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in Worms
Weitere Textseiten zur jüdischen Geschichte in Worms
- Texte aus dem 19./20. Jahrhundert zur mittelalterlichen und
neuzeitlichen jüdischen Geschichte in Worms (diese Seite)
- Texte zu den Rabbinern und Lehrern
der jüdischen Gemeinde vom Mittelalter bis zum 20. Jahrhundert
- Berichte aus dem jüdischen Gemeinde-
und Vereinsleben im 19,/20. Jahrhundert
- Berichte zu einzelnen Personen aus der
jüdischen Gemeinde im 19./20. Jahrhundert
- Zum alten jüdischen Friedhof in Worms
("Heiliger Sand")
- Zum neuen jüdischen Friedhof in
Worms-Hochheim
Worms (kreisfreie
Stadt, Rheinland-Pfalz)
Texte/Berichte zur jüdischen Geschichte der Stadt
Hier: Texte aus dem 19./20. Jahrhundert zur mittelalterlichen und neuzeitlichen
jüdischen Geschichte in Worms
Vorbemerkungen: Die nachstehend wiedergegebenen Texte mit
Beiträgen zur jüdischen Geschichte in Worms wurden in jüdischen Periodika
gefunden. Sie geben teilweise nicht den aktuellen Forschungsstand wieder, doch
ist auch der Forschungsstand zur Zeit der Abfassung von Interesse.
Bei Gelegenheit werden weitere Texte eingestellt.
Die Texte dieser Seite wurden dankenswerterweise von Susanne Reber (Mannheim) abgeschrieben und
mit Links und Kommentaren versehen.
Viele der auf
der Seite abgedruckten Texte wurden verfasst von dem großen
Historiker der jüdischen Gemeinde in Worms, Samson Rothschild, der dieser
Seite vorangestellt werden soll.
Für Samson Rothschild (geb.
11. Januar 1848 in Külsheim, gest. 1939 in London; Foto links: Stadtarchiv Worms) wurde
in Worms ein "Stolperstein" verlegt (Haus Adenauerring 12), siehe
http://www.warmaisa.de/stolpersteine/rothschild-samson-1848-1939/ Samson
Rothschild war Lehrer, zunächst 1868 bis 1872 in
Grötzingen, danach ab 1872 in Worms (ab
1874 Hauptlehrer an der städtischen Volksschule bzw. der "Stadtschule Worms" -
als erster jüdischer Lehrer im Großherzogtum Hessen an einer städtischen
Volksschule - und Religionslehrer am
Gymnasium, aktiv in zahlreichen Ämtern der jüdischen Gemeinde Worms,
insbesondere als Gemeindearchivar und Historiker (war befreundet mit dem
Stadtarchivar Prof. August Weckerling); verfasste zahlreiche Texte zur jüdischen
Geschichte der Stadt und zu allgemeinen Fragen der Stadtgeschichte; bis 1933
eine in Worms ebenso bekannte wie geachtete Persönlichkeit; auch im allgemeinen
Leben der Stadt engagiert (Vorstandsmitglied der Musikgemeinschaft und
Liedertafel); im Alter von 91 Jahren im Februar 1939 nach London emigriert, wo
er am 10. Juni 1939 verstarb.
Übersicht:
| Allgemeine
Beiträge zur Geschichte der jüdischen
Gemeinde vom Mittelalter bis zum 18. Jahrhundert
- Über
die sagenhafte erste jüdische Ansiedlung in Worms (Beitrag von 1866)
- Die
Judenverfolgungen in den Städten Speyer, Worms und Mainz im Jahre 1096,
während des ersten Kreuzzuges - mit Übersetzung eines mittelalterlichen
Berichtes des Elieser ben Nathan Halevi aus Köln (Beitrag von Moses
Mannheimer, 1876)
- Fortsetzung
des Beitrages von Moses Mannheimer (Teil 2)
- Fortsetzung
des Beitrages von Moses Mannheimer (Teil 3)
- Erklärung
des Komitees zur Renovierung jüdischer Altertümer in Worms (1853)
- Zum
Stand der Bemühungen zur Renovierung jüdischer Altertümer in Worms (1853)
- Spendenliste
für Beiträge zur Renovierung der jüdischen Altertümer sowie Artikel
über "Raschi's Anwesenheit in Worms" (1853)
- Über
die jüdische Gemeinde in Worms - Bildung einer orthodoxen
Religionsgesellschaft auf Grund der Orgel in der Synagoge (Artikel von 1871)
- Über
die jüdische Gemeinde in Worms (Beitrag von 1885)
- Aus
dem Wormser "Maaseh-Nissim'-Buch (I. Die Geschichte von den zwei
Gästen, 1892)
- Aus
dem Wormser "Maaseh-Nissim"-Buch (II. Die Familie Dalberg, 1892)
- Aus
dem Wormser "Maaseh-Nissim"-Buch (Die Zaubergans, 1893)
- Zur
Geschichte der Juden von Worms und Speyer (Artikel von 1897)
- Zur
Geschichte der Juden in Worms - Buchbesprechung (1900)
- Zur
Geschichte der Juden in Worms (I. Die Zerstörung von Worms im Jahre 1689
und ihre Folgen, II. Wormser Flüchtlinge, a) Meir Eisenstadt; Artikel
von 1900)
- Zur
Geschichte der Juden in Worms (II. Wormser Flüchtlinge, b) Isack Blin;
Artikel von 1900)
- Zur
Geschichte der Juden in Worms (II. Wormser Flüchtlinge. c) Elieser
Libermann; Artikel von 1900)
-
Zur Geschichte der Juden in Worms (II. Wormser Flüchtlinge. d)
Samuel Sofer, e) Manlin See; Artikel von 1900).
- Zur
Geschichte der Juden in Worms (II. Wormser Flüchtlinge. f) Rafael Durlach,
g) Samuel Schwob, h) Jehuda Löb Menz; Artikel von 1900)
-
Zur Geschichte der Juden in Worms (II. Wormser Flüchtlinge, Schluss; Artikel
von 1900)
-
Hinweis auf einen publizierten Vortrag von Benas Levy über die Juden in
Worms (1914)
- Vorstellung
des Buches von Samson Rothschild über "Die Abgaben und die Schuldenlast
der Wormser jüdischen Gemeinde 1563-1854" (1926)
- Gedenkfeier:
200 Jahre Zerstörung der Stadt durch die Franzosen im Jahr 1689
(1889)
- Zur
Geschichte der Wormser jüdischen Gemeinde (1911)
- Gedruckter Vortrag über "Die Juden in Worms"
von Benas Levy (1914)
- Über
die Wormser Juden während der Zerstörung der Stadt durch die Franzosen
1689 (Artikel von 1925)
- Über
ein Kollektenbüchlein von 1698 mit einem Spendenverzeichnis für den
Wiederaufbau des 1689 zerstörten Worms (Artikel von 1891)
- Über
den Wormser Judenrat im 17. Jahrhundert (Artikel von 1938)
- Aus
einem Reisebericht aus dem 18. Jahrhundert: Besuch im jüdischen
Worms (1885)
- Im
Nationalmuseum in Washington befinden sich auch Gegenstände aus Worms
(1890)
- Zum
300-jährigen Bestehen der Raschikapelle (1924)
- Fahrt
des Jüdischen Turnerbundes aus Frankfurt nach Worms (1927)
- Zu Besuch in Worms (1929)
- Ausflug
von Frankfurt auf den Spuren von Raschi in Worms (1930)
- Leserbrief
zum Bericht auf den Spuren von Raschi in Worms (1930)
- In
Worms wurde eine zweite mittelalterliche Mikwe freigelegt (1930)
- Über
eine Worms-Fahrt der Vereinigung ehemaliger Schüler und Schülerinnen der
Samson Raphael Hirsch-Schule Frankfurt (1931)
- Neue
Publikation zur Geschichte der Stadt Worms (1932/1934)
- Artikel
über "Das jüdische Worms und seine Sehenswürdigkeiten" (1933)
|
Allgemeine
Berichte zur Geschichte der jüdischen Gemeinde vom Mittelelter von zum 18.
Jahrhundert
Über die sagenhafte erste jüdische Ansiedlung in Worms (Beitrag von 1866)
Anmerkung: mehrere Sagen berichten von ersten Ansiedlungen von Juden in Worms
zur römischen Zeit oder sogar noch davor. Es ist zwar durchaus möglich, dass
in dem bereits zur Römerzeit bedeutenden Ort Juden lebten, doch gibt es keine
schriftlichen Nachweise. Die nachfolgende Sage ist dem ca. 1865 erschienenen
Buch von August Hermann Bernard: Eine Sammlung von Rhein-Sagen entnommen.
Erschien in 2. Auflage in Mainz ca. 1865.
Artikel in der Zeitschrift "Der Israelit"
vom 13. Juni 1866: "Die erste jüdische Kolonie zu
Worms.
(Aus A. H. Bernard's 'Rheinsagen'). Unter den römischen Truppen, welche Jerusalem zerstörten, befand sich
auch ein Herr von Dalberg, dessen Stammschloss in Hernsheim bei
Worms noch heute von den Nachkommen bewohnt wird. - Freilich ist dasselbe
im Laufe der Zeit nach und nach umgebaut, vergrößert und verschönert;
doch für das Folgende ist der Ort genügend, da die Sage sich nicht an
das Schloss und dessen Schicksale bindet. Obengenannter Dalberg war Centurio und empfing als Beuteanteil nach dem
Sturme eine Anzahl jüdischer Gefangenen, welche er nach seiner Heimat
verbringen ließ, dass sie sich daselbst ansiedelten. Es waren dieses die ersten Juden in Deutschland.
Schmerzlich war der Abschied der durch das leidige Kriegsunglück ihrer
Habe und Heimat Beraubten. - Um jedoch nicht allen Erinnerungen an
letztere entbehren zu müssen, füllten sie in frommer Verehrung Säcke
mit Erde und nahmen diese als heilige Reliquien in die Fremde mit, auf
dass nach ihrem Tode die Heimaterde wenigstens ihren Leib
aufnehme.
Unter den Fortgeführten zeichnete sich ein Greis aus, der an der Hand
seiner lieblichen und in reiner Unschuld strahlenden Tochter in die
traurige Fremde wankte. - Er war ein weiser Mann, von starkem
Gottvertrauen, und er, wie seine Tochter, flößten mit Rat und Tat den
jammernden Glaubensgenossen neuen Mut und Hoffnung ein, durch Hinweisung
auf die Allmacht Gottes. Einen schöneren Gegensatz, als den Greis
an der Hand der Jungfrau, konnte man sich nicht denken; es war, als wandle
der gereifte Herbst an der Hand des keimenden Frühlings, und so
ehrfurchterweckend war die heitere Ruhe, die Beide umgab, dass selbst die
Kriegsknechte während der langen Fahrt freundlicher wurden und ihre rohen
Scherze zurückhielten. |
Nicht
lange nach der Ankunft der Juden in Worms traf Dalberg ebenfalls daselbst
ein, um auf seinem Stammgute sich von den Strapazen des jüdischen Krieges
zu erholen. - Bei dieser Gelegenheit kamen die Nachbarn und Freunde, um
seine Erlebnisse und diejenigen des Heeres aus seinem Mund zu vernehmen,
und Jagden, Bankette und Unterhaltungen aller Art wechselten im reichen
Kranze ab.
Unter den Gästen, welche sich am häufigsten auf dem Schlosse des
Centurio bemerklich machten, war ein römischer Kriegsmann, der einer in
Mainz zur Grenzwacht gegen die Deutschen stationierten Kohorte zugeteilt,
reich und angesehen und mit Dalberg schon seit längerer Zeit innigst
befreundet war. Er war ein Lebemann erster Klasse und sah nicht sobald die
schöne und durch das Kriegsunglück Interesse erweckende Jüdin, als er
auch sofort überlegte, wie er am besten in ihren Besitz sich setzen
könne.
Sie Dalberg abzukaufen, ging nicht an, da derselbe hiervon nichts wissen
wollte. Ein Mittel blieb ihm nur, sie zu entführen, und er hatte kaum
daran gedacht, als er auch schon entschlossen war, es anzuwenden.
In der Nähe von Mainz in einem dichten Forste versteckt, bereitete er
einen Zufluchtsort, ritt dann gegen Worms, wo er unerkannt der Jungfrau
nachspähte, und als sie einmal Wasser schöpfte, sie ergriff und trotz
ihres Stäubens, mit ihr auf das Pferd sprang und davon jagte.
Nichts sparte der Römer, um das Mädchen sich geneigt zu machen.
Zärtliche Worte und prächtige Geschenke wechselten ab, aber nichts
konnte sie veranlassen, von dem Pfade der Tugend abzuweichen, und immer
mehr und mehr härmte sie sich in Sehnsucht nach ihrem Vater ab.
Der Römer, den des Mädchens Starrsinn, wie er es nannte, endlich anfing
ungeduldig zu machen und der auch von den Nachforschungen wusste, die man
nach der Entführten anstellte, beschloss eines Abends, in Güte oder mit
Gewalt zum Ziele zu kommen.
Aus einer lustigen Bacchanalie, die er mit einigen Freunden gefeiert
hatte, eilte er weinselig zu seiner Gefangenen und begann wieder seine
Lockungen, die aber ebenso wie alle anderen zurückgewiesen
wurden.
'Du entgehst mir doch nicht, kleine Spröde', lachte er, aufgeregt von
Wein und Leidenschaft, haschte sie und suchte ihre Lippen mit seinen
Küssen zu bedecken; das Mädchen aber entrang sich ihm und als er immer
mehr und mehr aufgeregt sie zu bestürmen fortfuhr, wobei seine
Leidenschaft sich drohend erhitzt, warf sie sich auf die Knie und rief
Gott zum Schutze an.
'Zum Orcus mit deinem....' - rief der Römer. 'Mein musst du sein
und sollte der Himmel brechen.' Er warf sich hierbei auf die
Widerstandslose und wollte eben mit rohen Händen sie ergreifen, als unter
grollendem Getöse ein flammender Sein niederstürzte und ihn tödlich
traf. Das Mädchen war gerettet, doch als sie das Werkzeug der
Rettung staunend ansehen wollte, strahlten ihr von demselben die Züge des
heiligen Gottesnamens in so herrlichem Glanze entgegen, dass sie
erblindet.
Dalberg und ihr Vater fanden endlich die erblindete, aber durch die
Prüfung nur noch lieblicher gewordene Jungfrau, und als man aus ihrem
Munde den Sachverhalt vernahm, staunten sie und schauten den Stein voll
Ehrfurcht an, in dem der heilige Gottesname in hebräischer Sprache
eingegraben stand, aber ohne den Glanz, der das Mädchen geblendet
hatte.
Die Geprüfte und ihr greiser Vater starben wenige Monden nach diesem
Vorfalle kurz nacheinander. Sie waren die Ersten, welche in den
heimatlichen Boden bestattet wurden.
Der Stein aber soll später die Decke der Synagoge in Worms geschmückt
haben.
Bemerkenswert ist, dass noch heute auf der Begräbnisstätte der Juden in
Worms ein Platz vorhanden ist, an dem die aus Juda mitgebrachte Erde
aufgeschüttet sein soll." |
Die
Judenverfolgungen in den Städten Speyer, Worms und Mainz im Jahre 1096,
während des ersten Kreuzzuges - mit Übersetzung eines mittelalterlichen
Berichtes des Elieser ben Nathan Halevi aus
Köln (Beitrag von Moses Mannheimer, 1876)
Anmerkung: der Beitrag von Moses Mannheimer wurde später nochmals aufgelegt,
vgl. https://www.amazon.de/Judenverfolgungen-Speyer-W%C3%A4hrend-Ersten-Kreuzzuges/dp/0332483851
Artikel in der "Allgemeinen Zeitung des Judentums"
vom 9. Mai 1876: "Die Judenverfolgungen in den Städten Speyer,
Worms und Mainz im Jahre 1096, während des ersten Kreuzzuges.
Aus einem hebräischen Manuskripte übertragen von Moses Mannheimer,
emeritierter Rabbinatsverweser in Darmstadt
Die Geschichte der Kreuzzüge ist bis jetzt noch nicht vollständig nach allen
ihren Beziehungen aufgehellt, so sehr auch emsige Forscher bemüht waren,
alles einschlägige, ihnen zu Gebote stehende Material zu sammeln, zu sichten
und daraus ein vollständiges, alles Bedeutsame umfassendes Bild zu schaffen.
