Eingangsseite
Aktuelle Informationen
Jahrestagungen von Alemannia Judaica
Die Mitglieder der
Arbeitsgemeinschaft
Jüdische Friedhöfe
(Frühere und bestehende) Synagogen
Übersicht: Jüdische Kulturdenkmale
in der Region
Bestehende jüdische Gemeinden
in der Region
Jüdische Museen
FORSCHUNGS-
PROJEKTE
Literatur und Presseartikel
Adressliste
Digitale Postkarten
Links
| |
zurück zur Übersicht "Synagogen in der Region"
zu den Synagogen in
Baden-Württemberg
Muggensturm (Kreis
Rastatt)
Jüdische Geschichte / Betsaal/Synagoge
Übersicht:
Zur Geschichte der jüdischen Gemeinde (english
version)
In dem bis zum Anfang des 19. Jahrhunderts zur Markgrafschaft Baden-Baden gehörenden
Muggensturm bestand eine kleine jüdische Gemeinde bis 1913. Ihre Entstehung
geht auf die Zeit Anfang des 18. Jahrhunderts zurück. Erstmals wird 1701
eine jüdische Familie am Ort genannt; 1715 waren es zwei, 1764 drei Familien
(als Hausbesitzer: Witwe des 1755 verstorbenen Juden Abraham und Schutzjude
Joseph Moysis), 1789 17 jüdische Personen.
Bis 1825 nahm die Zahl der jüdischen Einwohner auf 25 Personen zu (1841 29,
1869 67). In den 1830er-Jahren handelte es sich um die Familien des David Kahn,
Wolf Kahn, Loew Kahn (seit 1833 Vorsteher der Gemeinde), Nathan Lehmann, Salomon
Lehmann, Isaak Roos, Juda Vogel, Max Wertheimer. 1862 erhielten das Bürgerrecht:
Maier Dreifuß, Löb Kahn, Simon Kahn (Metzger), Leopold Löb, Abraham Roos,
Samuel Schnurmann (Kaufmann), Juda Vogel, Marx Wertheimer, Moses Wertheimer,
1864 wurde Lob Wertheimer als Bürger angenommen, 1867 Isaias Wertheimer, 1869
Samuel Vogel, 1871 Hermann Wertheimer, 1873 Simon Wertheimer, 1877 Isak Roos,
1878 Leopold Roos, 1881 David Löb und Isaak Wertheimer, 1883 Abraham Dreifuß,
1896 Isaak Wertheimer.
Die höchste Zahl jüdischer Einwohner wurde um 1875 mit 80 Personen erreicht.
Bald verzog jedoch ein großer Teil der Muggensturmer Juden in die Städte der
Umgebung (Rastatt Karlsruhe) oder wanderte aus. 1897 waren noch sieben jüdische
Familien am Ort mit etwa 30 Personen; 1910 wurden nur noch 15 jüdische
Einwohner gezählt. Die jüdischen Familien lebten vom Handel mit Waren
unterschiedlicher Art. Als größeren Gewerbebetrieb gab es in der 2. Hälfte
des 19. Jahrhunderts die Tüten-, Papierwaren- und Kartonagefabrik Dreyfuss
& Roos (vergleiche Anzeige unten).
Papierindustrie - Muggensturmer Wurzeln: 1833 gründete sich die
Firma Vogel & Schnurmann in Muggensturm (Levy Vogel und Samuel Schnurmann), eine
Lumpensortieranstalt mit Lederhandel. Simon Bernheimer aus
Schmieheim bei Lahr trat 1866 als
kaufmännischer Lehrling in die Firma ein. Durch Arbeitseifer und Strebsamkeit
erfolgreich, eröffnete er zusammen mit dem Muggensturmer Samuel Vogel die 'Vogel
& Bernheimer OHG' mit Sitz in Ettlingen
(nach der Übernahme der Papierfabrik Grambberger & Sack in Ettlingen). 1879
wurde die Firma nach Karlsruhe in die
Nähe des Mühlburger Tores verlegt, der Standort Muggensturm wurde beibehalten.
Nach dem Krieg 1870/71 begann die Modernisierung der gesamten
Produktionstechnik. Dann zogen die Industriepioniere aus Muggensturm (Samuel
Schnurmann stieß als dritter Gesellschafter dazu) nach Maxau an den Rhein, um
mit der Zellstoffproduktion (heute Stora Enso) zu beginnen. 1899 entstand eine
komplett neue Fabrikanlage beim Westbahnhof im romanischen Baustil. Das
Kesselhaus besteht heute noch und wird als Restaurant genutzt. Auch der 32 m
hohe Wasserturm hat die Kriegswirren überstanden. Ab 1908 wurden in Karlsruhe
die gesammelten Lumpen in eigener Fabrikation zu Kunstwolle und Kunstbaumwolle
verarbeitet und insbesondere nach England und den Niederlanden exportiert. 1926
beschäftigte die Firma (einschließlich der Muggensturmer Produktionsstätte) 700
Mitarbeiter und war somit die größte Hardersortieranlage in Deutschland. Im
Verlauf der 'Arisierung' durch die Nationalsozialisten mussten die damaligen
Eigentümer Leo Vogel und Sally Vogel den Betrieb zwangsweise weit unter Wert
verkaufen. Sie und der Prokurist Arthur Vogel emigrierten daraufhin mit ihren
Familien nach England.
