geschichte der israelitischen Gemeinde Weinheims, das höchst aufmerksame
Zuhörer fand. Herr Ernst Karlebach - Heidelberg überbrachte die
Glückwünsche der Bezirkssynagoge und der israelitischen Gemeinde
Heidelberg und toastete auf die Gemeinde Weinheim und dessen
Synagogenräte. Bürgermeister Ehret sprach den Dank der Ehrengäste und
die Glückwünsche des Gemeinderates aus. Er betonte, dass die jüdische
Gemeinde jederzeit beigetragen habe, den religiösen Frieden zu wahren.
Der Hoffnung, dass es so bleiben möge, galt sein Glas. Lehrer Maier als
letzter Redner widmete anerkennende Worte und Dank den drei
Synagogenräten, den Herren Sigmund Hirsch, Berthold Kaufmann und Wolf
Lehmann. Während des Balles traf die Antwort des Großherzogs aus St.
Moritz ein, die folgendermaßen lautet: 'Ich danke der festlich
versammelten jüdischen Gemeinde Weinheim für die mir kundgegebene treue
Gesinnung.' Mit brausenden Hochrufen wurde der Inhalt des Telegramms
begrüßt und aus frohem Herzen stieg im gemeinsamen Chor das Lied: 'Heil,
unserem Fürsten Heil!' Die neue Synagoge befindet sich inmitten der
Stadt, deren Schmuck sie jetzt bildet, und zwar in der vornehmsten
Straße." |
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Artikel
im "Frankfurter Israelitischen Familienblatt" vom 10. August
1906: "Weinheim a. Bergstraße. Letzten Freitag fand unter
Teilnahme der gesamten Bevölkerung die feierliche Einweihung der neuen
Synagoge statt, nachdem am Donnerstag der Abschiedsgottesdienst in der
über 200 Jahre alten Synagoge abgehalten worden war. Die Festpredigt
hielt Herr Rabbiner Dr. Pinkuß -
Heidelberg." |
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Diebstahl in der Synagoge (1921) |
Artikel
in der "Badischen Presse" vom 17. Januar 1921: "Weinheim, 16. Januar
(1921). Einbrecher stahlen aus der hiesigen Synagoge einen silbernen Becher
und zwei bedruckte Weißblechteller, die sie offenbar für silberne
hielten..." |
Nur 32 Jahre blieb die neue Synagoge Zentrum
des jüdischen Lebens in der Stadt. Beim Novemberpogrom 1938 wurde die neue Synagoge
in der Ehret-Straße am Vormittag des 10. November 1938 (nicht -
wie in manchen Darstellung zu lesen ist - am 8. November) durch eine Sprengung mit 25 kg Donarit-Gelatine weitgehend zerstört. Zuvor hatten SA-Leute die Inneneinrichtung mit Äxten und Pickeln
demoliert. Im April 1939 wurde die jüdische Gemeinde aufgefordert, die
Synagogenruine abbrechen zu lassen, was sich allerdings über längere Zeit
hinzog.
Das Grundstück wurde nach 1945 neu überbaut. Eine Gedenktafel
an einem Nachbarhaus erinnert an das Schicksal der Synagoge. Sie wurde 1967 am
Gebäude des Grundbuchamts, Ehret-Straße 14 angebracht und 1988 an das Gebäude
der Volkshochschule Badische Bergstraße, Luisenstraße 1 (Ecke Ehret-Straße)
versetzt (die Eigentümer des Hauses Ehret-Straße 5 gestatteten keine
Anbringung der Gedenktafel an ihrem Haus, dem Standort der früheren Synagoge).
Zudem ist am Ende der Ehret-Straße seit 1999 eine "Mahnmal für die Opfer
von Gewalt, Krieg und Verfolgung" eingerichtet. Dieses Mahnmal dient in
erster Linie zur Erinnerung an die Opfer der Jahre 1933 bis 1945, ist jedoch
auch allen anderen Opfern von Gewalt, Krieg und Verfolgung gewidmet.
Veranstaltungen an diesem Mahnmal finden regelmäßig am 9. November statt.