Am wenigsten ist dies aber der Fall bei demjenigen Teile derselben, der die
Judenverfolgungen betrifft, ungeachtet Letztere große blühende Gemeinden mit
barbarischer Grausamkeit gänzlich vernichteten und auch mit den allgemeinen
politischen Verhältnissen Deutschlands in einigem Zusammenhange standen. Im
Mittelalter hat die mündliche Überlieferung die Stelle der Aufzeichnung
versehen. Sie hat in Familien und Gemeinden wie Taten und Begegnisse der
Väter, einige Generationen hindurch, frisch und lebendig erhalten, bis sie
sich allmählich trübte und dann erlosch. Das Aufzeichnen derselben und das
hinlänglich wiederholte Abschreiben des Aufgezeichneten war nicht allgemein
verbreitet, nicht genug im Gebrauch und Übung; daher fließen die
Geschichtsquellen von damals außerordentlich dürftig. –
Von den rubrizierten (= katalogisierten, aufgezeichneten)
Verfolgungen der damals bedeutendsten jüdischen Gemeinden waren kaum einige
fragmentarische Berichte zu uns gelangt. Nur eine eigentlich interne
Geschichtsquelle ist uns aufbewahrt geblieben, das ist die von Dr. Jellinek
(vgl.
https://de.wikipedia.org/wiki/Adolf_Jellinek) zum ersten Male
(Leipzig 1854) edierte Konteros tatnu (Anmerkung 1) 'Bericht
über die Leiden des Jahres 1096' von Elieser ben Nathan Halevi aus Köln (vgl.
https://en.wikipedia.org/wiki/Eliezer_ben_Nathan). Da jedoch der
Verfasser in Köln wohnte, so hat er über die dortige Verfolgung, deren
Augenzeuge er war, ausführlicher berichtet als über die, welche in Speyer,
Worms und Mainz stattgefunden hat. Hinsichtlich dieser Städte, die noch den
ersten Anprall der vertierten Blutmenschen auszuhalten hatten, ist sein
Bericht lückenhaft. Auch die Poetanen (Anmerkung 2) (Poeten),
die in synagogalen Dichtungen die Leiden der Gemeinden und ihren darüber
empfundenen tiefen Schmerz ausdrückten, konnten doch nur für ihren Zweck
einzelne Züge aus der Reihe der Begebenheiten hervorheben, und da dieselben
in ein poetisches Gewand gekleidet waren, so konnte der Leser oder Beter
leicht versucht sein, in ihnen anstatt Wahrheit nur hyperbolische
Redefiguren zu erblicken. – Unter diesen Umständen muss es uns willkommen
sein, wenn hier und da noch irgendein altes Manuskript zum Vorschein kommt,
das uns von Details Kunde bringt, die uns bis jetzt nicht bekannt waren, und
die zur Berichtigung und Ergänzung der historischen Darstellung einen
Beitrag liefern. Zu einem solchen bin ich dieser Tage gelangt. Dasselbe
enthält in hebräischer Sprache einen ziemlich ausführlichen Bericht über die
1096, während des ersten Kreuzzuges in Speyer, Worms und Mainz,
stattgefundenen schrecklichen Judenverfolgungen und ich fühle mich
verpflichtet, denselben, ins Deutsche übertragen, in dieser geschätzten
Zeitung der Öffentlichkeit zu übergeben. Dieses Manuskript befindet sich im
Besitze der Großherzoglichen Hofbibliothek (Anmerkung 3)
dahier. Vor kurzem hatte Herr Hofbibliothekar Dr. Maurer die Güte, mich
darauf aufmerksam zu machen. Es bildet ein aus ungefähr 100
Pergamentblättern zusammengeheftetes Buch, im Quartformat; ohne Einband. Der
Anfang, darunter das Titelblatt, fehlt. Es scheint durch einen Brand
geschädigt worden zu sein. – Den Namen des Verfassers sowie die Zeit, wann
er gelebt hat, habe ich bis jetzt noch nicht genau ermitteln können. – Die
darin behandelten, verschiedenen Materien scheinen übrigens verschiedenen
Verfassern (Anmerkung 4) zu verschiedenen Zeiten anzugehören.
– Die ersten 11 Blätter enthalten scharfsinnige Dezisionen, verbunden mit
kurzen Erörterungen über die jüdischen Trauergebräuche, wie diese nämlich in
besondern Verhältnissen und Umständen anzuwenden seien; die folgenden 4
Blätter umfassen eine Betrachtung über den damals erwarteten Messias und den
Krieg des Gog Magog (vgl.
https://de.wikipedia.org/wiki/Gog_und_Magog) und daran schließt sich
auf den nachfolgenden 4 Blättern der Bericht über die Verfolgungen während
des ersten Kreuzzuges. Die auf diesen 19 Blättern angewandte und sich stets
gleichbleibende Schriftart ist eine ganz eigentümlich aus mehreren
Schriftarten zusammengesetzte. Manche Buchstaben haben die Form der
Quadratschrift (vgl.
https://de.wikipedia.org/wiki/Quadratschrift (ktaw meruba =
Quadratschrift) , andere kommen der sogenannten Kurrentschrift (vgl.
https://de.wikipedia.org/wiki/Deutsche_Kurrentschrift) sehr nahe,
bildeten vielleicht ehedem einen Übergang zu dieser. – Ich werde nun mit der
Wiedergabe des Inhalts des Berichts beginnen; jedoch werde ich alle darin
vorkommenden, wenn auch mit den stattgefundenen Gräueltaten entschuldbaren
Ausdrücke übergehen.-
Im Jahre 1028 (Anmerkung 5) nach der Zerstörung des Tempels
kamen Verhängnisse über Israel. Es erhoben sich nämlich in Frankreich
Herren, Ritter, Grafen und Fürsten, und das gemeine Volk, und berieten sich
zusammen und fassten den Entschluss, sich kämpfend Bahn zu machen und nach
Jerusalem zu wallen, zum Grabe Christi. – Und sie sprachen zueinander:
'Seht, wir wagen unser Leben, um zu streiten mit Königen der Erde, und zu
morden und zu zertrümmern solche Reiche, die nicht an Christus glauben –
seht doch, da die Juden, die ihn gekreuzigt haben – entweder sie müssen sich
zu ihm bekennen oder wir vertilgen sie von Kind bis Säugling.'
(Anmerkung 6). Und sie hefteten das Zeichen des Kreuzes an ihre
Kleider (Anmerkung 7) und setzten Helme auf. – Und als dies
die Gemeinden in Frankreich hörten, wurden sie von Entsetzen ergriffen. Sie
sandten sofort Boten mit Briefen an die Gemeinden in den Rheingegenden, dass
sie noch fasten und den, der in der Höhe thront, bitten möchten, dass er sie |
retten
wolle aus der Hand ihrer Verfolger. Und als ein solches Schreiben bei den
gottesfürchtigen berühmten Männern in Mainz (Anmerkung 8)
anlangte, schrieben sie den jüdischen Gemeinden Frankreichs folgende
Antwort: 'Alle Gemeinden (nämlich am Rhein) haben Fast- und Bußtage
angeordnet. Wir tun das Unsrige. Gott möge Euch retten aus aller Not und
Bedrängnis. Wir sind Euretwegen sehr in Ängsten. Was jedoch uns anbelangt,
so haben wir kaum etwas von der Sache gehört.' (Anmerkung 9)
Und als die Irrenden (Anmerkung 10)anfingen, hereinzukommen in
dieses Land (Anmerkung 11), da verlangten sie Geld, um Brot zu
kaufen. Wir gaben es ihnen. Wir dachten über uns nach - betrübten
(Anmerkung 12) sie doch den König überall und lebten! All dies half
uns aber nichts – unsere Sünden verursachten es - denn die Städter
(Anmerkung 13) in jener Stadt, wohin die Irrenden kamen, reizten
diese wider uns auf, standen ihnen bei, um Weinstock und Wurzel auf dem
ganzen Wege bis Jerusalem auszurotten. – Als nun eine sehr große Schar der
Irrenden angelangt war, da sprachen einige der Herren (Vorgesetzte, Ritter,
Grafen etc.), welche in diesem Königreich sich befanden: 'Warum bleiben wir
so müßig? Lasst uns mit ihnen ziehen! Denn ein Jeder, der diesen Weg geht
und sich den Strapazen und Mühen der Reise unterwirft, um zum Grabe des
Nazareners zu gelangen, ist zur Seligkeit im Paradiese bereit und bestimmt.'
Und die versammelten sich, die Irrenden und sie (die Städter), sowohl Herren
als gemeines Volk aus verschiedenen Provinzen, bis sie so viel als Sand am
Meer waren, und ließen bekanntmachen: 'Wer einen Juden tötet, dessen Sünden
sollen vergeben sein.' – Auch ein Pechach (Anmerkung 14)
(Ritter, Graf, Bischof etc.) war da, der Dithmar (Anmerkung 15)
hieß. Dieser sagte, er gehe nicht aus diesem Königreiche hinaus, bis er
einen Juden getötet hat, nur dann werde er gehen seines Wegs. – Und es
geschah als die Gemeinde zu Mainz dieses alles hörte, das schrien sie
gewaltig zu Gott, verbrachten Tag und Nacht im Fasten und Beten, auch
Klagelieder rezitierten sie, und dennoch hat sich Gottes Zorn nicht von uns
gewandt. Vielmehr kamen die Irrenden mit ihren Zeichen herbei, stellten sich
vor unsern Häusern auf, und erblickten sie einen von uns, liefen sie ihm
nach und stachen ihn mit Spießen, sodass wir nicht mehr unsre Türschwelle zu
überschreiten wagten. – Und es geschah am 8. des Monats Adar (Anmerkung
16), an einem Sabbath, da fing das schreckliche Verhängnis uns zu
treffen an. Da standen nämlich die Irrenden und die Städter zuvörderst gegen
die heiligen Männer der Gemeinde Speyer auf. Sie fassten den Entschluss, die
Juden alle in der Synagoge zu ergreifen und als sie sahen, dass ihr
Ratschluss vereitelt war, indem die Juden in der Frühe die Synagoge besucht,
daselbst eilends gebetet und sie schnell verlassen hatten, da fielen sie
über dieselben außerhalb der Synagoge her und töteten 11 Personen. Als aber
der Hegemann (Anführer, Herr, Bischof) Johann (vgl.
https://de.wikipedia.org/wiki/Johannes_I._(Kraichgau)) es hörte, kam
er mit Mannschaft herbei, um der Gemeinde Hilfe zu leisten. Viele Juden
brachte er in seine Gemächer, um sie vor der Mörderbande zu schützen. Einige
von den Städtern (Anmerkung 17) ließ er ergreifen und ihnen
die Hand abhauen. Durch ihn hat uns Gott Rettung gebracht. Auch lebte
daselbst ein Gemeindevorsteher: Rabbi Moses ben Jekuthiel. Dieser setzte
sein Leben für seine Brüder ein und bewirkte, dass die zur Taufe
Gezwungenen, welche noch hier und da im Königreiche Heinrichs vorhanden
waren, zu ihrer Religion zurückkehrten. Und auf Anordnung des Königs hat der
Bischof Johann sie in Burgen, feste Plätze gebracht, bis die Feinde Gottes
vorüber waren. Daselbst fasteten, weinten und beteten sie stets; sie waren
auch ihres Lebens überdrüssig; denn täglich sammelten sich ihre Feinde – und
Emmichen (Anmerkung 18, vgl.
https://de.wikipedia.org/wiki/Emicho_(Kreuzfahrer)) war bei ihnen -
um sie zu ergreifen und sie auszutilgen (Anmerkung 19)- Also
durch von Bischof Johann, der keine Bestechung annahm, dessen Herz vielmehr
Gott erfüllte – er war ein sehr frommer Mann – brachte Gott uns Rettung.
Anmerkungen des Einsenders
1) TTNW: Diese 4 hebräischen Buchstaben bedeuten als Zahlzeichen
856, d.h. das 856ste Jahr des fünften Jahrtausends nach Erschaffung der
Welt, das ist 1096 n. Chr.
2) In der Klag- und Bußliedersammlug (Selichot) rührt die bekannte Selicha (hebräisch
und deutsch:) 'Die Stimme ist Jakobs Stimme' von Kalonymos ben
Jehuda (vgl.
https://de.wikipedia.org/wiki/Kalonymiden) her. Da es aber 2 Kalonymos
ben Jehuda gab, einen in Mainz und einen in Speyer, so ist's nach Ansicht
des Herrn Dr. Grätz zweifelhaft, wer von beiden der Verfasser dieser Selicha
sei. Da aber in dem von mir entdeckten Manuskript der Mainzer Vorgänge
solche eigentümlichen Bezeichnungen von Jammerszenen vorkommen, die sich
wörtlich in der erwähnten Selicha wiederfinden, so ist es mir fast gewiss,
dass Letztere die Klagetöne und Seufzer eines Leidensgenossen und
Augenzeugen in Mainz enthält und einen solchen zu ihrem Urheber hat.
3) Die Großherzogliche Hofbibliothek (heute Stadtbibliothek Worms)
dahier ist eine der größten Deutschlands. Ihre Verwaltung ist gegenwärtig
unter der ein- und umsichtsvollen Direktion des Herrn Geheimrat Dr. Walter
eine ausgezeichnete. Die Anschaffung neuer Werke wird allen Gebieten des
Wissens, auch dem rabbinisch-talmudischen, gebührende Rechnung getragen.
4) Die Dezisionen können nicht früher als gegen das Ende des 13ten
Jahrhunderts verfasst worden sein; denn ihr Verfasser zitiert außer anderen
Autoritäten aus der Tosaphisten-Schule (vgl.
https://de.wikipedia.org/wiki/Tosafot) auch den berühmten Rabbi Meier
ben Baruch aus Rothenburg, bekannt unter dem Namen Maharam. Er führt
nur seine mündlichen Aussprüche an und scheint ein Schüler von ihm gewesen
zu sein. Rabbi Meiers Lehrhaus blühte aber erst in der zweiten Hälfte des
13ten Jahrhunderts; er wurde 1286 nach dem Schloss
Ensisheim im Elsass gebracht, wo er in
Gewahrsam blieb, bis er 1293 starb; seine Leiche wurde aber erst 1304 nach
Worms gebracht und dort begraben. Bei Abfassung der Dezisionen war Rabbi Meïer
schon gestorben, denn der Verfasser fügt bei dessen Namensnennung immer
(Hebräisch) hinzu, womit man nur einen Toten ehrte. - Dass er das von Ascher
ben Jechiel, Rabbiner zu Toledo (vgl.
https://de.wikipedia.org/wiki/Ascher_ben_Jechiel) (starb 1327) verfasste
Hauptwerk für talmudische Gesetzeskunde, bekannt unter dem Namen Rosch
nicht kannte, geht daraus hervor, dass er ihn nie anführt, was jedoch nicht
auffällig sein kann, wenn man erwägt, dass 50 Jahre nach dem Tode des |
Rabbi
Ascher, dessen Schriften noch etwas Seltenes in den Rheingegenden waren
(Leopold Zunz: Zur Geschichte und Literatur, S. 211
Link zur Seite). – Der Verfasser der Betrachtung über den Messias
kann spätestens, da er die Ankunft desselben noch vor Ablauf des 5ten
Jahrtausends nach Erschaffung der Welt erwartete, im Anfange des 13ten
Jahrhunderts gelebt haben. Wann der Verfasser des Berichts über die
Verfolgungen gelebt hat, lässt sich nicht genau bestimmen.- Die Schrift
dieser drei verschiedenen Geisteszeugnisse kann nur, da sie sicher vor einer
und derselben Hand herrührt, entweder vom Verfasser der Dezisionen oder, was
mir wahrscheinlicher ist, von einem Abschreiber (Kopisten) geschrieben
worden sein.
5) Hier ist wieder ein Beispiel, dass im Mittelalter öfters nach der
Tempelzerstörung gezählt wurde. Die Vermutung des Herrn Dr. Grätz
(Geschichte der Israeliten, Band IV), dass das rätselhafte 2. Datum an der
Synagoge zu Worms, welches die Erbauung derselben in das Jahr 946 verlegt,
von der Zerstörung des Tempels an gerechnet wäre, ist demnach wohlbegründet.