An Einrichtungen hatte die jüdische Gemeinde Muggensturm eine Synagoge, eine
Religionsschule und ein rituelles Bad. Die Toten der Gemeinde wurden im jüdischen
Friedhof in
Kuppenheim beigesetzt. Zur Besorgung religiöser Aufgaben der Gemeinde war
in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts zeitweise ein Lehrer angestellt,
der zugleich als Vorbeter und Schochet tätig war (siehe Stellenausschreibungen
unten). 1827 wurde die Gemeinde dem Rabbinatsbezirk Bühl
zugeteilt.
Zum 1. Januar 1913 wurde die Gemeinde aufgelöst und die hier noch
lebenden Juden der Israelitischen Gemeinde Rastatt
zugewiesen. 1924 lebten noch vier, 1933 fünf jüdische Personen in
Muggensturm. Auf Grund der Folgen des wirtschaftlichen Boykotts, der zunehmenden
Entrechtung und der Repressalien entschlossen sich in der Folgezeit zur
Auswanderung: Julius Dreyfuß nach England, Manfred Dreyfuß nach Frankreich
(1933), Jacob Roos nach Argentinien (1938), Herbert Ludwig Heimann (1938 nach
England). Das Ehepaar Frieda und Moritz Heimann wurde am 22. Oktober 1940 nach
Gurs deportiert. Ihr Haus wurde im Dezember 1941 beschlagnahmt, die beweglichen
Sachen (Möbel, Hausrat, Wüsche usw.) wurden versteigert (vgl. unten weitere
Informationen zum Schicksal der Familie Heimann).
Von den in Muggensturm geborenen und/oder längere Zeit am Ort wohnhaften jüdischen
Personen sind in der NS-Zeit umgekommen (Angaben nach den Listen von Yad
Vashem, Jerusalem und den Angaben des "Gedenkbuches
- Opfer der Verfolgung der Juden unter der nationalsozialistischen
Gewaltherrschaft in Deutschland 1933-1945"): Elsa Dreifuss geb.
Wertheimer (1886), Berthold Dreyfuss (1886), Moritz Heimann (1880), Margarethe
Hummel geb. Benary (1878), David Kahn (1865), Lina Leopold geb. Weil (1874),
Leopold Löb (1891), Elsa Meyer geb. Löb (1899), Melanie (Melonia) Schaalmann
geb. Roos (1885), Berta Weil (1889), Paula (Bella) Weil geb. Löb (1889).
Aus der Geschichte der jüdischen Gemeinde
Aus der Geschichte der
jüdischen Lehrer
Ausschreibungen der Stelle des Religionslehrers / Vorbeters / Schochet 1844 / 1885 /
1890 /1892 / 1893
Anzeige im "Großherzoglich Badischen Anzeige-Blatt für den
See-Kreis" vom 20. November 1844 (Quelle: Stadtarchiv Donaueschingen):
"Bühl.
[Bekanntmachung.]. Bei der israelitischen Gemeinde Muggensturm ist die
Lehrstelle für den Religionsunterricht der Jugend, mit welcher ein
Gehalt von 66 fl., nebst freier Kost und Wohnung, sowie der
Vorsängerdienst samt den davon abhängigen Gefällen verbunden ist,
erledigt, und durch Übereinkunft mit der Gemeinde unter höherer
Genehmigung zu besetzen.
Die rezipierten israelitischen Schulkandidaten werden daher aufgefordert,
unter Vorlage ihrer Rezeptionsurkunde und der Zeugnisse über ihren
sittlichen und religiösen Lebenswandel, binnen 6 Wochen sich bei der
Bezirkssynagoge Bühl zu melden.
Auch wird bemerkt, dass im Falle sich weder Schul- noch
Rabbinatskandidaten melden, andere inländische Subjekte, nach
erstandener Prüfung bei dem Bezirksrabbiner, zur Bewerbung zugelassen
werden.
Bühl, den 15. November 1844. Großherzogliche Bezirkssynagoge." |
|
Anzeige
in der Zeitschrift "Der Israelit" vom 16. März 1885: Auf
1. Mai ist die Religionslehrer-, Vorbeter- und Schächterstelle bei der
israelitischen Gemeinde Muggensturm (Baden) zu besetzen. Fester Gehalt 550
Mark nebst einem Nebeneinkommen von 300-400 Mark und freier Wohnung.