Weitere Gedenkveranstaltungen standen in Zusammenhang mit der Erinnerung an die
Deportation der Juden nach Gurs (22. Oktober 1940), für die Opfer des 11.
September 2001 u.a.m.
Fotos
Historische Fotos:
Das Gebäude der alten
Synagoge um 1900
(Foto/Repro: Stadtarchiv Weinheim) |
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Die alte Synagoge
von der Stadtmühlgasse aus gesehen;
rechts eine Vergrößerung des Fotos. |
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Das Gebäude der alten
Synagoge um 1950
(Foto/Repro: Stadtarchiv Weinheim) |
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Die alte Synagoge
aus anderer Perspektive von der Stadtmühlgasse aus gesehen;
rechts eine
Vergrößerung des Fotos. Die Rundbogenfester sind inzwischen
verändert
und zur Hälfte zugemauert worden. |
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Die neue Synagoge, erbaut
1905/06
(Fotos/Repros: Stadtarchiv Weinheim) |
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Die 1905/06 erbaute Synagoge in Weinheim in der Ehret-Straße |
Innenansicht |
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Die zerstörte Synagoge
nach der Pogromnacht im November 1938
(Fotos/Repros: Stadtarchiv Weinheim) |
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Artikel in den
"Weinheimer Nachrichten"
vom 10. November 1938 |
Fotos nach 1945/Gegenwart:
Fotos um 1985:
(Fotos: Hahn) |
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Gebäude Ehret-Straße 14, schräg
gegenüber der ehemaligen Synagoge,
an der
1967 eine Gedenktafel
angebracht werden konnte |
Die Gedenktafel für die ehemalige
Synagoge; 1988 wurde sie
versetzt an
eine Mauer bei der Volkshochschule
Luisenstraße 1/Ecke
Ehret-Straße |
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Fotos 2003/04:
(Fotos: Hahn; Aufnahmedatum 11.9.2003
bzw. mit *) von
J. Krüger, Karlsruhe
im Sommer 2004) |
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Das Gebäude der
alten Synagoge Hauptstraße 143; frisch renoviert
im Sommer 2004 (rechts
*) |
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Gedenktafel in der
Ehret-Straße gegenüber
dem ehemaligen Synagogengrundstück* |
Ehemaliges
Synagogengrundstück in der Ehret-Straße,
überbaut mit einem Wohnhaus |
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Das "Mahnmal
für Opfer von Gewalt, Krieg und Verfolgung" am Ende der
Ehret-Straße, das 1999 errichtet und mit dem Gedenken
an die
Reichspogromnacht am 9. November 1999 eingeweiht wurde. Es ist nach einem
Entwurf von Hubertus von der Goltz realisiert
worden. "Die
Menschengruppe als Silhouette dargestellt, ist orientierungslos,
entwurzelt und versucht, Balance zu halten in dem Moment
zwischen
Vergangenheit und Zukunft" (Hinweistafel) |
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Exemplarische
"Stolpersteine" in der Stadt
(Fotos: Hahn, Aufnahmedatum 29.4.2020) |
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"Stolperstein"
für Sigmund Brückmann (1875 - 1943) vor dem Haus Hauptstraße 89; war
als Tapezier- und Polstermeister tätig:
http://www.juden-in-weinheim.de/de/personen/b/brueckmann-sigmund.html
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"Stolpersteine"
vor dem Haus Hauptstraße 63 für Recha Heil geb. Neu (1887-1940), Friedrich
Rapp (1888-1942) und Tilli Rapp geb. Heil (1902-1942). Informationen
siehe
http://www.juden-in-weinheim.de/de/personen/h/heil-recha.html,
http://www.juden-in-weinheim.de/de/personen/h/heil-recha.html und
http://www.juden-in-weinheim.de/de/personen/r/rapp-tilli.html. Am Haus
befindet sich eine Tafel mit dem Text: "Wohn- und Geschäftshaus. Das
stattliche Wohn- und Geschäftshaus mit neubarocken Verzierungen und
Jugendstilelementen wurde 1906 von den Eheleuten Recha und Isaak Heil
erbaut. Architekt war Max Seckbach, Frankfurt am Main, der auch die Synagoge
in der Ehretstraße entworfen hatte".
http://www.juden-in-weinheim.de/de/orte/h/hauptstrasse-63.html |
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Text der Urkunde zur Grundsteinlegung
der Synagoge 1905
Text zur Grundsteinlegung bei dem Neubau der Synagoge der israelitischen
Gemeinde Weinheim i.J. 5665, nach der allgem. Zeitrechnung i.J. 1905, im 17.