6) Im Hebräischen ist dies ein bildlicher Ausdruck in der Bedeutung von
Alles. In der Tat aber schonten die Unmenschen auch die Säuglinge nicht.
In Schlossers Weltgeschichte Band V wird von den Kreuzfahrern, welche am 15.
Juli 1099 Jerusalem eroberten, berichtet: 'Die ganze Nacht hindurch wurden
die Moslemen gewürgt. Man metzelte alle Ungläubigen nieder und schonte nicht
einmal die Säuglinge.'
7) Schti waErew habe ich mit Kreuz übersetzt. Wörtlich heißt Schti
Aufzug (Zettel) und Erew heißt Durchschlag. Das Bild ist vom Gewebe
hergenommen und bezeichnet etwas, das sich kreuzt. Talmud Chullin 109b (hebräisch
und deutsch:) 'Er zerreißt es (das Herz) in Länge und Breite.'
8) Seit Anfang des elften Jahrhunderts wurde
Mainz als der Sitz talmudischer Gelehrsamkeit angesehen. Diesen Ruf
hatte es wesentlich den ausgezeichneten Leistungen des eine lange Reihe von
Jahren daselbst in Wort und Schrift lehrenden Rabbi Gerschom ben Jehuda
(vgl.
https://de.wikipedia.org/wiki/Gerschom_ben_Jehuda) zu verdanken, den
man die Leuchte des Exils nannte, um anzudeuten, wie viel man ihm zu
verdanken habe. Die von ihm gegründete Talmudschule wurde auch von Raschi
besucht. Von seinen Anordnungen, die zu allgemeinen Annahmen gelangten,
waren 3 besonders wichtig: 1) die gänzliche Abschaffung der Polygamie, eine
Verordnung, welche auch die mosaische Levirats-Ehe (vgl.
https://de.wikipedia.org/wiki/Levirat) berührte; 2) dass eine Frau
ohne ihre Einwilligung der Scheidebrief (vgl.
https://de.wikipedia.org/wiki/Scheidebrief) nicht behändigt werden
dürfe, und 3) das Briefgeheimnis, welches zu brechen bei Strafe des Bannes
verboten war. Dies ist umso notwendiger gewesen, als damals die Briefe durch
Boten übermittelt wurden.-
9) Diesen den Ereignissen vorangegangene und den damaligen Verhältnissen
angemessene Briefwechsel zwischen Mainz und den bedrohten Gemeinden ist,
meines Wissens, noch in keinem anderen Berichte erwähnt worden.
10) Hato'im Die Irrenden. So pflegten die Juden des Mittelalters die
Kreuzritter zu nennen. Leopold Zunz, Zur Geschichte und Literatur, S. 182 (Link
zur Seite), übersetzt 'die Herumirrenden', wahrscheinlich von ihrem
unsteten Umherziehen. Mir scheint es aber, dass man dabei auch an ihre
irrigen Ansichten und Neigungen dachte, daher übersetze ich 'die Irrenden'.
11) Damals begriff man unter dem Lande Lothringen auch noch die Gegenden des
linken Rheinufers und die Gelehrten in Speyer, Worms und Mainz nannte man
die Gelehrten Lothringens.
12) Die Stelle lautet: Awru et melech wechiu. Sie ist schwierig,
scheint aber folgenden Sinn zu haben: Im damaligen heftigen Streit zwischen
dem Papst Urban II. (vgl.
https://de.wikipedia.org/wiki/Urban_II.) und König Heinrich IV von
Deutschland (vgl.
https://de.wikipedia.org/wiki/Heinrich_IV._(HRR)), haben solche
gewiss das Kreuz nicht genommen, welche Letzterem treu gesinnt waren. Lag
doch dem Papste bei seiner an die Völker ergangenen Aufforderung, einen
Kreuzzug gegen die Sarazenen zu unternehmen, die offenbare Absicht am
Herzen, die Völker unter päpstlicher Hierarchie zu vereinigen und dadurch
die Macht des Königstums zu schwächen! - So finden wir denn auch, dass die
ihm Jahre 1091 der jüdischen Gemeinde zu Speyer vom König Heinrich IV
ausgestellte, den Juden höchst günstige Urkunde von der kreuzzüglerischen
Schar verhöhnt und missachtet wurde.- Unsre Stelle will demnach fragen, sie
konnten den König missachten, ohne das Leben zu verwirken.-
13) Ironim Stadtbewohner, Städter. Der Verfasser hat von Ir (=
Stadt) ein Denominaticum gebildet, wie von Schilo - Schiloni. - Doch
hat sich nur ein Teil der Städter mit den Kreuzzüglern verbunden, das
räuberische Gesindel; die andern blieben gleichgültig oder standen öfters
den Juden noch bei. Woher hätte denn der Bischof Johannsen die Mannschaft
erhalten können, mit welcher er gegen die Angreifenden einschritt, als aus
der Mitte der Städter?
14) Pächa heißt eigentlich Statthalter, der Verfasser scheint aber
Ritter, Grafen etc. so benannt zu haben, wie sie meistens ihre Besitzungen
zu Lehen (vgl.
https://de.wikipedia.org/wiki/Lehnswesen) hatten, demnach als
Statthalter angesehen werden konnten.
15) Die Geschichte der Kreuzzüge erzählt nichts von einem Dithmar,
demungeachtet kann derselbe noch existiert und das getan haben was hier
berichtet wird. Einen Adhemar von Puy (vgl.
https://de.wikipedia.org/wiki/Adhemar_de_Monteil) gab es, der zuerst
auf der Versammlung zu Clermont das Gelübde des Kreuzes ablegte und könnte
hier ein Schreibfehler eingeflossen sein. - Es ist merkwürdig, dass sowohl
in diesem wie in manchem anderen jüdischen Berichte nichts von Peter von
Amiens (vgl.
https://de.wikipedia.org/wiki/Peter_der_Einsiedler) erwähnt wird.
Sollte dies nicht, wenn auch nur eine sekundäre Bestätigung der Behauptung
des Herrn Heinrich von Sybel in seiner Geschichte des ersten Kreuzzuges
sein, dass nämlich die Erzählung, Peter von Amiens habe zuerst den Papst
Urban II. und dann die Völker zur Unternehmung des Kreuzzuges aufgerufen,
nur eine Sage sein, die der geschichtlichen Wahrheit entbehre? Man wollte
die Askese verherrlichen und an dem Eremiten Peter zeigen, wessen sie
gewürdigt werde und welche Taten sie zu vollbringen im Stande sei. – In
Wahrheit aber sei es der Papst gewesen, der den Impuls zu diese großen
Völkerbewegung gegeben habe. – Herr Dr. Grätz hat in seiner Geschichte der
Juden (Band IV, S. 95) die gewöhnliche Meinung über Peter von Amiens
beibehalten.
16) Hier steht bejom chet bechodesch adar bejom haschiwa, während
nach Grätz im Berichte des Rabbiners Elieser Ijar steht (sc. zwei
unterschiedliche Monatsangaben). Möglich, dass hier ein Schreibfehler
vorhanden ist.
17) Nach Grätz waren es Wallbrüder, nach unserem Berichte aber Städter, die
Bischof Johann bestrafen ließ. Die Angabe unseres Berichts ist
wahrscheinlicher, indem über die Wallbrüder der Bischof schwerlich eine
Jurisdiktion besessen hat.
18) Lehaschmid otam kann ebenso gut bedeuten: 'Sie zu töten', als
durch Verlassen ihrer Religion sie aus der Gemeinde 'zu tilgen'.
19) Dieser Emmichen oder Emigo, Graf von
Leiningen war ein gewissenloser, blutdürstiger Wüterich. (Fortsetzung
folgt) . |
Fortsetzung
des Beitrages von Moses Mannheimer (Teil 2)
Artikel in der "Allgemeinen Zeitung des Judentums"
vom 16. Mai 1876: "(Fortsetzung)
Und es geschah, als in Worms die Nachricht angelangt, dass ein Teil der
Speyer’schen Gemeinde getötet worden war, da schrien sie zu Gott und weinten
bitterlich; denn sie sahen ein, dass vom Himmel ein böses Verhängnis über
sie beschlossen, dem sie nicht ausweichen konnten, weder nach vorwärts noch
nach rückwärts. Und die Gemeinde teilte sich in zwei Abteilungen: Die einen
flohen zum Bischof (vgl.
https://de.wikipedia.org/wiki/Johannes_I._(Kraichgau)), in dessen
Schlösser und Burgen, und die anderen blieben in ihren Häusern, vertrauend
auf die Zusicherung der Städter, die zu ihnen gesagt hatten: 'Fürchtet Euch
nicht vor ihnen (den Kreuzfahrern); denn wer einen von Euch tötet, der werde
mit dem Leben bestraft.' Allein die Versicherungen der Städter waren Worte
der List und Falschheit, geknicktem Rohre gleich, das die Hand beschädigt,
die sich darauf stützt. Sie standen den Herumirrenden bei, um uns Namen und
Überrest auszutilgen. Auch entfliehen ließen sie sie (die Jehudim =
Juden) nicht; denn die Mitglieder (Anmerkung 1) der Gemeinde hatten
ihnen ihr Gold zur Aufbewahrung gegeben, darum haben diese sie überliefert (gemeint:
ausgeliefert; nämlich den Wallfahrern). –
Und es geschah am 10. Ijar (Anmerkung 2) = 5. Mai 1096, an einem
Sonntag, da fassten sie listige Anschläge. Sie holten einen schon 30 Tage
lang begrabenen Leichnam herbei, trugen ihn in der Stadt umher und riefen
aus: 'Seht, was die Juden in unserer Nachbarschaft getan haben! Sie haben
einen Christen im Wasser gebrüht und dasselbe in unsere Brunnen geschüttet,
um uns zu töten.' Und als die Umherirrenden und Städter dies hörten, da
erhoben sie einen gewaltigen Lärm, versammelten alle Waffentragenden und
sprachen: 'Jetzt ist die Zeit gekommen, den zu rächen, den ihre Väter
gekreuzigt haben. Nun soll keiner von ihnen übrig bleiben, selbst Säuglinge
nicht in ihren Betten (Wiegen).' Und sie drangen in die Häuser und
erschlugen die, welche sich darin befanden: Greise und Greisinnen, Jünglinge
und Jungfrauen, sogar Knechte und Mägde. Alle ließen sich töten, zur
Heiligung des göttlichen Namens, des furchtbaren und ewigerhabenen, der da
herrscht in der Höhe und in der Tiefe. Er war und ist, ewiger Zebaoth ist
sein Name. Er ist gekrönt mit den Regeln (Gesetzen) der 72 Namen
(Anmerkung 3). Er schuf die Thora 974 Geschlechter (Zeitalter) vor der
Erschaffung der Welt. Und 20 Geschlechter vergingen von der Erschaffung der
Welt an bis auf Moses, den Vater der Propheten, durch welchen die heilige
Thora uns geworden ist. Und dieser Moses war herbeigekommen und hat in
dieselbe hineingeschrieben: 'Dem Ewigen hast du kundgetan, sein Volk bleiben
zu wollen.' Auf ihn und seine heilige Thora wurden sie wie Ochsen geschlagen
und auf öffentlichen Plätzen und in Straßen umhergeschleift, wie Schafe zur
Schlachtbank geschleift werden. Sie lagen da nackt, denn sie (ihre Mörder)
hatten sie entkleidet und nackt liegen lassen. -
Als nun die Übriggebliebenen ihre Brüder nackt und die Töchter Israels, die
züchtigen und verschämten, nackt da liegen sahen, da sprachen einige von
ihnen, der schrecklichen Not nachgebend: 'Lasst uns momentan ihren Willen
tun (nämlich die Taufe annehmen), damit wir unsre Brüder begraben dürfen und
unsre Kinder aus ihrer Hand retten.' Denn die Herumirrenden hatten die an
geringer Zahl übriggebliebenen Kinder ergriffen, um sie zu nötigen, ihren
Glauben anzunehmen; diese hatten es jedoch verweigert, blieben vielmehr
Gott, ihrem Schöpfer, treu. Auch die übrigen in den Gemächern des Bischofs
sich befindenden Gemeindemitglieder, darunter Häupter (Vorsteher) und
Wohltäter sandten den (den Mörderhänden der Kreuzzügler) Entronnenen Kleider
um die Getöteten zu bekleiden, und ließen ihnen den (zur Taufe) Gezwungenen
(Anmerkung 4) Worte des Trostes sagen: 'Fürchtet Euch nicht und
nehmet Euch das, was ihr getan, nicht zu Herzen, denn wenn uns der Heilige,
gelobt sei er, aus der Hand unsrer Feinde rettet, so werden wir mit Euch
sein im Leben und im Tode, weichet nur nicht vom Ewigen' (nämlich in Euerem
Inneren). –
Und es geschah am 25. Ijar = 20. Mai 1096, da sprachen die Herumirrenden und
die Städter: 'Seht, da sind noch die, welche in den Gemächern des Bischofs
übriggeblieben, lasst uns auch an ihnen Rache nehmen!' Und es sammelten sich
(Leute) aus den Dörfern in der Umgegend und die Herumirrenden und die
Städter und belagerten sie und kämpften mit ihnen (den Juden), und es
entbrannte ein heftiger gegenseitiger Kampf, bis jene die Gemächer erobert
hatten, worin die Kinder des heiligen Bundes sich befanden. Und als diese
einsahen, dass aus diesem Kampfe kein Entkommen möglich war, da erkannten
sie das über sie vom Könige aller Könige verfügte Urteil als gerecht an und
brachen Opfer der Frömmigkeit, indem sie sogar ihre Kinder ergriffen und
schlachteten auf die Einheit des göttlichen Namens, mit ganzem Herzen. –
Daselbst wurden die Besten der Gemeinde getötet. –
Und es befand sich daselbst (nämlich in den Räumen des bischöflichen
Palastes) ein junger Mann, Rabbi Meschullam ben Isaak. Er rief allen
Umstehenden sowie seiner Frau Zipporah (Anmerkung 5) mit erhobener
Stimme zu: 'Höret mich an, ihr Großen und Kleinen! Diesen Sohn hat mir Gott
gegeben, meine Frau Zipporah gebar ihn mir in ihrem vorgerückten Alter, er
heißt Isaak. Jetzt will ich ihn zum Opfer bringen wie dereinst unser Vater
Abraham getan mit seinem Sohne.' Aber Zipporah |
antwortete:
'Ach mein Herr, warte noch ein wenig, lege nicht deine Hand an den Knaben!
Ich habe ihn in meinem vorgerückten Alter geboren und ihn großgezogen (mit
einer Liebe) wie der Adler seine Jungen hegt und pflegt.' Er aber sprach:
'Ich zögere keinen Augenblick. Der ihn mir gegeben, nehme ich ihn als sein
Teil zurück und bringe ihn in den Schoß unseres Vaters Abraham.' (Anmerkung
6). Und er nahm das Schlachtmesser und sprach die Benediktion des Schächters
aus, worauf der Knabe laut sprach: Amen! und schächtete seinen Sohn. Hierauf
ergriff er seine laut schreiende Frau, und sie gingen vereint aus dem
Zimmer, und die Herumirrenden töteten sie.-
Und es befand sich daselbst (Worms) ein junger Mann, Isaak ben Daniel.
Diesen fragten sie (die Kreuzfahrer): '´Willst du deinen Gott vertauschen?'
Er antwortete: 'Fern sei es von mir, ihn zu verleugnen. Im Vertrauen auf ihn
will ich mich stärken und dann ihm meine Seele übergeben.' Und sie banden um
seinen Hals einen Strick, schleiften ihn damit im Gassenkot bis zur Kirche,
und da seine Seele noch in seiner Höhlung (Anmerkung 7) (Innere) war,
sprachen sie zu ihm: 'Noch kannst du dich retten. Willst Du deinen Gott
vertauschen?' Er aber, der nicht mehr sprechen konnte, gab ein Zeichen mit
seinen Fingern, andeutend: 'Schneidet mir den Kopf ab!' Und sie taten es. –
Und die Übrigen, nachdem sie täglich gefastet und schwach geworden, dass sie
sich nicht zur Wehre setzen konnten, und nachdem sie ihre getöteten
Hausgenossen und Freunde beweint hatten, übergaben sie ihr Leben, sprechend:
'Lasst uns fallen in die Hand Gottes und das große Licht im Jenseits
schauen.' -
Noch ein junger Mann war daselbst, Rabbi Simcha Hakohen, Sohn unseres
Meisters und Lehrers Isaak Hakohen. Dieser gab ihnen zur Antwort: 'Ich will
Euer Verlangen tun, führt mich aber vorher zum Bischof.' Und sie taten es.