Ledige Bewerber wollen sich unter Vorlage ihrer Zeugnisse alsbald wenden
bei dem
Synagogenrat in Muggensturm S. Vogel." |
|
Anzeige
in der Zeitschrift "Der Israelit" vom 31. Juli 1890:
"Auskündigung einer Religionsschulstelle. Die mit dem Kantor-
und Schächterdienst verbundene Religionsschulstelle in Muggensturm
(Baden) soll sofort wiederbesetzt werden. Fixum 600 Mark, Nebeneinkommen
250 Mark nebst Wohnung.
Bewerber ledigen Standes wollen ihre Meldungen nebst beglaubigten
Zeugnisabschriften sofort an uns einsenden.
Bühl (Baden), den 28. Juli 1890. Bezirks-Synagoge: Dr. Mayer." |
|
Anzeige
in der Zeitschrift "Der Israelit" vom 26. Mai 1892:
"Auskündigung einer Religionsschulstelle.
Die mit dem Kantor- und Schächterdienst verbundene
Religionsschulstelle in Muggensturm (Baden) soll alsbald besetzt
werden. Fixum 500 Mark, Nebeneinkommen ca. 20 Mark nebst freier Wohnung.
Nur ledige Bewerber wollen sich unter Anschluss von beglaubigten
Zeugnisabschriften bis längstens 15. Juni dieses Jahres bei uns
melden.
Bühl, im Mai 1892. Bezirks-Synagoge Dr. Mayer." |
|
Anzeige
in der Zeitschrift "Der Israelit" vom 10. April 1893:
"Auskündigung einer Religionsschulstelle.
Die mit dem Vorsänger- und Schächterdienst verbundene
Religionsschulstelle in Muggensturm (Baden) soll sofort wieder besetzt
werden. Fixum 500 Mark, Nebeneinkommen etwa 200 Mark. Ledige werden
bevorzugt. Meldungen, mit beglaubigten Zeugnisabschriften verstehen, sind
längstens bis 15. April dieses Jahres anher zu richten.
Bühl, 26. März 1893. Großherzogliche Bezirks-Synagoge: Dr. Mayer." |
Aus dem jüdischen Gemeindeleben
Auflösung der jüdischen Gemeinde (1913)
Artikel in der "Allgemeinen Zeitung des Judentums"
vom 21. März 1913: "Durch Staatsministerialentschließung wurde
die israelitische Religionsgemeinde Muggensturm, Synagogenbezirk
Bühl (Baden), für aufgelöst erklärt. Das Vermögen dieser Gemeinde
fällt dem israelitischen Religionsschul- und Pensionsfonds
zu." |
|
Artikel
in der "Badischen Presse" vom 1. März 1913: "Muggensturm (Amt
Rastatt), 28. Februar (1913). Durch Staatsministerialentschließung wurde die
israelitische Religionsgemeinde Muggensturm, Synagogenbezirk Bühl,
für aufgelöst erklärt. Das Vermögen dieser Gemeinde fällt dem
israelitischen Religionsschul- und Pensionsfonds zu. Die in Muggensturm
wohnenden Israeliten wurden der Religionsgemeinde
Rastatt zugeteilt."
|
Berichte
zu einzelnen Personen aus der jüdischen Gemeinde
Zum Tod von Löb Kahn, langjähriger Vorsteher der
jüdischen Gemeinde Muggensturm (1902)
Artikel in der Zeitschrift "Der Israelit"
vom 20.November 1902: "Baden-Baden. Wenn Männer von hinnen
scheiden, die es sich zur Aufgabe machten, die Religion nicht nur selbst
zu üben, sondern auch den ihnen zu Gebot stehenden Einfluss in
segensvoller Weihe zur Geltung bringen, so ist es rechtens, öffentlich
davon zu sprechen. Es gebührt demnach dem vor Kurzem in einem Alter von
95 Jahren verstorbenen Löb Kahn in
Baden-Baden, in diesen
Blättern einen entsprechenden Nachruf zu widmen. Derselbe stand Jahrzehnte
lang in seiner Heimatgemeinde Muggensturm, Amt Rastatt, als erster
Vorstand an der Spitze seiner Gemeinde, in welche Neuerungen in
religiöser Beziehung nicht Eingang finden konnten, da Herr Kahn streng
Wachposten hielt. Als er im hohen Alter mit seinen Angehörigen, die ihn
liebten und achteten, nach dem Welt-Badeplatz Baden-Baden übersiedelte,
übte er auch hier seinen ganzen Einfluss für die Erhaltung unserer
heiligen Religion aus. Er betete noch voriges Jahr das Neïla-Gebet am
Versöhnungstage mit Andacht vor und ließ es sich nicht nehmen, noch am
letzten Feiertag vor seinem Tode als Cohen zu wirken. Leider ist
sein allgemein geachteter Sohn, Herr Simon Kahn, bei dem der Vater
den Rest seiner Lebenstage zubrachte, drei Monate früher ihm im Tode
vorangegangen, was den hohen Greis sehr erschütterte. Badener Blätter
brachten Nachrufe. Sprechen wir für beide Heimgegangenen: Ihre Seele
sei eingebunden in den Bund des Lebens." |
Über das Schicksal der Familie
Heimann
Das Ehepaar Frieda und Moritz Heimann wurde am 22. Oktober 1940 nach Gurs
deportiert. Moritz Heimann wurde nach Zeugenaussagen eines Muggensturmer Bürgers
von SA-Schergen zunächst die Treppe in seinem Wohnhaus hinuntergestoßen und dann
wie ein Sack auf den LKW geworfen. Das Haus der Heimanns wurde im Dezember 1941
beschlagnahmt, die beweglichen Sachen (Möbel, Hausrat, Wäsche usw.) versteigert.