Regierungsjahre Sr. Majestät Kaiser Wilhelm II. und im 53. Regierungsjahre
unseres geliebten Landesfürsten Sr. König. Hoheit des Großherzogs Friedrich
von Baden.
Die ungenügenden Platzverhältnisse und die hohe Feuersgefahr in der
seither benützten Synagoge Hauptstr. No.12 wiesen seit einer längeren Reihe
von Jahren gebieterisch auf einen Neubau hin und hatte auch den Synagogenrat
schon seit Jahren veranlasst, einen Fond zu einem Neubau zu begründen, welcher
bis heute ein Höhe von 9150 Mark erreicht. Als sich im vergangenen Jahr
Gelegenheit bot, einen äußerst günstigen Bauplatz, fast im Mittelpunkt der
Stadt und doch außerhalb jedes störenden Verkehrs an der Ehretstraße gelegen,
zu erwerben, gelang es durch die Opferwilligkeit unserer Gemeindeangehörigen
binnen weniger Tage nicht nur die Kaufsumme für diesen Bauplatz mit 7500 Mark,
durch Schenkungen aufzubringen, sondern auch noch eine beträchtliche Summe für
den Bau zu erübrigen. Durch dieses erfreuliche Resultat konnte der Synagogenrat
und mit ihm das, auf Wunsch des letzteren , gewählte Baukomité die Lösung der
inzwischen dringend gewordenen Neubauangelegenheit vornehmen.
Synagogenrat und Baukomité hatten sich nach einer Reihe von Sitzungen in kurzer
Zeit über die einschlägigen Fragen des Neubaues geeinigt und wurde mit dessen
Ausarbeitung und Ausführung unser Glaubensgenosse, Herr Architekt Max Seckbach
in Frankfurt a.M. betraut. Die Vorlagen des vereinigten Synagogenrats und
Baukomités hatten in allen Fällen die volle Billigung der Gemeinde gefunden
und so wurde er ermöglicht, am 5. Tage des Monats Thamus, d.i. am 7. Juli 1905
von den 6 ältesten Gemeindeglieder die ersten Spatenstiche ausführen zu
lassen.
Für den Neubau war eine Gesamtsumme von 41 500 Mark einschließlich
Architektenhonorars festgesetzt und von dieser Summe etwa die Hälfte durch die
Beiträge zum Baufond und Überschüsse der Sammlungen in der Gemeinde und auch
auswärts, sowie durch den Verkaufswert der alten Synagoge reichlich gedeckt.
Der fehlende Betrag wird durch eine Hypothek bei Fertigstellung des Baues, wozu
die Genehmigung von Seiten des Großherzoglichen Oberrats des Israeliten, sowie
des Ministeriums und des Großherzoglichen Bezirksamtes dahier, bereitwilligst
erteilt wurde, aufgenommen.
Das Bauvorhaben, an dessen gedeihlicher Lösung die Gemeindemitglieder, fast
ohne Ausnahme, mit größtem Interesse mitarbeiteten, fand die schnellste
Erledigung durch das innige Zusammenwirken des derzeitigen Synagogenrates der
Herrn Wolf Lehmann, Berthold Kaufmann und Ferdinand Rotschild, sowie der
Mitglieder des Baukomités der Herren Siegmund Hirsch, Dr. Moritz Pfälzer und
Isaak Heil, deren Geschäftsleitung auf Wunsch der beiden Körperschaften Herr
Berthold Kaufmann übernommen hatte. Dem Vorhaben der Gemeinde brachte auch der
derzeitige Bezirksrabbiner Herr Dr. Hermann Pinkuss ein reges Interesse
entgegen, wie auch mit Dank der Geneigtheit der kirchlichen und weltlichen
Behörden hiermit Erwähnung geschieht.