Bis sie nun in der Wohnung des Bischofs ihn zu taufen begannen, zog er ein
verborgen gehaltenes Messer hervor, erstach den Neffen des Bischofs, der
unter ihnen tätig war, und noch zwei andere. Hierauf wurde er getötet. –
Auch eine vornehme Frau befand sich daselbst, Minna. Sie hielt sich
verborgen in einem Hause außerhalb der Stadt unter dem Erdboden. Da
versammelten sich um sie herum alle Stadtleute und sprachen zu ihr: 'Siehe,
du bist ein biederes Weib. Erkenne doch, dass Gott Euch nicht retten will,
Euere Leute liegen tot auf der Straße, und niemand begräbt sie. Taufe dich!'
– Sie fürchteten Hand an sie zu legen, weil die Fürsten des Landes und die
Vornehmen der Stadt bei ihr einzukehren zu pflegten. – Sie aber antwortete:
'Fern sei es mir, meinen Gott zu verleugnen. Auf ihn und seine heilige Thora
sollt Ihr mich töten, zögert nicht.' Und auch diese berühmte Frau wurde
getötet. – Alle wurden daselbst getötet, sie haben sich auch selbst einander
geschlachtet zur Heiligung des göttlichen Namens.
Anmerkungen des Einsenders
1) Manchmal bemerkt man im Manuskript offenbare Schreibfehler. Nach
Rektifizierung lautet diese Stelle also: (Hebräisch) was ich dahin
deute: viele Gemeindemitglieder haben ihr Geld den Städtern, ihren
Versprechungen vertrauend, zur Aufbewahrung übergeben, um es gegen
Raubgesindel zu sichern; aber bei der schlichten Gesinnung der Städter
diente dieser Umstand gerade dazu, dass sie dieselben desto eher den
Kreuzfahrern zur Niedermetzelung überlieferten, weil sie dadurch enthoben
waren, das Geld wieder herauszugeben. – Höchstwahrscheinlich ist’s, dass
nicht alle Städter solche schlechte Gesinnung teilten, und wenn der
Verfasser unter denselben keinen Unterschied setzt, so mag dies ebenso wohl
an der Ungenauigkeit der mündlichen Überlieferung liegen, die ihm geworden,
wie der schriftlichen Aufzeichnung, die er uns mitteilt. Die hebräische
Sprache hat auch Mangel an positiven Fürwörtern wie einige, etliche, manche
etc., darum bedient er sich kurzweg des persönlichen Fürworts in der dritten
Person 'sie', ohne dass er gerade alle darunter verstanden wissen wollte.
Die Solidarität in Beurteilung der Nichtisraeliten ist ohnehin dem Judentume
fremd, wie im Talmud Beispiele zeigen. Andererseits steht die Relation
dieses Manuskripts im Widerspruch mit der Behauptung des Herrn Dr. Grätz
(Geschichte der Juden, Band IV, S. 247): 'Endlich waren die Bürger und der
Rat ganz unschuldig an dem Gemetzel der Wormser Gemeinde beim ersten
Kreuzzug. Ihre Henker waren lediglich die Kreuzzügler und der Bischof.' -
2) Die Tagesdaten stimmen mit Rabbi Elieser ben Nathan nicht überein.
3) Bekanntlich eine Vorstellung der jüdischen Mystik, Kabbalah. Neben dieser
finden wir in dem Berichte dieses Martyriums Züge einer jüdischen Askese:
Tag und Nacht, fasten, sich kasteien, beten etc.; die übrigens in den
Büchern der heiligen Schrift ihr Vorbild findet, und in Zeiten der Gefahr
und des Schreckens so natürlich ist, vgl. Joel 1,14. 2,15.17. Jona 3, 5.7.8.
Esther 4, 3.16. und von anderen Stellen.
4) (Hebräisch:) Zur Taufe Gezwungenen. Später, als sich der
kreuzzüglerische Schwarm verzogen hatte, beanstandeten fromme Israeliten,
die als ihre Brüder anzusehen, welche sich aus Todesfurcht hatten taufen
lassen, obgleich sie sofort wieder zum Judentume zurückgekehrt waren. Als
dies Raschi (vgl.
https://de.wikipedia.org/wiki/Raschi) zu Ohren kam, sprach er sich
entschieden dagegen aus: 'Ferne sei es von uns, uns von den Zurückgekehrten
abzusondern. Nur aus Furcht vor gewissem Tode haben sie es getan (sich
getauft), sind aber sofort wieder zu uns zurückgekehrt.' Nicht lange nachher
starb Raschi, 13. Juli 1105. – Um uns zu zeigen, warum die Israeliten ein
unbezwingliches Entsetzen vor dem damaligen Christentum und der Taufe
empfunden haben, verweisen wir auf Grätz (Geschichte der Juden, Band VI, S.
103).
5) Ulemarat Zipora tiomato Wörtlich: Und der Gebieterin
(Herrin) Zippora, seiner Schwester. Also bezeichnet Rabbi Meschullam seine
Frau, die er sogleich Ischti (= meine Frau) nennt. Bekanntlich wird
in jüdischen Schriften seit uralter Zeit der Frau das Epitheton (vgl.
https://de.wikipedia.org/wiki/Epitheton) (Marta, Marat) (chaldäisch)
Herrin, Gebieterin beigelegt, als Beweis, in welcher hohen Achtung die
Frauen im Judentum standen. Hier wird dieselbe aber auch noch als Ausdruck
inniger Zärtlichkeit Tiomata (chaldäisch) Zwillingsschwester,
Schwester genannt.
6) Der Israelite drückt bei der Erfüllung irgendeines Gebots seinen Dank
gegen Gott aus, dass er ihn dazu gewürdigt und berufen hat. – Der hier
erzählte Vorfall ist so der biblischen Erzählung von der Opferung
nachgebildet und so drastisch dargestellt, dass wir an der Wahrheit des
Faktums zweifeln müssten, wäre es nicht so anderwärts verbürgt. Zunz (Der
synagogale Ritus, S. 20) zählt, unter den namhaften Wormser Märtyrern:
'Zippora, eine alte Frau und ihr Sohn Isaak', doch fehlen ihr Mann und alle
Lebensumstände.
7) Die Konstruktion veranlasste mich, das Wort täläd nicht 'Leben
oder Lebenszeit' zu übersetzen, sondern nach dem Chaldäischen 'Höhlung'.
(Fortsetzung folgt)
Worterklärungen: Herumirrende - Kreuzzügler; Kreuzfahrer – Kreuzzügler;
Wallfahrer – Kreuzzügler, auf dem Weg nach Jerusalem.
|
Fortsetzung
des Beitrages von Moses Mannheimer (Teil 3)
Artikel in der "Allgemeinen Zeitung des Judentums"
vom 23. Mai 1876: "Fortsetzung (Teil 3 / Schluss).
Und es geschah, als die frommen Männer der heiligen Gemeinde zu
Mainz hörten, dass ein Teil der Gemeinde
Speyer und die ganze Gemeinde Worms
getötet worden, schmolz ihnen das Herz zu Wasser, und sie schrien zu Gott:
'O, Ewiger, willst Du dem Reste Israels ein Ende machen?' Und es traten
zusammen die Führer der Gemeinde Speyer
und begaben sich zu dem Bischof und seinen Beamten und sprachen: 'Was sollen
wir Juden unter diesen Umständen tun?' Diese antworteten: 'Höret unsern Rat!
Bringet all Euer Geld in unsere Schatzkammern zur Aufbewahrung und Ihr, Eure
Weiber und Kinder, begebet Euch in den Hofraum des Bischofs, da könnet Ihr
gerettet werden.' Dies (Anmerkung 1) rieten sie, um uns wie Fische im
Netze auf einmal zu fangen und zu ergreifen.- Der Bischof hat auch wirklich
seine Beamten und Diener, sowie Fürsten, Ritter, Herren, Befehlshaber und
Vornehme des Landes versammelt, um uns zu helfen und uns zu retten vor den
Herumirrenden, denn anfänglich war dies wirklich keine Absicht, aber am Ende
wurde es schlecht. (Anmerkung 2). –
Eines Tages kam in den Straßen eine Christin einhergegangen und führte eine
Gans mit sich, die sie von damals an, da dieselbe noch ein Küklein war,
großgezogen hatte, und die gewöhnt war, überall hin ihr zu folgen. Sie
redete alle Vorübergehenden an: 'Sehet, die Gans verstand, dass ich sagte,
ich wolle zur Kirche gehen.' Und alsbald versammelten sich um uns die
Herumirrenden (Kreuzzügler) und die Städter und sprachen: 'Wo ist
Euer Ruhm? (Anmerkung 3) Wie könnt Ihr Euch retten? Sehet, was
Christus diesen Gänsen tut.' (Anmerkung 4) Und sie kamen mit
Schwertern und Lanzen herzu, um uns zu töten, allein ein Teil der Städter
trat dazwischen und litt es nicht.-
Zu selbiger Zeit mordeten sie in der Umgegend des Rheines, weil sie einen
von den Herumirrenden erschlagen hatten, indem sie sprachen: 'All dieses
haben sie den Juden getan.' Und es fehlte wenig, so wären wir alle
umgekommen. Und als die frommen Männer der Gemeinde es erfuhren, redeten sie
mit ihnen harte Worte (dies könnte veranlassen, Anmerkung 5) über uns
herzufallen. Und als sie ihre Worte hörten, sprachen sie: 'O, stürben wir
doch durch die Hand Gottes und nicht durch die seiner Feinde.' – Und sie
ließen ihre Häuser öde und leer stehen, gingen auch nicht zur Synagoge außer
am Sabbat, dies war der letzte Sabbat, der nächste zu unserem Verhängnisse.
Nur wenige Leute gingen hinein zu beten. – Rabbi Isaak ben Jehuda war dabei
– sie weinten jämmerlich.
Und es befand sich daselbst (Mainz) ein
scharfsinniger gelehrter Jünger, Rabbi Baruch ben Isaak. Er sprach zu uns:
'Unser Verhängnis ist unabwendbar. Denn ich und mein Schwäher (Schwager)
Jehuda - - die Seelen, die hier gebetet hatten mit lauter Stimme wie Weinen,
und wie wir die Stimmen hörten, glaubten wir, vielleicht seien einige
Gemeindemitglieder aus dem Hofe des Bischofs hinweg und in der Mitte der
Nacht in die Synagoge gegangen, um da in Not und Herzenskummer zu beten. Wir
liefen an die Synagogentüre und sie war verschlossen. Die Stimmen hörten
wir, schauten aber nichts. Da kehrten wir zurück in das Haus, welches nahe
bei der Synagoge war.' –
Und als wir diese Worte hörten, fielen wir auf unser Antlitz zur Erde und
sprachen: 'Willst Du, Ewiger, dem Reste Israels ein Ende machen?' Und sie
gingen hin und erzählten ihre Begegnisse auch ihren Brüdern im Hofe des
Statthalters und im Hofe des Bischofs. Und auch sie weinten sehr (Anmerkung
6).-
Und es geschah am 1. Siwan (= 25. Mai 1096), da kam Emicho (Anmerkung 7,
vgl.
https://de.wikipedia.org/wiki/Emicho_(Kreuzfahrer)), der Bösewicht
mit einem großen Heere aus Herumirrenden und gemeinem Volke bestehend, vor
der Stadt |
an.
Auch er wollte zum Grabe Christi gehen (sc. nach Jerusalem). Er war unser
grausamster Feind, ein Wütrich, der weder den Greis noch den Säugling und
den Kranken verschonte, Alle tötete. – Und sie lagerten außerhalb der Stadt
zwei Tage lang.
Da sprachen die Häupter der Gemeinde: 'Wir wollen ihm (Emicho) Geld senden
und durch ihn an die Gemeinden schreiben, dass sie ihn gut aufnehmen
möchten, vielleicht hilft dieses.'- Sie hatten bereits zwecklos gegen 400
Halbe (Anmerkung 8) (vielleicht halbe Golddenare) an den Bischof,
Statthalter, an die Beamten und Städter verschenkt gehabt. –
Und es geschah am 3. Siwan (27. Mai 1096) mittags, da rückte der Bösewicht
Emicho mit seinem Heere gegen die Stadt heran, und die Städter öffneten ihm
die Tore. Und es sprachen die Feinde Gottes, einer zu andern: 'Sehet, die
Tore sind von selbst aufgegangen, das hat Christus getan, um Rache an den
Juden nehmen zu können.' Und sie zogen mit ihren Fahnen vor das Tor des
bischöflichen Palastes, worin die Juden versammelt waren. Und als die
heiligen Männer die große Menge erblickten, stärkten sie sich im Vertrauen
auf Gott und Bewaffneten sich von groß bis klein und Rabbi Kalonymos ben
Meschullam (vgl.
https://de.wikipedia.org/wiki/Kalonymiden) stand an ihrer Spitze.
Daselbst war auch ein Chassid, einer der größten des Zeitalters, Rabbi
Menachem (Anmerkung 10) ben Rabana, Rabbi David Halevi. Dieser
sprach: 'Ganze Gemeinde! Heiliget den Namen Gottes, des ehrfurchtsvollen!
Eure Väter sprachen um diese Zeit (der Gesetzgebung auf Sinai): 'Wir wollten
vollbringen und gehorchen.' Und sie riefen laut aus: 'Höre Israel, der
Ewige, unser Gott ist einzigeinig.' (vgl.
https://de.wikipedia.org/wiki/Schma_Jisrael) -
Und (Anmerkung 11) sie (die Juden) näherten sich dem Tore und
kämpften daselbst mit den Herumirrenden und den Städtern; aber die Sünden
verursachten, dass die Feinde siegten und das Tor eroberten. Und die Leute
des Bischofs, welche den Juden versichert hatten, ihnen Beistand zu leisten,
waren die ersten, welche die Flucht ergriffen, sie waren unzuverlässig. Da
drangen denn die Feinde in das Tor und erschlugen alle, die nur finden
konnten, darunter auch Rabbi) Isaak ben Moses. – Nur 53 Personen (Anmerkung
12), darunter auch Kalonymos, flohen durch die Gemächer des 13
Bischofs, bis sie in ein langes Gemach kamen, das man Schinger (Anmerkung
13) hieß, woselbst sie blieben.
Und als die Juden sahen, dass Rettung unmöglich sei, schrien sie: 'Auf,
lasset uns nicht zögern, die Feinde sind gleich da, lasset uns uns selbst
opfern vor unsrem Vater im Himmel! Wer ein Schlachtmesser hat, komme und
schlachte uns zur Heiligung des Namens des Einen-Einzigen; alsdann
durchbohrte er sich selbst. Und sie schlachteten sich gegenseitig. Männer
schlachteten ihre Frauen und Kinder. Manche Frauen warfen den Feinden Geld
zu, um sie so lange aufzuhalten, bis sie ihre Kinder geschlachtet hätten.
Zärtliche Mütter erwürgten ihre Kinder und zeigten deren Gesichter den
Feinden. Jünglinge und Jungfrauen schauten durch die Fenster und riefen den
Feinden zu: 'Sehet, was wir tun, um unsere Gottheit nicht vertauschen zu
müssen.' - Und die Geschlachteten und die Sichselbstentleibten lagen in den
Zimmern in langen Reihen, und das Blut strömte zu den Zimmern hinaus. Und
als die Feinde die Türen zerbrochen hatten und in dieselben eindrangen und
die Juden sich im Blute wälzend fanden, da zogen sie ihnen die Kleider aus,
nahmen deren Geld und schlugen die noch Übriggebliebenen tot.
Nur ein Zimmer widerstand durch seine Festigkeit ihren Angriffen bis gegen
Abend. Als nun die Heiligen (Anmerkung 14) daselbst sahen, dass die
Feinde stärker als sie waren, da rafften sich die Männer und Frauen auf,
schlachteten zuerst ihre Kinder, dann sich gegenseitig. Und es warfen Frauen
Steine durch die Fenster auf die Feinde, und diese schleuderten Steine auf
sie, sodass diesen Gesicht und Leib zerfleischt wurden. Darunter befand sich
auch eine sehr geachtete Frau, Rachel, Tochter der Rabbi Isaak ben Ascher
(vgl.
http://www.jewishencyclopedia.com/articles/8158-isaac-ben-asher-ha-l).