Moritz Heimann (geb. 30.10.1880) verstarb am 25. Juli 1943 mit 62 Jahren im
Gurs-Nebenlager Noé. Seine Frau Frieda (geb. Marx, geb. 27.04.1910) wurde über
das Sammellager Drancy bei Paris zunächst nach Auschwitz deportiert, kam dann im
November 1944 ins KZ Begen-Belsen und von dort nach Salzwedel, wo sie 1945 die
Befreiung überlebte. Moritz Heimann war in erster Ehe mit Mathilde
geb. Weil (geb.
1890) verheiratet, die jedoch 1935 starb. Aus dieser Ehe stammte Herbert Ludwig Heimann (geb. 1918), der 1938 nach England, später USA, emigrierte. 1938 war
Herbert nach der Reichspogromnacht für kurze Zeit um KZ Dachau in Schutzhaft. Er
musste eine Erklärung unterschreiben, dass er bei bester Gesundheit entlassen
wurde, nie etwas über die Erlebnisse (z.B. Folter) im Lager an andere berichten
würde und so schnell wie möglich Deutschland verlassen sollte, verbunden mit der
Androhung wieder ins Konzentrationslager gesteckt zu werden. Eine KZ-Inhaftierung
der gesamten Familie wurde darüber hinaus bei Nichtbefolgen der erpresserischen
Anordnung in Aussicht gestellt.
Anzeigen jüdischer
Gewerbebetriebe
Lehrlingssuche der Tüten-, Papierwaren- und
Kartonage-Fabrik Dreyfuß & Roos (1887)
Anzeige
in der Zeitschrift "Der Israelit" vom 4. August 1887: "Für
das Büro unserer Tüten-, Papierwaren- und Kartonage-Fabrik suchen einen
mit den nötigen Vorkenntnissen versehenen Lehrling.
Kost und Logis im Hause. Samstag und Feiertags geschlossen.
Muggensturm bei Rastatt. Dreyfuß & Roos." |
Zur
Geschichte der Betsaales / der Synagoge
Die jüdischen Familien in
Muggensturm waren nach Berichten aus den 1830er-Jahren wenig vermögend,
teilweise sehr arm. Aus diesem Grund hatten sie, auch nachdem die zum
Gottesdienst nötige Zehnzahl religionsmündiger Männer vorhanden war, nur
bescheidende Möglichkeiten, ihre Gottesdienste in angemessener Form zu feiern.
Man traf sich noch um 1830 in einem Dachzimmer in dem einstockigen Häuschen
des Isaak Roos. Die Männer hatten beim Gottesdienst gerade noch Platz; die
Frauen hingegen mussten sich mit dem dahinter gelegenen Hühnerstall begnügen.
1834 verpflichteten sich die selbständigen Juden
der Gemeinde, auf eigene Kosten eine Synagoge zu bauen, da die bisherigen
Zustände auf Dauer untragbar waren. Ein kleines Kapitel von 225 Gulden wurde
zusammengetragen werden, womit immerhin eine Scheune gekauft werden konnte
(Grundstück Hauptstraße 44/ Wilhelmstraße 2). Diese wurde aus den Mitteln der
sieben jüdischen Familien zu einer Synagoge umgebaut. Es handelte sich um einen
kleinen, länglichen 1 ½ stockigen Bau, der mehr einer Remise glich. Die Kosten
für den Bau der Synagoge wurden – wie in anderen jüdischen Gemeinden auch üblich
– zum Teil auch durch den Verkauf der Synagogenplätze zusammengetragen.