Die
Erd- und Maurerarbeit wurde von dem hiesigen Baumeister Herr Friedrich Reiboldt
ausgeführt.
Die hiesige Gemeinde besteht zur Zeit aus 158 Mitgliedern, worüber eine
besondere Liste dieser Urkunde beigefügt wird, ebenso wird derselben eine Liste
der Spender aus der hiesigen Gemeinde (siehe Abbildung links) wie auch
der auswärtigen Gönner hier beigegeben.
Diese Urkunde wurde angefertigt vom derzeitigen Lehrer und Cantor der
hiesigen Gemeinde, Marx Maier. Weinheim, den 14. August 1905 (13. Ab 5665).
Der Synagogenrat: Wolf Lehmann, Berthold Kaufmann, Ferdinand Rothschild
Die Baukommission: Sigmund Hirsch, Dr. Moritz Pfälzer, Isaak Heil.
Erinnerungsarbeit
vor Ort - einzelne Berichte
November 2009 bis
Januar 2010: Ausstellung "200
Jahre jüdische Religionsgemeinschaft in Baden" |
Ausstellung "Gleiche Rechte für
Alle? - 200 Jahre jüdische Religionsgemeinschaft in Baden "
vom 3. November 2009 bis 10. Januar 2010
im Museum der Stadt Weinheim, Amtsgasse 2, 69469 Weinheim E-Mail
Informationen über www.museum-weinheim.de
Öffnungszeiten: Dienstag - Samstag 14-17 Uhr Sonntag 10-17
Uhr und für Gruppen und Schulklassen auf Anfrage
Link
zur Seite des Landesarchivs Baden-Württemberg mit Informationen über diese
Ausstellung
Schülerarbeitsblätter
zur Ausstellung (pdf-Datei, zum Herunterladen) |
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August 2017:
Die "Stolpersteine" werden
geputzt |
Artikel von Günther Grosch in der
"Rhein-Neckar-Zeitung" vom 17. August 2017: "Stolpersteine in Weinheim.
Damit der Name im Gedächtnis bleibt. SPD-Bundestagskandidat Lothar Binding half mit, "Stolpersteine" mit Putzlappen und Zahnbürsten wieder auf Hochglanz zu bringen.
Weinheim. Schon jetzt handelt es sich um das weltweit größte dezentrale
'Mahnmal gegen das Vergessen'. Seit den 1990er Jahren hat der Künstler Gunter Demnig in den Straßenräumen von mehr als 20 Ländern der Welt über 50.000 sogenannte
'Stolpersteine' verlegt. Und es kommen ständig neue hinzu. In Heidelberg sind es 152, in der Kernstadt von Weinheim 40 und im Ortsteil Lützelsachsen vier dieser würfelförmigen und mit einer Messingplatte überzogenen, jeweils 9,6 mal 9,6 Zentimeter großen Betonsteine.
Sie wurden - mit Namen, Geburts- und, soweit bekannt, ihren Sterbedaten versehen - in den öffentlichen Straßenraum vor den Häusern eingelassen, in denen während des Dritten Reiches jüdische Mitbürger lebten, arbeiteten und von den Nationalsozialisten verfolgt, deportiert oder ermordet wurden.
In Weinheim waren es die ehemalige SPD-Stadträtin Erika Heuser, der Künstler Carsten Lucas, der inzwischen verstorbene Unternehmer Hermann Freudenberg sowie der langjährige CDU-Stadtrat, Staatsanwalt in Mannheim und Direktor am Landgericht Heidelberg, Hans Bayer, die sich 2005 dafür stark machten, auch in der Zweiburgenstadt als
'Identifikationsmöglichkeit' solche 'Stolpersteine' für die Opfer des Nationalsozialismus zu verlegen.
Nachdem hierzu der Gemeinderat seine Genehmigung erteilt hatte und sich ausreichend Sponsoren für die jeweils rund 100 Euro teuren Pflastersteine gefunden hatten, startete Demnig am 6. April 2006 mit der Verlegung der ersten zehn
'Stolpersteine' sein Projekt auch in Weinheim. Auf Anregung von Erika Heuser beugten kürzlich SPD-Bundestagskandidat Lothar Binding sowie die baden-württembergische SPD-Landesvorsitzende und
'im Putzen geübte schwäbische Hausfrau', Leni Breymaier, ihre Knie, um ausgerüstet mit Eimer, Putzmitteln und Putzlappen, Schwämmen und Zahnbürsten einige der in der Hauptstraße verlegten und unleserlich gewordenen Steine zu reinigen und wieder auf Hochglanz zu polieren.