Sie sprach zu ihrer Freundin: 'Ich habe vier Kinder. Auch sie sollt Ihr
nicht verschonen, damit sie nicht im Irrtum erzogen werden.' Ein
Schlachtmesser wurde von einer Freundin herbeigeholt und die vier Kinder,
zwei Söhne, Aaron und Isaak und zwei Töchter, Bella und Matrone (Anmerkung
15), wurden geschlachtet. Und die Herumirrenden, die sie bei ihren
Kindern sitzen, klagen und weinen fanden, erschlugen auch sie (Anmerkung
16). Hierauf warfen sie alle Ermordeten, Geschlachteten,
Sichselbstentleibten aus den Fenstern hinaus. Das taten sie in allen
Gemächern.
Und es entstanden viele Haufen von Leichnamen, so hoch wie Berge (Anmerkung
17). Und unter den zu den Fenstern Hinausgeworfenen waren manche, welche
noch Leben in sich hatten. Sie winkten mit ihren Fingern: 'Gebet uns
Wasser!' Aber die Herumirrenden, die dies merkten, fragten sie: 'Wollt Ihr
euch taufen?' Und da sie es mit Kopfschütteln verneinten und ihre Augen zum
Himmel aufschlugen, wurden sie vollends getötet. –
Nachdem dies vorüber war, gingen die Herumirrenden mit ihren Fahnen in den
Hof des Statthalters, das ist der Burggraf (Anmerkung 18), wo der
übrige Teil der Gemeinde war. Und sie eroberten den Eingang des Hofes,
kämpften mit ihnen und erschlugen auch sie. Daselbst war ein Mann, Mar
Chelbo ben Moses. Dieser sagte zu seinen zwei Söhnen: 'Nun ist das Paradies
und auch die Hölle offen, wählet!' Und sie wählten Ersteres. Hierauf wurden
sie samt ihrem Vater erschlagen. Auch eine Thorarolle fanden die
Herumirrenden in einem Zimmer daselbst, und sie zerrissen sie in Stücke. Da
hoben Männer und Frauen zu klagen und zu jammern an. 'Wie ist doch die
heilige Thora, die wir in der Synagoge so hoch verehrt haben, jetzt zu
Schanden geworden!' Und Rabbi David ben Rabana Menachem sprach: 'Zerreisset
Eure Kleider wegen der heiligen Thora.' Und sie taten also. Und gerade
fanden sie einen Herumirrenden in irgendeinem Zimmer und steinigten ihn. Da
bestiegen die Herumirrenden und die Städter den Söller (vgl.
https://de.wikipedia.org/wiki/Söller) und schossen mit Pfeilen auf
die dort sich befindenden Juden und stachen sie mit Lanzen. Da war ein Mann,
Max Jakob ben Sulam, dessen Mutter keine Jüdin war, Auch er entleibte sich,
um dem |
Ewigen
treu zu bleiben. Ebenso tat ein Greis, Rabbi Samuel ben Mordchai.
Hierauf zogen die Herumirrenden und Städter in die Stadt, in den Hof eines
Geistlichen. Dort hatte sich der Gemeindeeinnehmer, Max David ben Nathaniel
versteckt, er, seine Frau und Kinder. Der Geistliche sprach zu ihm: 'Siehe,
von den Juden sind nur die übriggeblieben, die die Taufe angenommen haben.
Taufe dich und du bist gerettet.' Er erwiderte: 'Geh hin und sage den
Herumirrenden, sie möchten daherkommen.' Er tat es, und mehrere Tausende
versammelten sich um das Haus. Da rief ihnen Max David zu: 'Ich vertraue auf
den Ewigen. Wenn ihr mich getötet habt, so wird meine Seele im Paradiese
ruhen, ihr aber werdet in die Hölle fahren.' Und sie töteten ihn und alle
seine Angehörigen. –
Ebenso verfuhren sie mit einem andern Manne, der in seinem Hause geblieben
war, Rabbi Salomon ben Naamon. Als er ihr Verlangen, sich taufen zu lassen,
verneinte, erschlugen sie ihn und seine Angehörigen. -
Ich habe hier einige Männer mit Namen (Anmerkung 19) angegeben. Was
hingegen andere Gemeindeglieder, insbesondere die Führer der Gemeinde für
die Einheit des Königs aller Könige gesprochen und gewirkt haben, wie Rabbi
Akiba (Anmerkung 20, vgl.
https://de.wikipedia.org/wiki/Rabbi_Akiba) einst getan, ist mir
nicht näher bekannt geworden. – Gott erlöse uns von dieser Trübsal.
Anmerkungen des Einsenders:
1) Diese Absicht scheint wenigstens bei dem Bischof nicht vorhanden gewesen
zu sein, wie dies aus den nachfolgenden Worten hervorgeht
2) (Hebräisch), eigentlich heißt es: Und zuletzt wurde er sauer;
allein wir finden den Ausdruck schon im Talmud rosch haschana 3 b bildlich
in der Bedeutung von 'schlecht' gebraucht. – Über das Verhalten des Bischofs
Ruthart (vgl.
https://de.wikipedia.org/wiki/Ruthard_(Mainz)) sind die Meinungen
geteilt. Die einen beschuldigen ihn, den Überfall begünstigt und am Raube
teilgenommen zu haben, während die andern ihn von aller Schuld freisprechen.
Der Verfasser des vorliegenden Berichts scheint das Richtige mitgeteilt zu
haben. 'Anfänglich hatte er den Willen, uns zu retten, zuletzt wurde er
'schlecht'. Dass er die Absicht hatte, sie zu retten, beweist die
Mannschaft, die er zur Beschützung der in seinem Hofraume sich befindenden
Juden aufgeboten hatte. Als aber dieselbe zu schwach war, der großen Masse
der Kreuzfahrer Widerstand zu leisten, und als die Juden allesamt teils
durch die Kreuzfahrer, teils durch Selbstentleibung umgekommen waren, wollte
er ihre Schätze nicht ganz den bluttriefenden Händen des kreuzzüglerischen
Gesindels überlassen. Er nahm teil am Raube und wurde deshalb später von
Heinrich IV. (vgl.
https://de.wikipedia.org/wiki/Heinrich_IV._(HRR)) zur Rechenschaft
gezogen.
3) (Hebräisch) Ruhm, es könnte jedoch auch ein im Talmud vorkommendes
chaldäisches Wort (Chaldäisch) sein und Gewinn, Vorteil bedeuten.
4) Man müsste solchen Blödsinn für ein Märchen halten, fände er sich nicht
anderwärts bestätigt. Grätz (Geschichte der Juden, Band IV, S. 162) erzählt
von den Wallfahrern unter den französischen Ritter, Wilhelm der Zimmermann:
'Sie hatten eine Gans und einige Ziegen, die sie vor sich gehen ließen, und
von denen sie glaubten, sie seien vom heiligen Geiste angehaucht und würden
ihnen den Weg nach Jerusalem zeigen.'
5) Das Eingeklammerte habe ich suppliert. Der ganze Absatz ist dunkel. Man
weiß selten, wer das Subjekt der Handlung ist.
6) Die hier erzählte Begebenheit ist sehr dunkel. Meines Erachtens soll sie
den Gedanken darstellen, man habe mitten in der Nacht eine
weinerlich-betende Stimme von abgeschiedenen Seelen vernommen, und dies habe
man als ein böses Omen angesehen.-
7) Dass dieser Emicho, Graf von Leiningen (vgl.
https://de.wikipedia.org/wiki/Leiningen_(Adelsgeschlecht)), ein
Bösewicht war, bezeugen die Historiker. Schlosser, (Weltgeschichte, Band 5)
nennt ihn roh, gewalttätig; H. von Sybel (a.a.O. S. 245) nennt ihn grausam,
tyrannisch und Grätz (a.a.O. S. 105) gewissenlos, blutrünstig. Dieser Graf
Emicho hauste in der Gegend von Mainz. Der Auswurf der englischen,
flandrischen, französischen und lothringischen Völker versammelte sich
daselbst unter seiner Anführung, sodass seine Schar auf 14.000 Kreuzfahrer
anwuchs. Auch Wilhelm der Zimmermann, Vicomte von Melun (vgl.
https://www.geni.com/people/Guillaume-de-Melun-Vicomte-de-Melun/6000000002248212482),
dieser rohe, gewalttätige Mensch, der durch Plünderung französischer Bauern
sich die Mittel zum Zuge erworben hatte, war zu Emicho gestoßen. Dieser
Emicho soll auch derjenige gewesen sein, welcher den Plan zur Vertilgung der
Juden zuerst entworfen und als zündenden Funken unter die verwilderten
Kreuzscharern geschleudert habe.
8) Im Manuskript heißt es (Hebräisch), worunter ich 400 Golddenare (vgl.
https://de.wikipedia.org/wiki/Denarius) verstand, weil diese
Münzsorte seit den Karolingern (vgl.
https://de.wikipedia.org/wiki/Karolinger) stark im Umlauf war.
9) Dieser Meschullam ist wahrscheinlich der bekannte fruchtbare Pajetan, der
zu den Lehrern Raschis gezählt wird.
10) Dieser Menachem könnte vielleicht der in Tosaphot vorkommende sein, doch
ist dies hier ungewiss. Sein Vater Rabbi David Halevi ist der Verfasser der
bekannten Selicha (vgl.
https://de.wikipedia.org/wiki/Slichot) Adonai elohai rabbat
zeraruni, welche die Kreuzzugsschrecken zum Thema hat.
11) Der Verfasser unterbricht hier häufig die Erzählung von dem Geschehen
mit dem Ausdrucke des tiefsten Schmerze, den sein Herz empfindet, und mit
Worten des Trostes, die er den Märtyrern in den Mund legt. Er beklagt es,
dass mit der Hinschlachtung so vieler frommer und gelehrter Männer der Glanz
des Torastudiums sich verdunkelt habe; Demut, Frömmigkeit und echte
Wohltätigkeit geschwunden seien. 'Sonne und Mond, ruft er aus, warum habt
Ihr Euer Licht nicht entzogen denen, die den Namen Israels austilgen
wollten?' Die Märtyrer lässt er sagen: 'Wir vertauschen dieses Leben der
Not, Finsternis und Vergänglichkeit mit dem Leben der Freude, des Lichtes
und der Ewigkeit. Sein Stil erinnert an die Dichter der Buß- und Klagelieder
(Selichot weKinot). Des Zusammenhanges und der Abkürzung willen, habe
ich diese eingefügten elegischen Stücke weggelassen.
12) Elieser ben Nathan berichtet in seinem Martyrologium, in dem Schatzhause
des Doms (Bebait HaOzar schäl tehom) hätten sich an diesem Tage 60
Personen gerettet, die vom Bischof nach dem Rheingau gebracht, aber später
auch von den Feinden erschlagen worden wären.
13) Dieses Wort (Schingir) war mir unerklärlich.
14) Dieser Ausdruck ist antizipatorisch zu fassen, denn erst in der Folge
pflegt man die Märtyrer Heilige zu nennen, gegen den Geist des Judentums,
das nur Einen als heilig anerkennt, das ist Gott. |
15)
Im Manuskript heißt es (Hebräisch), was ich nicht anders als Matrone
deuten kann. Matrone ist ein bei Jüdinnen im Mittelalter häufig vorkommender
Name.
16) Unser Martyrologe hat diese Schlachtszene so drastisch dargestellt, dass
sie auf den Leser einen erschütternden Eindruck zu machen nicht verfehlt.
Bei der Übersetzung habe ich krasse Nebenumstände beiseite gelassen.
17) Nach dem Berichte des zeitgenössischen Rabbi Elieser betrug in Mainz die
Gesamtsumme der Getöteten und Selbstentleibten 1.300 Personen.
18) Im Manuskript (Hebräisch). Burggravo ist Altdeutsch und
bedeutet: Burggraf, Stadthauptmann, Stadtrichter. (Pacha) heißt in
biblischem Gebrauch: Statthalter (Pascha) ist aber hier in dem näher
bezeichneten Sinn zu nehmen. – Im Mittelalter sind manche Burggrafen in
Stadtgrafen (comites urbis) übergegangen. – Die Vorgänge bei dem
Statthalter sind neue Details, die bisher unbekannt waren. Einen Söller,
worauf Juden waren, gegen welche die Kreuzfahrer mit Pfeilen und Lanzen
zuerst kämpften und sie endlich alle getötet haben, kennt wohl Albertus
Aquensis, nicht aber Rabbi Elieser ben Nathan.
19) Die hier besonders hervorgehobenen Namen stimmen mehrenteils mit denen
überein, die auch bei Rabbi Elieser ben Nathan vorkommen.
20) Anspielung auf Rabbi Akiba, den um 130 n. Chr. Rufus unter grausamen
Martern hat hinrichten lassen und der seinen Geist aushauchte, mit dem
Bekenntnis: 'Höre Israel, der Ewige, unser Gott ist einzig-einig.' - " |
Erklärung
des Komitees zur Renovierung jüdischer Altertümer in Worms (1853)
Artikel in der Zeitschrift "Der treue Zionswächter"
vom 5. August 1853: "Hessen-Darmstadt
Worms, im Juli 1853. Den geehrten Lesern dieses Blattes sind wir es
schuldig, einige Worte über Zweck und Absicht unseres Aufrufs an die
Gemeinden, zum Behufe der Renovierung hiesiger jüdischer Altertümer
auszusprechen. Nach dem alten Spruch ... sind wir dem Andenken der Heroen
unserer Literatur, Pietät und Verehrung im höchsten Grade schuldig und
müssen wir den gebieterischen Ruf vernehmen ..., weil wir schmerzlich
hinzufügen müssen .... So ist es gewiss an der Zeit, an dem Geiste und der
Kraft jener Herren uns zu erstärken und zu erheben und durch die an den Tag
gelegte Verehrung derselben ein lebendiges Beispiel der Ermunterung und
Ermutigung zu geben. Raschis Stuhl ... ist dem Verfall nahe – und ... er
mahnt dringend selbst: Das Andenken unsterblichen Wirkens, nicht ein Raub
der Zeit zu werden. Aber auch die ... des hiesigen weltberühmten Friedhofes
bedürfen der Herstellung, um die geheiligten Stätten dem Auge und dadurch
dem Herzen des Judentumes zu erhalten. Möge daher ein Jeder dazu beitragen
..., dessen Name soll in einem Gedenkbuch zum ewigen Andenken
eingezeichnet, und für die edlen frommen Geber ein öffentlicher Gottesdienst
in der Raschi-Klause alljährlich verrichtet werden. Gottes Segen begleite
das gute Werk!
Im Namen des Komitees Moses Mannheimer.
Nachbemerkung. Der und vom Komitee zugesandte Aufruf ist uns bisher noch
nicht geworden und bedauern wir daher nichts Näheres über denselben sagen zu
können. Selbstverständlich empfehlen wir das Unternehmens aufs Wärmste dem
religiösen Sinne des wahrhaften Judentums, wie wir gerne bereit sind,
etwaige Spenden zu diesem Behufe entgegenzunehmen. Die Redaktion." |
Zum
Stand der Bemühungen zur Renovierung jüdischer Altertümer in Worms
(1853)
Hinweis: auf die Wiedergabe der hebräischen Begriffe und Zitate wird
weitgehend verzichtet; die hebräische Schrift ist in diesem Artikel nur schwer
lesbar.
Artikel in der Zeitschrift "Der treue Zionswächter"
vom 30. September 1853: "Worms, im September. Die
Teilnahme, welche das Unternehmen der Renovierung hiesiger jüdischer
Altertümer erregt, gibt sich mehr und mehr kund. Von nah und fern beeilen
sich die Gemeinden, Sammlungen zu veranstalten, um Beiträge alsbald dieser
gelangen zu lassen, (Hebräisch). Auch ist dieser Tage von Amsterdam
von der (Hebräisch) Gemeinde eine Geldsendung, nebst ein ermunterndes
Schreiben uns zugekommen, dessen Inhalt so echt jüdischen Sinnes der
Veröffentlichung verdient, und ich erlaube mir, diesen Teil dieses Briefes
hier wiederzugeben, vielleicht ist dies derselbe ein Sporn vieler Leser
dieses schätzbaren Blattes zur Teilnahme zu veranlassen (Hebräisch),
wo jener (Hebräisch) wie (Hebräisch) gelebt, gelehrt und
gelernt hat.