1837 wurde im Erdgeschoss des Synagogengebäudes
eine Mikwe (rituelles Bad) eingerichtet. Nach dessen Fertigstellung
besichtigte Bezirksrabbiner Dr. Ephraim Willstätter (Bühl) besichtigte dieses
Bad. Er kam mit einem Zweispänner angefahren und brachte Frau und Schwägerin
mit. Willstätter präsentierte der armen Judengemeinde für die
Besichtigungsfahrt eine Rechnung über neun Gulden. Die Muggensturmer Juden
lehnten die Bezahlung dieser "Spazierfahrt" ab. Erst als der Rabbiner
den Synagogenvorsteher pfänden ließ, war man zur Begleichung bereit. Zu allem
Unglück waren die Behörden mit dem Zustand des Bades nicht einverstanden und
verpflichteten die Gemeinde noch dazu, für die Erwärmung des Raumes und des
Wassers Sorge zu tragen.
Aus der weiteren Geschichte der Synagoge in Muggensturm ist
nur wenig bekannt. Ein großes Fest für das ganze Dorf war die Einbringung
einer neuen Torarolle am 30. Dezember 1865, von der auch in der
überregionalen Zeitschrift "Der Israelit" berichtet wurde:
Artikel
aus der Zeitschrift "Der Israelit" vom 10. Januar
1866:
(Anmerkung: Der Bericht wurde leicht überarbeitet, an zwei
Stellen ist die Vorlage nicht lesbar): Aus
Baden, 4. Januar. Dem "F.J." wird geschrieben: Ihren Korrespondenzen
aus unserem Lande möchte ich noch folgenden Bericht anfügen. Herrscht in Baden
ein Kirchenstreit, ein Schulstreit um der Kirche Willen? Allerdings! Ist aber
das Land deshalb unglücklich? Hassen sich die verschiedenen Konfessionen
gegenseitig so gründlich, wie es allzu oft behauptet wird? Keineswegs. Eine
schöne Probe hiervon lieferte ein am 30. Dezember vorigen Jahres (sc. 1865)
stattgehabtes israelitisches Kirchenfest zu Muggensturm bei Rastatt. Es wurde
eine neugeschriebene Thorarolle in die Synagoge verbracht, zu diesem Zwecke
verzierten christliche Hände das israelitische Gotteshaus mit aus dem
Gemeindewalde unentgeltlich abgegebenen Tannenstämmchen und Reisern, mit aus
dem Pfarrgarten geschenkten Buchszweigen und anderem Grün, mit von christlichen
Frauen gespendeten Sträußen und Kränzen. Ebenso wurde das Zimmer in einem
Privathause geschmückt, worin die neue Thorarolle vorläufig aufgestellt war,
wohin namentlich auch Spiegel und Gewächse (?) aus einem christlichen Hause
geliehen waren. (Am 30. Dezember fand) mit der Thora ein feierlicher Zug über
die Straße statt, allenthalben wurde ihm mit Ehrerbietung begegnet (?), und
viele Böllerschüsse sandten feierlichen Freudenrauch (?) in die Luft. In der
Synagoge stand Kopf an Kopf gedrängt, darunter auch einer der christlichen
Ortsgeistlichen und der Bürgermeister. Die etwa dreiviertelstündige Predigt
des Rabbiners, welche den Fortschritt der Humanität betonte, wurde in lautloser
Stille allseits andächtig angehört, ebenso die Gesangsvorträge eines gut
geschulten Chors. Der Gottesdienst war zu Ende, die Menge strömte aus der
Synagoge, und wurde abermals mit Böllerschüssen begrüßt. Muggensturm aber
ist ein Dorf und sämtliche christliche Einwohner sind gut katholisch. So steht
es in Baden, dem Lande mit dem kirchlichen Schulstreit - nein, dem Lande der
fortschreitenden Humanität, dem lande, dessen Fürst, Regierung und Volk den
Frieden lieben und ihn wollen. |
Nach Wegzug vieler Gemeindeglieder aus Muggensturm und der
Auflösung der jüdischen Gemeinde des Ortes 1913 wurde die Synagoge verkauft
und noch einige Jahrzehnte als Scheune verwendet.