An der 'Museumsecke' Amtsgasse 1 galt es für Binding und Breymaier vor dem ehemaligen Wohnhaus des nach Gurs deportierten Synagogenrates David Benjamin und seiner Ehefrau Emilie sowie von Luise und Bella Lichtenstein erstmals zu den Putzutensilien zu greifen.
'Statt einer bloßen (Haus)-Nummer soll der Name im Gedächtnis bleiben', beschrieb Binding das damit verbundene Anliegen und begann, den Stein zu scheuern.
'Wer die Inschrift lesen will, muss seinen Kopf neigen und verbeugt sich damit vor den
Opfern', ergänzte Breymaier. Erika Heuser steuerte geschichtliches Hintergrundwissen zu dem Gebäude bei, in dem seinerzeit Kurz- und Weißwaren verkauft wurden. 1938 waren die Besitzer enteignet und 1940 deportiert worden. Bereits wenig später wurde der gesamte Hausrat versteigert.
'Ein Zeichen dafür, dass niemand mehr mit ihrer Rückkehr rechnete', so Heuser.
Heinrich Liebmann betrieb bis in die späten 1930er Jahre hinein in der Hauptstraße 97 ein florierendes Textilgeschäft. Auch er wurde enteignet, nach Gurs verschleppt und 1944 in Auschwitz ermordet. Mit einer Handvoll von Binding und Breymaier auf dem Stolperstein verstreuter Blütenblätter gedachten sie auch seiner. In der Hauptstraße 89 hatte Sigmund Brückmann seinen Sattler- und Tapezierladen. Er teilte das Schicksal vieler Weinheimer Juden und wurde 1943 von den Nazis ermordet.
Wie die Perlen auf einer Kette zieht sich vom Anfang der Hauptstraße bis zu deren Ende Stolperstein an Stolperstein. Dort zog unter der Hausnummer 63 das hier einst befindliche Bekleidungsgeschäft mit Glas- und Porzellanwaren, Haushaltsgeräten und Spielsachen die Menschen bis aus Frankfurt zum Einkaufen an, wie Heuser berichtete.
Berührend die Geschichte des hier damals wohnenden Ernst Rapp. Im Alter von sechs Jahren war er von seinen Eltern Friedrich und Tilli Rapp an eine Kinderorganisation weitergegeben worden, um ihm dadurch das Leben zu retten.
Ernst Rapp überlebte dann auch tatsächlich die Judenverfolgung und kehrte als über 80-Jähriger noch einmal nach Weinheim zurück, als 2008 die Stolpersteine zum Andenken an seine Eltern vor dem Gebäude eingelassen wurden, in dem heute unter anderem die Commerzbank ihren Sitz hat.
Zur 'Erinnerungskultur' zählte auch der weitere Gang von Heuser, Binding und Breymaier zum Mahnmal für die Opfer von Gewalt, Krieg und Verfolgung im Stadtgarten. Sie komme
'viel im Ländle herum', so Breymaier am Marktplatz zum Abschluss bei einem von Lothar Binding spendierten
'Eis für alle'. Dieser Nachmittag aber sei für sie eine 'besonders wertvolle Lehrstunde und einmal etwas ganz
Anderes' gewesen."
Link
zum Artikel |
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November 2018:
Broschüre zu den
"Stolpersteinen" ist erschienen |
Artikel von Alina Eisenhardt im "rheinneckarblog.de"
vom 13. November 2018: "Weinheim weist jetzt mit einer Broschüre und
weiteren Infos den Weg zu den Gedenksteinen in der Stadt – Auch Führungen
buchbar. Die Menschen hinter den 'Stolpersteinen'
Weinheim, 13. November 2018. Sind Ihnen schon einmal die gold
glänzenden 'Stolpersteine' im Gehwegbelag aufgefallen? In Weinheim oder in
Lützelsachsen? Eine neue Broschüre
bietet nun einen Überblick über die Orte der 45 bisher in Weinheim und
Lützelsachsen verlegten Steine. Mit ihr kann man sich auf den Weg durch die
Stadt machen vom Mühlweg bis in die Müllheimer Talstraße. Auch in der
Weinheimer Straße in Lützelsachsen wird man Steine finden.