(Hebräisch)
Die allerneuste Forschung auf dem Friedhof haben wieder neue
Resultate gebracht. Es wurde eine Masecha - Grabstein gefunden, deren
Inhalt ein (Hebräisch) enthält und ein (Hebräisch) hier liegen
muss; unter andern heißt es (Hebräisch) und ist zu vermuten, dass es
der (Hebräisch) ist; auch wäre es möglich, dass es der Vater von (Hebräisch)
war; die Jahreszahl wird uns die Wahrheit näherbringen; auch sind die (Hebräisch)
von (Hebräisch) Verfasser des (Hebräisch), die von (Hebräisch)
werden eben aufgesucht.
Möge die allgemeine Teilnahme dieses ehrwürdige, uneigennützige Unternehmen,
liebevoll unterstützen, und jeder seinen hohen Beruf darin finden, zu sein
von den (Hebräisch).
M. M. (wahrscheinlich Moses Mannheimer)
Worms, im September. Es gingen bis jetzt zur Renovierung der hiesigen
jüdischen Denkmäler ein: Von Märkisch Friedland 5 Taler;
Ellwangen 3 fl. 30 Kreuzer (vgl.
https://de.wikipedia.org/wiki/Kreuzer_(Münze)) ;
Bretten 8 fl. 21 Kreuzer;
Adelsdorf 10 fl.;
Lonnerstadt 2 fl. 6 Kr.;
Mühlhausen (Bayern) 7fl. 42
Kreuzer; Forchheim 5 fl. 9 Kreuzer; der
altschottländischen Gemeinde zu Danzig 19 Taler; Myslowitz 8 Taler; Flatow 7
Taler; Pleß 3 Taler; Grätz (im Posenschen) 6 Taler 22 Sgr. 6 Pf.;
Wolfenbüttel 2 Taler; Burgkunstadt
12 fl. 27 Kreuzer; Wiesbaden 24 fl. 9
Kreuzer; Gnesen 5 Taler; von Simon A. Cohen in
Coburg 25 fl.; Graudenz 3 Taler;
Grünberg 6 Taler; von Baruch Achselrad aus Jassy (Iasi, Rumänien) 2 fl.;
Schwerin 11 Taler 5 Sgr.; aus der
Gemeindekasse der Aschkenasim in Amsterdam 50 fl. – Summa 75 Taler 27 Sgr. 6
Pf. Und 150 fl. 24 Kreuzer – Zusammen 283 fl. 15 Kreuzer.
Das Komitee zur Renovierung der hiesigen israelitischen Denkmäler." |
Spendenliste für Beiträge zur Renovierung der
jüdischen Altertümer sowie Artikel über "Raschi's Anwesenheit in
Worms" (1853)
Anmerkung: im Abschnitt nimmt Dr. Levysohn Stellung zu vorgebrachten Zweifeln
an der Anwesenheit und Lehrtätigkeit von Raschi in Worms.
Artikel in der "Allgemeinen Zeitung des Judentums"
vom 26. Dezember 1853: "Worms, Ende November (Eingesandt.) Es
ging an Beiträgen zur Renovierung der hiesigen jüdischen Denkmäler ferner
ein: Von Pyritz (vgl.
https://de.wikipedia.org/wiki/Pyrzyce) 8 Thlr. 15 Sgr.;
Biebrich
und Mosbach 5 fl. 42 kr.,
Altenkunstadt 3 fl. 39 kr., Siegburg bei Bonn 2 Thlr.,
Hürben 10 fl.;
Fischach
12 fl.;
Baiersdorf 7 fl.;
Laupheim
11 fl.; Cöslin (vgl.
https://de.wikipedia.org/wiki/Koszalin) 3 Thlr.;
Uhlfeld 10 fl.;
Biblis 5
fl. 2 kr,, Emden 7 Thlr.; Berlin 15 Thlr.;
Bauerbach 1 fl. 54 kr.;
Menzingen
4 fl. 3 kr.;
Flehingen
10 fl. 33 kr.;
Gochsheim 1 fl.; Gondelsheim
3 fl. 36 kr.; Jöhlingen 3 fl. 7 kr.;
Dinkelsheim (Diedelsheim?) 2 fl. 15
kr.; hierzu laut No. 44b d. Bl. 575 fl. 14 kr., Summa 43 Thlr. 15 Sgr und
667 fl. 4 kr., zusammen 753 fl. 42 kr.
Raschis Anwesenheit in Worms. (Hinweis: die hebräischen Zitate
konnten noch nicht wiedergegeben werden; zum Lesen der hebräischen Zitate bitte
Textabbildungen anklicken).
Die Arch. Isr. de Fr. (= Archives israélites de France, französische
Monatszeitschrift für das Judentum erschienen von 1840 – 1935
https://fr.wikipedia.org/wiki/Archives_israélites_de_France; Anm. S.R.)
ebenso wie L'Univers israélite (gleichfalls französische
Monatszeitschrift, dann Wochenzeitschrift für das Judentum, erschien von
1844 - 1940
https://fr.wikipedia.org/wiki/L'Univers_israélite, Anm. S.R) unser
Zirkular, das bereits in Nr. 34 dieses Blattes abgedruckt und von hier aus
in das Jewish Chronicle (sc. jüdische Wochenzeitschrift, siehe
https://en.wikipedia.org/wiki/The_Jewish_Chronicle, Anm. S.R.)
übergegangen ist, aufgenommen und warm empfohlen. In dem Univers ist auch
das Klein'sche Zirkulär vollständig abgedruckt und es ist recht erfreulich
zu sehen, wie auch die ausländische jüdische Presse mit lebhaftem Interesse
das Unternehmen des hiesigen Komitees unterstützt, nichts desto weniger
veranlassten die Archives den Unterzeichneten zu einer längeren Erwiderung
und Berichtigung, deren wesentlichen Inhalt auch hier aufzunehmen Euer
Ehrwürden ergebenst ersucht werden. – Die Archives bemerken, dass es
ungewiss sei, ob Raschi in Worms gelehrt (professé), man wisse nur, dass
derselbe in Deutschland geweilt habe. Die Anwesenheit Raschis in Worms wird |
jedoch
durch nachstehende Argumente außer allen Zweifel gestellt und selbst seine
Eigenschaft als öffentlicher Lehrer am hiesigen Orte soll durch
nachbezeichnete, handschriftliche Quellen aus dem unsichtbaren Kreis
subjektiver Vermutung treten und an objektiver Konsistenz gewinnen. –
Bekanntlich genoss Raschi zuerst den Unterricht des Rabbi Jakob ben Jakar (vgl.
https://de.wikipedia.org/wiki/Jakob_ben_Jakar), alsdann des Rabbi
Jizchak Halevi (vgl.
https://de.wikipedia.org/wiki/Isaak_ben_Eleasar_ha-Levi)
(siehe Gittin 59, b.s.v. Hebräisch sind drei Lehrer Raschis erwähnt,
indem Mori hasakan [= mein alter Lehrer] den Rabbi Jakob ben Jakar
bezeichnet, der zweite, Jizchak ben Jehuda war ebenfalls in Worms und ging
später nach Mainz, cf. Hagadot Maimuni Seder Tephila P.13, lit.2). Rabbi Jakob Halevi war Rabbiner in Worms (s. Rab. Aschur zu Rosch Haschana
Hebräisch
heißt es: Awal Gaon Rabenu Jizchak Halevi s'l hanahig bewormisa).
Raschi selbst gibt dieses Ortsverhältnis an (s. Beza 24, b.s.v. Hebräisch),
er erzählt: Die Gelehrten in Worms nahmen in einem kasuistischen Falle gegen
ihn und für seinen Lehrer Partei, doch Rabbi Kalonomos aus Rom (vgl.
https://de.wikipedia.org/wiki/Meschullam_ben_Kalonymos) kam nach
Worms und erklärte sich für Raschi, was er ihm auch brieflich mitteilt.
Raschi aber behauptete seine Ansicht in Gegenwart der Lehrer (Hebräisch)
und zwar also in Worms, viel deutlicher noch beweist seine hiesige
Anwesenheit folgende Stelle in den She'elot uTeshuvot... [Fragen und
Antworten... ] (bekanntlich eine höchst
wertvolle Sammlung von Rabbinatsgutachten der Rischonim [vgl.
https://de.wikipedia.org/wiki/Posek]). Die Stelle lautet
im Auszuge (Hebräisch): ...
Es geht hieraus klar hervor, dass Raschi mehr als ein Mal in Worms gewesen.
Nachstehende Quellen dürfen aber auch seine öffentliche Wirksamkeit als
Lehrer bekunden, wobei wir freilich deren Echtheit aus dem Grunde nicht
anfechten, weil kein Verdacht gegen dieselbe vorhanden ist. Seine Ehrwürden,
der hiesige Herr Rabbiner, besitzt zwei Manuskripte, aus welchen ich die
betreffenden Stellen herzusetzen, mir erlaube. Das erste Manuskript ist das
in Kleinoktav geschriebene Minhagimbuch (vgl.
https://de.wikipedia.org/wiki/Minhag_(Judentum)) (Anfang und Ende
defekt) und lautet an besagter Stelle: (Hebräisch) - Das zweite
Manuskript ist das sogenannte Mimmerbuch (= Memorbuch; es enthält die Namen
Derjenigen Verstorbenen, welche allsabbatlich der Reihe nach in der Synagoge
erwähnt werden (Hebräisch), die Stelle lautet: (Hebräisch).
Diese beiden Stellen bekräftigen daher nur die so alte und so allgemein
verbreitete Sage von Raschis Synagoge und Raschis Stuhl, und man muss daher
wohl zu der Annahme sich bewogen fühlen, dass Raschi hierorts öffentliche
Vorträge gehalten, obwohl über die Dauer seiner hiesigen Anwesenheit
schwerlich Gewissheit zu erlangen sei. Ich bemerke schließlich, dass ich mit
tiefem Bedauern die Arbeiten über Raschi von Zunz (vgl.
https://de.wikipedia.org/wiki/Leopold_Zunz) und Bloch (vgl.
https://de.wikipedia.org/wiki/Moses_Bloch) hier nicht zu Rate ziehen
konnte, da ich nach deren Besitz bis jetzt vergeblich gestrebt habe. Worms,
im November 1853. Dr. L. Levysohn."
Vgl. noch zu Archives Israélites de France:
https://gallica.bnf.fr/ark:/12148/cb327014664/date und zu
L’Univers israélite:
https://gallica.bnf.fr/ark:/12148/cb344300007/date
Hinweis: Der Verfasser des Beitrages Dr. Ludwig Levysohn war über sieben
Jahre Rabbiner und Prediger in Worms: Siehe
Artikel von 1859 (interner Link). |
Über die jüdische Gemeinde in Worms - Bildung einer orthodoxen
Religionsgesellschaft auf Grund der Orgel in der Synagoge (Artikel von
1871)
Anmerkung: sehr kritischer Beitrag zur jüdischen Gemeinde in Worms aus Sicht
der jüdisch-konservativen Zeitschrift "Der Israelit", wobei vor allem an der
Einführung der Orgel in der Synagoge in Worms Anstoß genommen wird, die der
Hauptstreitpunkt zwischen Orthodoxen und Liberalen in den jüdischen Gemeinden
der damaligen Zeit war und vielerorts zur Abspaltung orthodox-jüdischer
Gemeinden geführt hat.
Artikel
in der Zeitschrift "Der Israelit" vom 30. August
1871:"Die israelitische Gemeinde zu Worms
Worms, 21. August. Es ist eine der ältesten und berühmtesten israelitischen
Gemeinden Deutschlands, über deren traurige Verkommenheit zu berichten mir
heute die schmerzliche Pflicht obliegt. Einst tonangebend in der ganzen
jüdischen Welt, ausgezeichnet durch Gelehrsamkeit und Frömmigkeit, der Sitz
der größten Männer der Judenheit, heiliger Märtyrer und Glaubenshelden, ist
von allem dem |
kaum
etwas übrig, als unser berühmter Beerdigungsplatz, auf welchem die Grabmäler
vieler großen Männer die Jahrhunderte überdauert haben. Und die alte
Synagoge, diese älteste, ehrwürdigste und dabei in ihrem Alter so wunderbar
schöne Synagoge? Ach, sie ist entweiht durch unjüdische Einführungen, durch
Orgelklänge, die dem jüdischen Gotteshause fernbleiben sollten!
Wie in anderen großen Gemeinden, so hat sich auch hier eine orthodoxe
Religionsgesellschaft gebildet, die freilich nur aus zwölf Mitgliedern
besteht. Der Glückliche, dem es vorbehalten war, eine Orgel oder Derartiges
in unsere altehrwürdige Synagoge einzuführen, ist der Rabbiner, Herr Dr.
Alexander Stein (vgl.
https://de.wikipedia.org/wiki/Alexander_Stein_(Rabbiner)); denn ein ehemaliger Zögling des Breslauer Seminars (vgl.
https://de.wikipedia.org/wiki/Jüdisch-Theologisches_Seminar_in_Breslau)
sitzt auf dem Rabbinatssitze Raschis, des Rokeach (vgl.
https://de.wikipedia.org/wiki/Eleasar_ben_Juda_ben_Kalonymos) und
des Chawaß Jair (vgl.
https://de.wikipedia.org/wiki/Jair_Chajim_Bacharach)!!!
Die Seele des Widerstandes gegen die Orgelei ist Herr Moses Mannheimer, ein
Schüler des weitberühmten, vor sieben Jahren zu den Vätern heimgegangenen
Wormser Rabbinen R. (Jakob) Koppel Bamberger (das Andenken an den
Gerechten und Heiligen ist zum Segen, vgl. Anmerkung unten). Am 23. Januar a.c.
(anni currentis = dieses Jahres) schied ein Mitglied des Vorstandes aus, und fand deshalb
eine Neuwahl statt. Von 190 stimmberechtigten Gemeindemitgliedern
beteiligten sich nur 42 an der Wahl; 19 von diesen gaben Herrn Moses
Mannheimer ihre Stimmen, der in Folge dessen durch relative Majorität zum
Vorstandsmitgliede erwählt war. Dies Resultat war in der Tat überraschend,
die enragierten (= wütend gewordenen, franz.) Fortschrittler sprühten Feuer und Flamme.
Die im Amte verbliebenen vier Vorsteher erließen gegen die Wahl des Herrn
Mannheimer einen Protest an das löbliche Kreisamt, in welchem sie sagten,
dass Herr Mannheimer ihrem würdigen Rabbiner in der schroffsten Weise
gegenüberstehe und dem Fortschritte in der Gemeinde einen Hemmschuh anlegen
würde; es sei sehr zu bedauern, berichteten die Herren an das Kreisamt, dass
es in Worms noch 19 Juden gebe, die sich dem Fortschritte widersetzen
wollten.
Als größtes Verbrechen wurde in dieser Eingabe Herrn Mannheimer die
Opposition gegen die Orgel in der Synagoge vorgeworfen, welche doch der
Rabbiner von Worms und sehr viele Wormser Männer, Frauen, Knaben und Mädchen
als die höchste Weihe des Gottesdienstes für Sabbate und Feiertage
betrachten.
Unglücklicher Mannheimer! Du bist verurteilt. Du böser, verstockter Mensch
wagst gegen die Orgel in der Synagoge zu opponieren, trotzdem so viele
Wormser Knaben und Mädchen, Männer und Frauen in Verbindung mit einem
ehemaligen Breslauer Seminaristen diese für die höchste Weihe des israelitischen
Gottesdienstes erklären! Was hilft es Dir, verstockter Sünder, dass die
größten Rabbinen, ein Akiba Eger (vgl.
https://de.wikipedia.org/wiki/Akiba_Eger), ein Moses Schreiber (vgl.
https://de.wikipedia.org/wiki/Moses_Sofer), ein Herz Scheuer (vgl.
https://de.wikipedia.org/wiki/Herz_Scheuer) und tausende der größten
jüdischen Geistesheroen die Orgel im jüdischen Gotteshause für unzulässig
erklärt haben und erklären und die Teilnahme an einem Orgelgottesdienste
verboten haben und verbieten – warum beugst Du Dich nicht in Demut vor der
Geschmacksrichtung der vielen Wormser Knaben und Mädchen, vor der Autorität
und dem gediegenen Urteile so vieler Wormser Männer und Frauen, vor den
himmelhohen und abgrundtiefen Gelehrsamkeit eines verbreslauerten Rabinnen?