Verkauf des Synagogengebäudes (1913)
Artikel
in der "Badischen Presse" vom 13. April 1913: "Muggensturm (Amt
Rastatt), 22. April (1913). Hier kam es zu einer eigenartigen
Versteigerung, nachdem die hiesige israelitische Gemeinde durch
Ministerialbeschluss aufgelöst ist, wurde die hiesige Synagoge an den
meistbietenden öffentlich versteigert. Um den Preis von 700 Mark erwarb sie
ein hiesiger Landwirt, der die Synagoge als Remise benützen wird." |
Im Laufe der folgenden Jahrzehnte
verschlechterte sich der Zustand des Synagogengebäudes derart, dass es 1972 abbruchreif
war. Zuletzt konnte man von innen nach außen durch die Wände sehen. Die Decke
musste abgestützt werden. Im Protokoll des Technischen Ausschusses der Gemeinde
wurde im Juli 1972 vermerkt, dass die an der Synagoge angebrachten "sehr
interessanten Schriftzeichen" beim Abbruch erhalten bleiben sollten. Der
Gemeinderat stimmte am 6. Dezember 1972 dem Abbruch zu. Allerdings verschwand
der massive Holzbalken, an dem die hebräischen Zeichen waren, beim Abbruch
spurlos. 1984 war daran gedacht, einen schlichten Gedenkstein für die ehemalige
Synagoge aufzustellen. Dazu ist es jedoch bis heute noch nicht gekommen. Das
Synagogengrundstück ist heute ein unbebautes Rasengrundstück.
Artikel im Badischen Tagblatt vom 4. Januar 1984 zur
Geschichte der Synagoge und der jüdischen Gemeinde
"Holzbalken
mit hebräischer Inschrift verschwand spurlos - Zunächst trafen sich die
jüdischen Frauen zum Gottesdienst in einem Hühnerstall.
Muggensturm (kivo). 'Zwanzig Jahre sind seit dem Zusammenbruch des
Dritten Reiches vergangen, und die Erinnerung an die jüdischen Männer,
Frauen und Kinder, die noch um 1933 in unserem Landkreis in Rastatt,
Kuppenheim, Muggensturm, Gaggenau, Hörden und Gernsbach als
gleichberechtigte und geachtete Mitbürger lebten, beginnt zu verblassen,
ihre Spur zu verwehen und ihr Bild im Dunkel der Vergangenheit zu
versinken.' Mittlerweile sind 38 Jahre vergangen, seit Hitlers Regime
zusammenbrach. Oskar Stiefvater, der im Heimatbuch 'Um Rhein und Murg' im
Jahre 1965 einen Aufsatz über 'Geschichte und Schicksal der Juden im
Landkreis Rastatt' veröffentlichte, setzte den oben zitierten Satz ans
Ende seiner Aufzeichnungen.
Spuren verwehen, sie werden verwischt. Auch in Muggensturm fiel vor rund
zwölf Jahren ein Gebäude der Abbruch-Kugel zum Opfer, jedoch nicht, weil
es dem Gemeinderat damals an Geschichtsbewusstsein gemangelt hätte,
sondern weil ein Abbruch aus Sicherheitsgründen unumgänglich wurde. Es
geht um die Scheune in der Hauptstraße 44, um das Gebäude, das
Generationen von Muggensturmer Juden als Synagoge, als Gebetshaus, gedient
hatte...
Zum Lesen des ganzen Artikels: bitte Textabbildung anklicken. |
Fotos
Historische Fotos:
Historische Fotos sind nicht bekannt,
Hinweise bitte an den
Webmaster von "Alemannia Judaica",
E-Mail-Adresse siehe Eingangsseite |
Fotos nach 1945/Gegenwart:
Foto um 1970 (?)
(Quelle: der oben zitierte Artikel aus
dem Badischen Tagblatt vom
4.1.1984) |
|
|
|
Das Gebäude der ehemaligen Synagoge
im Muggensturm. Mit
etwas Mühe lassen
sich die Rundbogenfenster des
Betsaales erkennen. |
|
|
|
|
Fotos um 1985
(Fotos: Hahn) |
|
|
|
Grundstück der ehemaligen Synagoge |
|
|
Fotos 2003:
(Fotos: Hahn,
Aufnahmedatum 16.9.2003) |
|
|
|
|
Erinnerungsarbeit vor
Ort - einzelne Berichte
Dezember 2019:
Führung über den jüdischen
Friedhof Kuppenheim "Muggensturmer Juden auf dem Friedhof"
- ein Memorialstein wird in
Muggensturm und Neckarzimmern erstellt
|
Mitteilung der Stolperstein-Initiativen
Kuppenheim vom 2. Dezember 2019:
"Muggensturmer Juden auf dem jüdischen Friedhof. Führung am 4.
Dezember 2019
Muggensturm/Kuppenheim. Die Evangelische Jugend
Bietigheim-Muggensturm-Ötigheim beabsichtigt im kommenden Jahr einen
Memorialstein zur Vertreibung von Juden aus Muggensturm ins
Deportiertenlager Gurs zu errichten. Seit Beginn des 'Ökomenischen
Jugendprojekts Mahnmal' wurden Steine aus 135 Deportationsorten in das
Mahnmal in Neckarzimmern
eingebracht. Das Projekt ist erst abgeschlossen, wenn alle 140
Deportationsorte mit einem Stein auf dem Mahnmal und in der ehemals
jüdischen Heimatgemeinde vertreten sind. Neben dem geplanten Gedenkstein in
Muggensturm sind noch vier Gemeinden aus: Merchingen, Stein am Kocher,
Triberg und Zell im Wiesental. Die Jugendlichen wollen auf dem jüdischen
Friedhof Kuppenheim Gräber von Muggensturmer Juden besuchen und sich über
Begräbnissitten und Familiengeschichten informieren. 45 Muggensturmer liegen
auf dem 'Mergelberg', dazu ein Kind. Das älteste Grab stammt von Jentle
eschet Avraham aus dem Jahr 1756, weitere Gräber aus den Jahren 1782, 1799
und dem 19. Jahrhundert. Auch die Begründer von Herz & Schlorch
(Eisenwarenhandel) stammen aus Muggensturm.