Information der Stadt Weinheim: 'Die 'Stolpersteine' sind ein Projekt
des Künstlers Gunter Demnig. Er möchte mit diesen Steinen an das Schicksal
von Menschen erinnern, die in der Zeit des Nationalsozialismus verfolgt,
ermordet, deportiert, vertrieben oder in den Suizid getrieben wurden. Die
Stolpersteine sind annähernd würfelförmig, sie bestehen aus Beton und haben
ungefähr jeweils zehn Zentimeter Kantenlänge. Auf der Oberseite der Steine
befindet sich eine Messingplatte, in die die Inschrift eingeschlagen wird.
Sie werden in den Belag des Gehwegs vor den Häusern eingelassen, in denen
die Menschen lebten, arbeiteten oder ermordet wurden.
Entwicklung in Weinheim. In Weinheim hatte sich 2005 eine Gruppe von
vier Personen gebildet, die anregte, in Weinheim Stolpersteine für die Opfer
des Nationalsozialismus zu verlegen. Auch in Lützelsachsen bildete sich ein
Arbeitskreis 'Juden in Lützelsachsen', der ebenfalls das Projekt
'Stolpersteine' unterstützte. Ortschaftsrat und Gemeinderat stimmten jeweils
der Verlegung der Steine zu. In Weinheim wurden insgesamt 40 Steine in den
Jahren 2006 bis 2009 verlegt, in Lützelsachsen wurden vier Steine im Jahr
2007 verlegt. Der 45. Stein wurde 2016 verlegt.
Anlass der Broschüre. Schon länger war geplant, eine Broschüre zu den
Stolpersteinen zu veröffentlichen, die eine Übersicht der Verlegungsorte
gibt und erste Hinweise zu den Personen bietet. Im Sommer 2018 besuchten
Angehörige von Siegmund Brückmann Weinheim. Sie waren überrascht und berührt
davon, dass für ihn ein Stolperstein in Weinheim zur Erinnerung verlegt
worden war. Das war letztlich der konkrete Impuls für Erika Heuser von der
Initiative Stolpersteine und Andrea Rößler aus dem Stadtarchiv im Spätsommer
2018 mit den Arbeiten an der Broschüre zu beginnen.
Arbeiten. Von Erika Heuser stammte ein erster Entwurf mit Daten aus
der Internetseite
www.juden-in-weinheim.de. Es folgten redaktionelle Arbeiten, Ergänzungen
und die Suche nach geeigneten Bildern. Unterstützt wurden Erike Heuser und
Andrea Rößler vom Grafiker Hans-Jürgen Fuchs.
Beschreibung der Broschüre. Die Broschüre listet in Kürze auf 32
Seiten die Orte auf, an denen Stolpersteine liegen, und nennt die Namen und
Lebensdaten der Personen, an die mit den Stolpersteinen erinnert wird. Ein
Stadtplan erleichtert das genauere Auffinden der Steine. Wo möglich, wurden
Fotos der Personen beigefügt. Informationen zur Synagoge, dem Kriegerdenkmal
und dem Mahnmal für die Opfer von Gewalt, Krieg und Verfolgung ergänzen die
Broschüre. Das Gedicht 'In unserer Stadt' von Ruth Kropp erinnert an den 22.
Oktober 1940 in Weinheim, den Tag der Deportation der jüdischen Bürgerinnen
und Bürger nach Gurs. Erstmals wurde die Broschüre nach der
Gedenkveranstaltung zur Reichspogromnacht am Mahnmal für die Opfer von
Gewalt, Krieg und Verfolgung am Freitag, 9. November 2018 verteilt werden.
Die Broschüre wird in der Tourist Information, in städtischen Dienststellen,
in der Verwaltungsstelle Lützelsachsen und in der Volkshochschule ausliegen.