Gehe in Dich und tue Buße, Du verirrtes Lamm!
Außerdem wurde manches harte Wort gegen den Privatcharakter des Herrn
Mannheimer beigefügt und zum Schlusse wurde die Behörde gebeten, der Wahl
des Herrn Mannheimer die Bestätigung zu versagen; zugleich wurde, wenn die
Behörde sich nicht dem Willen der Herren Vorsteher füge, mit Niederlegung
der Ämter gedroht.
Am 14. März langte vom löblichen Kreisamte der Bescheid herab, dass die Wahl
des Herrn Mannheimer nicht ungültig erklärt werden könne, worauf der
Vorstand Rekurs an das Großherzogliche Ministerium des Innern ergriff. In
dieser Eingabe wurde Herr Mannheimer auf das Schrecklichste mitgenommen.
Mannheimer, wagten diese Herren zu behaupten, gehöre nicht zu den angesehenen Gemeindemitgliedern
in Folge seiner Agitationen gegen die
fortschrittliche Bewegung!!! Er widerstrebe den Verbesserungen (?) im
Gottesdienste, er sei deshalb der böse Geist (sic!) der Friedensstörer!!!
Wahrlich, muss man solchen Behauptungen gegenüber nicht wie Jesaias rufen:
'Wehe (diesen Wormsern), die das Böse gut und das Gute bös nennen, die
Finsternis als Licht und das Licht als Finsternis darstellen, die vorgeben,
dass das Bittere süß und das Süße bitter sei!'
Wie betört sind doch diese Menschen, wie selbstgewiss; sie halten sich für
klüger als die großen Weisen Israels und halten ihren kleinlichen Firlefanz
für das Heil Israels und der Menschheit und wer sich ihrem Harmonium und
anderm modernen Flitter widersetzt – das ist der böse Geist, wohl gar Satan
in höchsteigener Person!
Auch das Kreisamt wird in dieser Eingabe an die höchste Behörde angegriffen;
es habe es nicht der Mühe wert gefunden, sich zu überzeugen; keine Verfügung
sei rätselhaft oder beklagenswert.
Allein das Großherzogliche Ministerium hat den löblichen Wormser Vorstand
keiner direkten Antwort gewürdigt. Unterm 7. Juli zeigt ihm das Kreisamt an,
dass das Ministerium seine Beschwerde als unbegründet verworfen habe, worauf
denn der Vorstand in corpore seine Entlassung gab, die das Großherzogliche
Kreisamt genehmigte und eine Neuwahl von vier Mitgliedern anordnete. Alle |
die
gewechselten Schriftstücke haben dann die abgetretenen Vorstandsmitglieder
lithographieren (vervielfältigen) und in der Gemeinde verteilen lassen.
Es war wohl nicht anders zu erwarten, als dass auch der in seinem
Privatcharakter hart angegriffene und verdächtigte Herr Moses Mannheimer
eine Rechtfertigung an die Gemeindemitglieder richtete. Diese ist nun
gestern erschienen. Wir bedauern, gestehen zu müssen, dass Herr M. sich
nicht dazu auf die Höhe der Situation erhebt. Es ist nicht das Feuer der
Begeisterung und der heilige Eifer für die Erhaltung unserer Religion, denen
wir in dieser Rechtfertigung begegnen, nicht der wohlberechtigte Zorn über
den verkehrten und kleinlichen Sinn der Gegner, die den Kampf für die
Religion der Väter als etwas Verderbliches und Schlechtes bezeichnet haben –
nein, vor allem dem nichts; bloß eine persönliche Zurückweisung der
persönlichen Beleidigungen, Verdächtigungen und Anfeindungen und eine
Heimzahlung den Gegnern mit gleicher Münze.
'Was', ruft Herr Mannheimer entrüstet, 'ihr sagt, ich sei kein angesehener
Mann? Aber seid ihr denn angesehene Männer? Des Herrn P. Familienleben ist
sprichwörtlich, Herr B. gilt bei seinen Kollegen als Mann ohne Verstand,
Herr S. ist als 'Schuft' bezeichnet worden und hat diesen Schimpf auf sich
sitzen lassen, Herr F. ist nichts als der Bruder seines Bruders, Herr M.
bedarf eines Schornsheimer (vgl.
http://www.alemannia-judaica.de/schornsheim_synagoge.htm)
Bauern als Schutzredner etc. etc.
Da wir oben die persönlichen Angriffe nicht notiert haben, so brauchen wir
uns jetzt auch nicht mit der Zurückweisung derselben aufzuhalten.
Nur so viel wollen wir noch bemerken, dass die Zustände in unserer Gemeinde
tief, tief bedauerlich sind. (Hebräisch)
Worms, die einst so heilige, fromme, an talmudischer Gelehrsamkeit
unübertroffene, in Deutschland tonangebende jüdische Gemeinde, in der die
heiligen Märtyrer, die für die Heiligung des göttlichen Namens gern und
freudig ihr Leben hingaben, nach Tausenden zählten – was ist aus Worms
geworden? Das Feuer der Begeisterung ist erstorben, die Gesetzestreue ist
verschwunden, die Kenntnis der Gotteslehre ist dahin und diejenigen, welche
es wagen, für die Religion der Väter einzustehen, werden als der leibhaftige
Teufel (böse Geist) derart angeschwärzt, dass sie selbst in ihrer
Verteidigung für ihre Prinzipien einzustehen Anstand nehmen.
Vielleicht ist die Bloßlegung dieser verfaulten und verkommenen Zustände
dazu geeignet, eine Erhebung und Besserung zu erwirken. L."
Anmerkungen: Zu Rabbiner Alexander Stein siehe auch
Artikel zu seinem Tod 1914 auf Seite zu den Rabbinern (interner Link)
Zu Rabbiner Jakob Koppel Bamberger siehe auch
Artikel zu seinem Tod 1864 auf der Seite zu den Rabbinern (interner
Link)
Außer Moses Mannheimer war auch Rabbiner Dr. Benedikt Levi (1806 – 1899) ein
Schüler von Rabbiner Bamberger vgl.
Artikel auf einer Seite zu Gießen (interner Link). |
Über die jüdische Gemeinde in Worms (Beitrag von
1885)
Artikel in der Zeitschrift "Der Israelit"
vom 18. Mai 1885: Abbildung links: Inneres der Frauen-Synagoge zu
Worms.
"Worms (Mit Illustration.) Die israelitische Gemeinde zu Worms
ist eine der ältesten, vielleicht die älteste in Deutschland. Das
Minhag-Buch (vgl.
https://de.wikipedia.org/wiki/Minhag_(Judentum)), ein im Jahr 1625
geschriebenes Manuskript, erzählt, dass während einer Judenverfolgung im
Jahre 1615 ein Leichenstein zertrümmert worden sei, welcher damals viel über
1.500 Jahre alt gewesen. Es scheinen demnach die Juden mit den Römern sich
am linken Rheinufer angesiedelt zu haben. Die Sage erzählt, dass ein junger
Mann aus dem uralten Dynastien-Geschlecht Dalberg (vgl.
https://de.wikipedia.org/wiki/Dalberg_(Adelsgeschlecht)) oder, wie
man früher sagte, Dahlburg, der im römischen Heere mitkämpfte, bei einem
Kriegszuge der Römer nach Palästina gekommen und in Jerusalem krank und
verlassen zurückgeblieben sei; ein Einwohner der heiligen Stadt habe ihn in
sein Haus aufgenommen, ihn bis zu seiner Genesung verpflegt und dann mit
Reisegeld versehen. Der junge Dalberg kehrte in die deutsche Heimat zurück
und trat, da sein Vater unterdess gestorben, die Herrschaft seiner Länder
an, wozu auch die Stadt Worms gehörte. Als er einige Jahre nachher vernahm,
dass Jerusalem von den Römern erobert und zerstört worden, schickte er einen
Boten ab und ließ seinen Gastfreund auffordern, mit seinen Freunden und
Verwandten zu ihm nach Worms zu kommen; freudig sei der Gastfreund diesem
Rufe gefolgt und so der Begründer der israelitischen Gemeinde zu Worms
geworden.
Die alte Synagoge zu Worms deren Inneres wir unseren geehrten Lesern heute
im Bild vorführen, ist eines er herrlichsten Baudenkmäler aus der ersten
Hälfte des Mittelalters. Sie wurde im Jahr 4794 (1034) von Jakob, dem Sohne
Davids und seiner Gemahlin Rachel an der Stelle einer ältern, baufällig
gewordenen Synagoge erbaut, wie eine von Stein ausgehauene, große, gereimte
Inschrift besagt. Im siebzehnten Jahrhundert der gewöhnlichen Zeitrechnung,
wahrscheinlich im Jahr 1624 (9 Jahre nach der oben erwähnten |
Judenverfolgung)
wurde die Synagoge renoviert, meistens auf Kosten des Vorstehers Davids,
Sohn des Josua Joseph Oppenheim. Er war es auch, der das prächtige
Almemor (vgl.
https://de.wikipedia.org/wiki/Bima) errichten ließ. In der heiligen
Lade (vgl.
https://de.wikipedia.org/wiki/Toraschrein) befindet sich eine auf
Hirschfellen geschriebene Torarolle, deren Schreiber der berühmte Rabbi Meir
von Rothenburg (vgl.
https://de.wikipedia.org/wiki/Meir_von_Rothenburg) gewesen sein
soll. – Die ewige Lampe (vgl.
https://de.wikipedia.org/wiki/Ewiges_Licht) vor dem Aron
Hakkadosch (Toraschrein, heilige Lade) trägt die Inschrift (Hebräisch
und deutsch:) 'die ewige Lampe der beiden Gäste'. Es wird berichtet,
dass einst ein totes Kind aufgefunden, und die Juden beschuldigt, dasselbe
getötet zu haben (vgl.
https://de.wikipedia.org/wiki/Ritualmordlegende). Die ganze
Gemeinde, Männer, Frauen und Kinder sollten dem Tode verfallen, wenn der
Mörder des Kindes nicht namhaft gemacht würde. Das konnte aber nicht
geschehen, denn die Juden waren unschuldig am Tod des Kindes. Schon loderte
der Scheiterhaufen, auf welchem tausende Unschuldige verbrannt werden
sollten. Da kamen zwei fremde, schöne Jünglinge des Weges, und als sie
erfuhren, um was es sich handelte, gaben sie, rasch entschlossen, sich
selbst als Mörder an, um die tausende ihrer Glaubensgenossen zu retten. Sie
wurden verbrannt, und die dankbare Gemeinde widmete ihren Andenken die ewige
Lampe. Nie hat man ihre Namen, nie ihren Stand, nie ihre Heimat erfahren.
Die Sage erzählt, dass aus dem Scheiterhaufen zwei Tauben gen Himmel
geflogen seien, dass es Engel gewesen, die Gott zur Rettung der bedrängten
Unschuld geschickt und die in Gestalt von Tauben zum allgütigen Vater im
Himmel zurückgekehrt seien.
Neben der Synagoge befindet sich links vom Beschauer ein enges Gässchen.
Hier hat die Synagogenmauer eine merkwürdige, unerklärliche Vertiefung. Die
Sage weiß den Grund dafür anzugeben. Als einst die Mutter des berühmten
Rabbi Jehudah Hachassid (vgl.
https://de.wikipedia.org/wiki/Juda_ben_Samuel) durch dieses Gässchen
ging, zur Zeit als sie ihren später durch Gelehrsamkeit und Frömmigkeit
ausgezeichneten Sohn im Mutterschoße trug, fuhr ein roher Mensch durch
dasselbe und wollte die Frau überfahren. Die Geängstigte drückte sich an die
Mauer, und siehe, die Steine hatten mehr Erbarmen als der grausame Mensch.
Die Mauer trat zurück, der Wagen fuhr vorüber und die Mutter und ihr
ungeborener Sohn waren gerettet. Seitdem sei die Mauer in dem Zustande
verblieben, den sie im Augenblicke der Gefahr angenommen.
Sehr merkwürdig ist auch der alte israelitische
Friedhof zu Worms. Der älteste der noch erhaltenen Leichensteine stammt
aus dem Jahr 4660 (900); es ist wohl der älteste Leichenstein, der eine
Jahreszahl trägt. (Der von uns im Jahre 1858 in Mainz aufgefundene
Leichenstein des Mainzer Rabbiners Rabbana Meschullam ben Rabbana Rabbi
Kalominos aus Lucca (vgl.
https://de.wikipedia.org/wiki/Meschullam_ben_Kalonymos), der
ebenfalls aus dem zehnten Jahrhundert stammt, trägt keine Jahreszahl.)
Gleich, am Eingange des Friedhofes befindet sich das Grabmal des berühmten,
von uns bereits oben erwähnten Rabbi Meir von Rothenburg (vgl.
https://de.wikipedia.org/wiki/Meir_von_Rothenburg). Diesen größten
Gelehrten seiner Zeit hatte Graf Meinhard von Görz (vgl.
https://de.wikipedia.org/wiki/Meinhard_II.) im Jahre 1286 gefangen
nehmen lassen, um dadurch von den Juden Geld zu erpressen. Er lieferte ihn
dann an den deutschen Kaiser, Rudolph von Habsburg (vgl.
https://de.wikipedia.org/wiki/Rudolf_I._(HRR)) aus, der den
Gefangenen in einem festen Turm verwahren ließ. Die beiden großen Schüler
des Rabbenu (Rabbiner) Meir, Rabbenu Ascher ben Jechiel (vgl.
https://de.wikipedia.org/wiki/Ascher_ben_Jechiel) und Rabbenu
Mordechai ben Hillel (vgl.
https://www.deutsche-biographie.de/sfz65370.html) reisten in der
Welt umher, um das hohe Lösegeld aufzubringen. Aber der edle Rabbi Meir
erlaubte nicht, dass man ihn auslöse, auf dass sich solche Gewalttaten nicht
wiederholen möchten. Sieben lange Jahre schmachtete er im Gefängnisse, da
starb er. Aber auch nach seinem Tod weigerte man der Leiche das Begräbnis,
bis es vierzehn Jahre nachher einem frommen Juden namens Alexander
Süßkind Wimpfen (vgl.
https://de.wikipedia.org/wiki/Alexander_ben_Salomon_Wimpfen) von
Frankfurt a. M. unter Aufopferung seines ganzen Vermögens gelang, die
Leiche des großen Mannes nach Worms zum Begräbnisse zu bringen. Ihm soll in
der Vornacht des Versöhnungstages (vgl.
https://de.wikipedia.org/wiki/Jom_Kippur) Rabbenu (Rabbiner) Meir
erschienen sein und ihn gefragt haben, ob er als Belohnung Reichtum und
langes Leben oder die ewige Seligkeit wolle; im letzteren Falle jedoch
müsste er bald sterben; Alexander wählte die ewige Seligkeit. Er starb an
dem darauffolgenden Tage während des Neilah-Gebetes (vgl.
https://de.wikipedia.org/wiki/Neïlah) und wurde an der Seite des von
ihm bestatteten großen Mann beigesetzt.- Auch der berühmte Rabbiner von
Mainz, Rabbi Jakob Möln, bekannt unter dem Namen Maharil (vgl.
https://de.wikipedia.org/wiki/Jakob_ben_Moses_haLevi_Molin), liegt
hier begraben. Als im Jahre 1420 die Juden aus
Mainz vertrieben wurden, siedelte er nach Worms über, woselbst er noch
sieben Jahre lebte. Um dieses Grab liegen im Halbkreise eine Reihe berühmter
Rabbiner: Rabbi Simson Bacharach, Verfasser des Chasat Hascheni,
Rabbi Chaim Bacharach, Verfasser des Chawwot Ja'ir (vgl.
https://de.wikipedia.org/wiki/Jair_Chajim_Bacharach), Rabbi Elia
Loanz (vgl.
https://en.wikipedia.org/wiki/Elijah_Loans), bekannt unter dem Namen
Rabbi Elia Baal Schem, ein Enkel des berühmten Rabbi Joselmann von
Rosheim (vgl.
https://de.wikipedia.org/wiki/Josel_von_Rosheim), des kaiserlichen
Befehlshabers der gesamten deutschen Judenschaft, und viele andere. - Es
befinden sich auf diesem Friedhofe auch die Leichensteine vieler Männer, die
für die Heiligung des göttlichen Namens ihr Leben hingegeben. Wehmutsvoller
noch als diese Erinnerungen aus alter Zeit stimmen die Besucher die
tieftraurigen |
Abbildung
links: Inneres der Synagoge zu Worms.