Die Führung findet statt am: Mittwoch, 4. Dezember 2019 • 14 Uhr
Interessierte aus Muggensturm und Umgebung sind herzlich willkommen.
Männliche Teilnehmer werden gebeten, eine Kopfbedeckung (Mütze, Kappe,
Hut...) zu tragen. Gutes Schuhwerk ist angesagt. Die Veranstaltungen finden
auch bei Regen, nicht bei Sturm, statt. Sie sind kostenlos. Spenden werden
gerne entgegengenommen. Anmeldungen bitte unter
heinz_wolf@gmx.de oder 07225 - 75543
Veranstalter: Stolperstein-Initiativen Kuppenheim. Info:
www.juedisches-kuppenheim.de"
|
|
April 2023:
Gemeinsame Veranstaltung der
Arbeitskreise Stolpersteine Kuppenheim und Muggensturm auf dem
jüdischen Friedhof Kuppenheim
|
Mitteilung der Arbeitskreise Stolpersteine
Kuppenheim und Muggensturm vom 19. April 2023: "Führungen auf dem jüdischen
Friedhof Kuppenheim am Freitag, 21. April, 16 Uhr
Der Arbeitskreise Stolpersteine Kuppenheim und Muggensturm werden in einer
gemeinsamen Veranstaltung die Geschichte der Muggensturmer Juden aufzeigen.
Deshalb laden sie zu einer Führung auf dem jüdischen Friedhof Kuppenheim ein
- am Freitag, 21. April 2023, 16 Uhr, Stadtwaldstraße 120. Männlich
Teilnehmer werden gebeten eine Kopfbedeckung mitzubringen. Die Führung ist
kostenlos – Spenden für Stolpersteine werden gerne entgegengenommen. Die
Führung findet auch bei Regen statt. Gutes Schuhwerk ist angebracht.
Mitglieder und Gäste sind willkommen.
46 Muggensturmer Juden in Kuppenheim beerdigt. Die Besucher auf dem
Friedhof erfahren, dass zu Beginn des 19. Jahrhunderts in Muggensturm eine
kleine jüdische Gemeinde bestand. Erstmals wurde 1701 eine jüdische Familie
am Ort genannt (in Kuppenheim bereits 1433). Die höchste Zahl jüdischer
Einwohner wurde um 1875 mit 80 Personen erreicht. Bald verzog jedoch ein
großer Teil der Muggensturmer Juden in die Städte der Umgebung oder wanderte
aus. 1897 lebten 30, im Jahr 1910 nur noch 15 jüdische Einwohner in
Muggensturm. Zum 1. Januar 1913 wurde die Gemeinde aufgelöst und die hier
noch lebenden Juden der Israelitischen Gemeinde Rastatt zugewiesen. 1924
wurden noch vier, 1933 fünf Juden gezählt. Auf Grund der Folgen des
wirtschaftlichen Boykotts, der zunehmenden Entrechtung und der Repressalien
entschlossen sich in der Folgezeit zur Auswanderung: Julius Dreyfuß nach
England, Manfred Dreyfuß nach Frankreich (1933), Jacob Roos nach Argentinien
(1938), Herbert Ludwig Heimann (1938 nach England).
Industriepioniere aus Muggensturm. Die jüdischen Familien lebten vom
Handel. Als größeren Gewerbebetrieb gab es in der zweiten Hälfte des 19.
Jahrhunderts die Tüten-, Papierwaren- und Kartonagefabrik Dreyfuss & Roos.
1833 gründete sich die Firma Vogel & Schnurmann in Muggensturm (Levy Vogel
und Samuel Schnurmann), eine Lumpensortieranstalt mit Lederhandel. Simon
Bernheimer aus Schmieheim bei Lahr trat 1866 als kaufmännischer Lehrling in
die Firma ein. Durch Arbeitseifer und Strebsamkeit erfolgreich, eröffnete er
zusammen mit dem Muggensturmer Samuel Vogel die 'Vogel & Bernheimer OHG' mit
Sitz in Ettlingen. Nach dem Krieg 1870/1871 begann die Modernisierung der
gesamten Produktionstechnik. Dann zogen die Industriepioniere aus
Muggensturm (Samuel Schnurmann stieß als dritter Gesellschafter dazu) nach
Maxau an den Rhein, um mit der Zellstoffproduktion zu beginnen. Im Verlauf
der 'Arisierung' durch die Nationalsozialisten mussten die damaligen
Eigentümer Leo Vogel und Sally Vogel den Betrieb zwangsweise verkaufen. Sie
und der Prokurist Arthur Vogel emigrierten mit ihren Familien nach England.