Bei Interesse an Führungen kann man sich an die Tourist-Info am Weinheimer
Marktplatz wenden unter
tourismus@weinheim.de oder 06201-82 610.'"
Link zum Artikel Die Broschüre ist
als pdf-Datei eingestellt. |
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Links und Literatur
Links:
Literatur:
| Franz Hundsnurscher/Gerhard Taddey: Die jüdischen Gemeinden in Baden.
1968. S. 289. |
| Germania Judaica II,2 S. 870f; III,2 S. 1563-1565. |
| Denkschrift zur Erinnerung an die Einweihung der neuen Synagoge in
Weinheim an der Bergstrasse. Gewidmet seinen Gemeindemitgliedern und
Gönnern vom Synagogenrat. Weinheim 1906. |
| J. G. Weiß: Geschichte der Stadt Weinheim. Weinheim 1911. |
| Josef Fresin: Die Geschichte der Stadt Weinheim. Nachdruck Weinheim
1982 der Ausgabe Weinheim 1962. |
| Daniel Horsch: Sie waren unsere Bürger. Die jüdische Gemeinde in
Weinheim an der Bergstraße. Weinheimer Geschichtsblatt 26 (1964). |
| Hans Huth: Die Kunstdenkmäler des Landkreises Mannheim, in: Die
Kunstdenkmäler Badens X,3 (1967) S. 348, 350, 431, 434, 465. |
| Claudia Fischer: Geduldet, vertrieben, ermordet - Die Juden in
Weinheim bis 1933, in: Stadt Weinheim (Hg.): Die Stadt Weinheim zwischen
1933 und 1945. Weinheim 2000 (Weinheimer Geschichtsblatt Nr. 38) S. 351-444. |
| Christina Modig: Die jüdischen Bürger Weinheims 1933-1945, in:
ebd. S. 445-567. |
| Christiane
Twiehaus: Synagogen im Großherzogtum Baden (1806-1918). Eine
Untersuchung zu ihrer Rezeption in den öffentlichen Medien. Rehe: Schriften
der Hochschule für jüdische Studien Heidelberg. Universitätsverlag Winter
Heidelberg 2012.
Zur Synagoge in Weinheim: S. 38-42. |
| Stolpersteine in Weinheim - Ein Rundgang. Hrsg. von der
Stadt Weinheim, Stadtarchiv
stadtarchiv@weinheim.de Texte: Erika Heuser (Initiative
Stolpersteine) und Andrea Rößler (Stadtarchiv). Erschien Oktober 2018.
Online
als pdf-Datei eingestellt. |
Article from "The Encyclopedia of Jewish life Before and During the
Holocaust".
First published in 2001 by NEW
YORK UNIVERSITY PRESS; Copyright © 2001 by Yad
Vashem Jerusalem, Israel.
Weinheim Baden. Jewish
communities existing during the 13th and 14th centuries were destroyed in the
Rindfleisch massacres of 1298 and the Black Death massacres of 1348-49.
Subsequently Jewish refugees from Worms and Speyer settled under the protection
of Rupert I, earning their livelihood as moneylenders. All were expelled by
Rupert II in 1391 with the rest of the Jews of the Palatinate. A new Jewish
community was formed in the late 17th century. During the 19th century the
Rothschild, Kaufmann and Hirsch families became prominent in the city. Jacob
Rothschild started a textile business in 1856 and was head of the community for
many years. Sigmund Hirsch (1845-1908) operated what became the largest
horsehide-processing plant in Europe. The community reached an peak population
of 188 (total 14,170) in 1910. In 1933, 168 Jews remained, operating 19 business
establishments and the Hirsch shoe and leather factory with its 400 workers. By
November 1938, 43 Jews had emigrated (a third to the United States) and 21 had
left for other German cities. After the synagogue was blown up on Kristallnacht
(9-10 November 1938), Jewish homes and stores were damaged and most Jewish men
detained in the Dachau concentration camp. Twenty-four emigrated and 15 left for
other German cities. On 22 October 1940, 46 were deported to the Gurs
concentration camp, most perishing. Another 26 Jews from the local insane asylum
were put to death at Heppenheim.
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