Die beiden Arbeitskreise Stolpersteine wollen mit ihren Aktionen auf das
Schicksal der jüdischen Minderheit hinweisen, an die vertriebenen und
ermordeten Mitbürger erinnern und vor allem mahnen, dass so etwas nie wieder
passieren werde. In diesem Zusammenhang erfahren die Besucher des jüdischen
Friedhofes, dass es wichtig ist, sich für Toleranz gegenüber Minderheiten
einzusetzen, teilte der Arbeitskreis mit. Info E-Mail:
heinz_wolf_gmx.de – Telefon: 07225 75543.
www.juedisches-kuppenheim.de."
|
Links und Literatur
Links:
Literatur:
| Franz Hundsnurscher/Gerhard Taddey: Die jüdischen Gemeinden in Baden.
1968. S. 245-246. |
| Art. "Holzbalken mit hebräischer Inschrift verschwand spurlos",
in: Badisches Tagblatt, Ausgabe Rastatt vom 4. Januar 1984. |
| Ernst Schneider: Muggensturmer Ortschronik. 1985. S. 128ff. |
| Muggensturm im Wandel der Zeiten, in: Landkreis Rastatt 4 (1977) S. 31. |
| Gerhard Friedrich Linder: Die jüdische Gemeinde in Kuppenheim.
1999. S. 27.29. |
| Joseph Walk (Hrsg.): Württemberg - Hohenzollern -
Baden. Reihe: Pinkas Hakehillot. Encyclopedia of Jewish Communities from
their foundation till after the Holocaust (hebräisch). Yad Vashem Jerusalem
1986. S. 494. |
| Joachim
Hahn / Jürgen Krüger: "Hier ist nichts anderes als
Gottes Haus...". Synagogen in Baden-Württemberg. Band 1: Geschichte
und Architektur. Band 2: Orte und Einrichtungen. Hg. von Rüdiger Schmidt,
Badische Landesbibliothek, Karlsruhe und Meier Schwarz, Synagogue Memorial,
Jerusalem. Stuttgart 2007. |
| Günter Boll: Samuel Levy von Biesheim und Reis
Joseph von Muggensturm. Online
eingestellt.
Zum Inhalt: Samuel Levy von Biesheim (geb. 1720) und Reis Joseph von
Muggensturm heirateten am 24. Mai 1750. Die Heirat der beiden ist
exemplarisch für die verwandtschaftlichen Beziehungen zwischen Mitgliedern
der elsässischen jüdischen Gemeinde im oberelsässischen Biesheim
und jenen der beiden kleineren Gemeinden im unterelsässischen Diebolsheim
und im badischen Muggensturm.
|
| Günther
Mohr: "Neben, mit Undt bey Catholischen*. Jüdische Lebenswelten
in der Markgrafschaft Baden-Baden 1648-1771. Böhlau-Verlag Köln u.a. 2011.
248 Seiten. ISBN 13: 978-3412207397. Website
des Verlags mit Informationsseite
zur Publikation
Die Studie widmet sich den Lebensmöglichkeiten von Juden und Jüdinnen in der katholisch geprägten Markgrafschaft Baden-Baden und damit Fragen der ländlichen Gesellschaft und Kultur in Südwestdeutschland. Es entsteht ein neues Bild des Landjudentums in seinen vielfältigen Kontakten zur christlichen Nachbarschaft und mit einem überraschenden Selbstbewusstsein. Das Buch analysiert u.a. die Aufnahme der Juden in den Schutz, die wirtschaftlichen Aktivitäten von Juden und Christen, ihr spannungsreiches Verhältnis zueinander, innerjüdische Verhältnisse sowie Fragen der jüdischen Religion. Dabei stehen immer die wechselvollen Schicksale einzelner Protagonisten im Vordergrund. |
Article from "The Encyclopedia of Jewish life Before and During the
Holocaust".
First published in 2001 by NEW
YORK UNIVERSITY PRESS; Copyright © 2001 by Yad
Vashem Jerusalem, Israel.
Muggensturm Baden. The Jewish
population in 1875 was 80. By 1939 the Jews of Muggensturm belonged to the Rastatt
community. The last three Jews were deported by the Germans in Worldwar II.
vorherige Synagoge zur ersten Synagoge nächste Synagoge
|