Erscheinungen der Gegenwart. In der alten ehrwürdigen Synagoge hat man eine
kleine Orgel (Harmonium) angebracht, dessen Klänge in unjüdischer Weise den
Gottesdienst begleiten; aus der Frauen-Synagoge, die neben der
Männer-Synagoge liegt, hat man die Scheidewand entfernt, sodass Männer und
Frauen sich unmittelbar nebeneinander befinden. Noch Schlimmeres erblickt
man auf dem Friedhof. Im Angesichte der
Denkmäler der großen und heiligen Männer und Frauen befindet sich ein
Leichenstein, der einer jungen Dame gesetzt wurde, die vor etwa zwei Jahren
starb. Dieser Leichenstein trägt die in Marmor ausgehauene Büste der
Verstorbenen!!! Wir glauben kaum, dass auf dem weiten Erdenrunde so etwas
sich wiederfindet.
Von dem neben der Wormser Synagoge gelegenen Beth Hamidrasch (Lehrhaus)
unseres großen Lehrers Raschi (vgl.
https://de.wikipedia.org/wiki/Raschi) wollen wir in einem folgenden
Artikel berichten." |
Aus dem Wormser "Maaseh-Nissim"-Buch (I. Die Geschichte von den zwei
Gästen, 1892)
Artikel in der Zeitschrift "Der Israelit"
vom 4. Oktober 1892: "Aus dem Wormser 'Maaseh-Nissim'-Buche. Von
S.(amson) Rothschild- Worms
Die Geschichte von den zwei Gästen (Schnei Orachim = zwei
Gäste) Es war kurz vor dem Pessachfeste. Eine Prozession zog durch die
Judengasse. Niemand hatte hiervon eine Ahnung. So kam es, dass unbewusst
eine Flüssigkeit auf die Straße geschüttet wurde, welche zufälligerweise ein
Kruzifix traf. Eine allgemeine Erregung bemächtigte sich der bei der
Prozession beteiligten Personen. 'Das haben die Juden gern getan', rief es
von allen Seiten. Die erregte Menge verlangte nach dem Unglücklichen, auf
dass er seine unschuldige Tat mit dem Leben büße. Man gewährte den Juden
eine Frist bis zum 7. Tage Pessach (Schwi'i schäl Pessach). Sollte
der Täter bis dahin sich immer noch nicht genannt haben, dann sollten alle
Juden der Judengasse für die Tat büßen; sie sollten getötet werden. Der
traurige Tag kam heran. Anstatt Freude herrschte Trauer in der Judengasse.
Die herrlichen Worte (Hebräisch) hatten für die Bewohner derselben die
Bedeutung verloren, denn schon freute sich der Pöbel der bald beginnenden
Mordtaten. Da öffnete der Synagogendiener am Morgen, als er die Leute zum
Gottesdienste rief, das Tor der Judengasse. Zwei in Worms unbekannte Männer
standen vor demselben und begehrten Einlass. 'Wer seid Ihr?' 'Wo kommt Ihr
her und noch am Jomtof (Festtag)?' 'Was ist Euer Begehr?' redete sie der
Synagogendiener an. 'Wisst Ihr nicht, welches Unglück uns arme Juden heute
noch bevorsteht?' |
Wenn
Euch Euer Leben lieb und teuer ist, setzet Euren Fuß nicht in diese
unglückliche Gasse, die heute noch getränkt wird von dem unschuldigen Blute
vieler unserer unglücklichen Brüder. Meidet so schnell als möglich die
Stätte, in der man in wenigen Stunden nichts hören wird, als das Jammern und
Stöhnen der Sterbenden, nichts sehen wird, als das verzweifelte Händeringen
der in den Tod Gejagten!' 'Traurig ist allerdings die Botschaft, die Du uns
bringest', antworteten die Fremden, 'aber sie ist uns nicht neu, wir hörten
in der Ferne von dem Unglücke, das den Wormser Juden bevorsteht und so sind
wir hierher gekommen, um sie von demselben zu retten. Wir wollen uns als die
Täter bekennen.' In der 'Gasse' verbreitete sich schnell die Nachrichten von
der Ankunft und Absicht der beiden Männer. Man brachte sie auf den
Richtplatz und als sie hier der harrenden Menge ihre Absicht kundgegeben
hatten, vollzog man an ihnen unter den entsetzlichsten Schmerzen die
Todesstrafe. Sie hauchten ihre reinen Seelen aus und retteten dadurch eine
ganze Gemeinde von einem schrecklichen Tode. 'Wer die zwei Gäste gewesen,'
schließt das Maaseh-Nissim-Buch, 'weiß man bis auf den heutigen Tag nicht.
Es ist möglich, dass der Allgütige zwei Engel in Gestalt von Menschen
geschickt hat, um das unsägliche Elend von der Gemeinde abzuwenden.' So das
Maaseh-Nissim-Buch. Heute aber brennt ncoh die jüdische Gemeinde aus
Dankbarkeit das ganze Jahr hindurch zwei Lichter für die unbekannten schnei
Orachim (zwei Gäste). Damit auch die Erinnerung an eine solche edle Tat in
hiesiger Gemeinde stets wach erhalten werden, vernehmen wir alljährlich am
schwi'i schäl pessach (am 7. Tag des Pessach-Festes) sowohl in hebräischer,
als auch in deutscher Sprache das 'Memern' die die 'beiden Unbekannten'.
|
Aus dem Wormser "Maaseh-Nissim"-Buch (II. Die Familie Dalberg, 1892)
Artikel in der Zeitschrift "Der Israelit"
vom 17. Oktober 1892: "Aus dem Wormser 'Maaseh-Nissim'-Buche.
Von Samson Rothschild - Worms.
II. Die Familie Dalberg. Etwa dreiviertel Stunden von Worms entfernt,
liegt das große und sehr hübsche Dorf
Herrnsheim.
Am Ende desselben erblicken wir ein großes und prächtiges Schloss inmitten
eines sehr schönen und ausgedehnten Parkes. Es ist das Stammschloss der
Freiherrlichen Familie von Dalberg (vgl.
https://de.wikipedia.org/wiki/Dalberg_(Adelsgeschlecht)), jetzt dem
Freiherrn Heyl zu Herrnsheim in Worms gehörig. In der deutschen Geschichte
spielt diese Familie seit Friedrich Barbarossa eine große Rolle. Ein Dalberg
rettete dem genannten Kaiser bei einem Aufstand in Rom das Leben; zur
Erinnerung an diese Heldentat rief bei jeder späteren Kaiserkrönung der
Herold: 'Ist kein Dalberg da?' War ein solcher anwesend, so empfing er vom
Kaiser die erste Ernennung zum Reichsritter. Der Familie sind namentlich
viele hohe geistliche Würdenträger entsprossen; u.a. Wolfgang, Erzbischof
und Kurfürst von Mainz (vgl.
https://de.wikipedia.org/wiki/Wolfgang_X._von_Dalberg, 1582 – 1601),
Adolf, der Begründer der Universität zu Fulda (vgl.
https://de.wikipedia.org/wiki/Adolf_von_Dalberg). Hervorzuheben sind
noch: Karl Theodor Anton Maria von Dalberg (vgl.
https://de.wikipedia.org/wiki/Karl_Theodor_von_Dalberg), 1810 durch
Napoleons Gnade zum Großherzog von Frankfurt a. M. ernannt, und Wolfgang
Heribert von Dalberg (vgl.
https://de.wikipedia.org/wiki/Wolfgang_Heribert_von_Dalberg), Bruder
des vorigen, bekannt als Intendant des Mannheimer Theaters (vgl.
https://www.marchivum.de/sites/default/files/2018-03/Nationaltheater.pdf)
und Förderer Schillers (vgl.
https://de.wikipedia.org/wiki/Friedrich_Schiller). Über die Familie von
Dalberg schreibt das Nissim-Buch:
'Als ich im Jahre 1623 nach Worms kam, um auf der dortigen Schule zu Füßen
des Rabbi Elias: genannt 'Bal schem' (vgl.
https://de.wikipedia.org/wiki/Israel_ben_Elieser) rabbinischen
Studien zu obliegen, erzählte mir derselbe, dass Worms zu den
jüdischen Gemeinden zähle, welche schon zur Zeit der Zerstörung des ersten
Tempels (vgl.
https://de.wikipedia.org/wiki/Jerusalemer_Tempel) bestanden hatten.
Gleichzeitig erzählte er mir von dem fürstlichen Geschlechte der
Dalberger, wie diese sich so edel gegen die Juden gezeigt und zwar aus
folgendem Grunde:
Ein junger Dalberg hatte das Bedürfnis, die Welt kennenzulernen. Zu diesem
Zwecke machte er große Reisen. Die Absicht, sich in der arabischen Sprache
auszubilden, führte ihn nach Jerusalem. Hier lebte der junge Dalberg in sehr
verschwenderischer Weise, ohne dass er dabei im Erlernen der arabischen
Sprache große Fortschritte gemacht hätte. Plötzlich erkrankte er auf der
Straße sehr bedenklich. Niemand kümmerte sich um den Unglücklichen, der
auch, da er in deutscher Sprache redete, von den Vorübergehenden nicht
verstanden wurde. Nur ein Jude erbarmte sich seiner. Er nahm ihn in sein
Haus auf und pflegte ihn mit großer Aufmerksamkeit und Liebe. Da auch die
ärztliche Hilfe sofort in Anspruch genommen wurde, genas der junge Dalberg
sehr bald. Nach überstandener Krankheit bemühte er sich nun sehr eifrig, die
arabische Sprache zu erlernen, blieb jedoch so lange im Hause des Juden, bis
er wieder von Jerusalem abreiste, nachdem der Jude für ihn alle seine
Ausgaben bestritten hatte. Als der Sohn nach Hause kam, erzählte er seinem
Vater von der aufopfernden und uneigennützigen Liebe des Juden zu Jerusalem.
Natürlich erstattete er Letzterem alle seine Auslagen mit den herzlichsten
Dankesworten zurück. Als nun der Vater bald nach der Rückkehr seines Sohnes
starb und dieser die Stelle des Vaters einnahm, da schrieb er die Geschichte
seiner Rettung zu Jerusalem in eine Chronik mit der Bemerkung, dass er es
allen Dalbergern bis in die spätesten Zeiten zur Pflicht mache, sich stets
freundlich gegen die Juden zu zeigen. Daher wäre auch der Brauch gekommen,
dass bei jeder Beerdigung oder bei jeder Trauung innerhalb der jüdischen
Gemeinde zu Worms 2 Dalberger Diener mit einem Stabe in der Hand dem Zuge
vorangegangen seien. Ebenso erzählte mir Rabbi Elias 'Bal Schem' , wie an
der Eroberung der Stadt Jerusalem einst* (*wahrscheinlich zur Zeit der
Kreuzzüge) auch ein Dalberger teilgenommen habe. Er erinnerte sich des
schriftlich hinterlassenen Wunsches seiner Eltern und nicht nur, dass er den
Juden jenen Schutz angediehen ließ, er nahm auch eine große Anzahl derselben
mit in seine Heimat, wies ihnen unentgeltlich ein großes Grundstück an,
damit sie sich hier anfällig machen könnten und erneuerte die schon früher
bestandene Bestimmung seine Ahnen, dass bei jüdischen Beerdigungen und
Trauungen stets 2 Dalberger Diener mit einem Stabe in der Hand dem Zug
vorangehen sollen.'
Gehört diese Geschichte des Nissim-Buches in das Gebiet der 'Wahrheit und
Dichtung'? Vielleicht bietet sich mir bald einmal Gelegenheit, einen Blick
in die Geschichte des Hauses Dalberg zu werfen, um zu sehen, inwieweit die
dortigen Aufzeichnungen mit denen des Nissim-Buches übereinstimmen oder
nicht. Bis dieses geschehen, gibt uns auch das Archiv der jüdischen Gemeinde
dahier einigen Aufschluss. Wir begegnen dort mehreren Schriftstücken, von
denen nicht alle den humanen und wohlwollenden Geist gegen die Juden atmen.
So ist in einem Aktenstücke vom 10. Mai 1563 von einem Vertrag die Rede
zwischen den Kämmerern von Dalberg, nämlich 'Friedrich und Wolff der
Ältere, Philipp und Wolff der Junge, alle Kämmerer von Worms (vgl.
https://de.wikipedia.org/wiki/Kämmerer_von_Worms), aufgericht mit
gemeiner Judenschaft zu Wormbs, daß ihnen keiner unserer unterthänen uff
liegende Güter und fahrend Hab oder Pfand mehr leihen soll, desgleichen, was
sie jedesmal für das Gleiche zu ihren Hochzeiten und Begräbnissen geben
sollten.' Ein weiteres Schriftstück vom 13. September 1702 enthält eine
Bittschrift der Vorsteher gemeiner Judenschaft zu Worms an |
den
Domcapitularen und Erzpriester vom Dalberg zu Mainz, die jüdischen
Hochzeits- und Trauerzüge durch seine Schaffner und Bedienten des Schutzes
wegen in geziemender Kleidung begleiten zu lassen, nicht aber wie zuletzt
durch Buben in zerlumpten Kleidern und ohne Schuhe und Strümpfe, welche
nicht allein keine Wissenschaft von solcher Begleitung haben.'
Aber die Fälle, in welchen die jüngere Generation der Dalberger den
Traditionen ihres Hauses in Bezug auf die Juden untreu geworden sind, treten
in den Hintergrund gegen eine große Anzahl von solchen, wo der dankbare
Genius der Dalberger schützend und schirmend treue Wacht gehalten hat an dem
Tore, hinter dem sich auftat eine Welt von unsagbarem Leide, von vielem
Kummer, dem preisgegeben waren – die Bewohner der Wormser Judengasse.".
|
Aus dem Wormser 'Maaseh-Nissim'-Buche"
(Die Zaubergans, 1893)
Artikel in der Zeitschrift "Der Israelit"
vom 3. August 1893: "Aus dem Wormser 'Maaseh-Nissim'-Buche*. (Hierzu
die Illustration auf unserer Extrabeilage)
*Aus dem soeben erschienen 'Aus Vergangenheit und Gegenwart der
israelitischen Gemeinde Worms'. Von Samson Rothschild, Mainz, Joh.
Wirth’sche Hofdruckerei A.G. (60 Pfennige)
Die Zaubergans. Es war im Jahr 1643. Eine epidemische Krankheit hatte
viele Bürger von Worms dahingerafft. Nur an dem Tore, das zur Judengasse
führt, hatte der Todesengel Halt gemacht. Dieser Umstand genügte den
aufgeregten Massen, um die Schuld der Epidemie den Juden aufzubürden. Sofort
wurden Zeugen gedungen, die es mit angesehen haben sollen, wie in
mitternächtlicher Stunde die Juden die Brunnen vergiftet hätten. Es wurde
deshalb beschlossen, dass sämtliche Juden an einem festgesetzten Tag (10.
Adar, vgl.
https://de.wikipedia.org/wiki/Adar_(Monat)) umgebracht werden
sollten. Kaum hatten die Unglücklichen von dieser unmenschlichen Anklage
Kunde erhalten, als sie sich zu dem Bürgermeister begaben, diesem ihr tiefes
Leid klagten und ihre Unschuld beteuerten. Der Bürgermeister wollte von der
so schweren Anklage nichts wissen und sprach zu ihrer Beruhigung: 'So wenig
dieses kleine Stäbchen in meiner Hand die eiserne Kette an meinem Tore zu
sprengen vermag, ebenso wenig wird Euch ein Leid treffen.' Aber wie
erstaunten er und die Unglücklichen, als plötzlich die eiserne Kette brach.
Totenblass sprach er: 'Euer Unglück muss von Gott beschlossen sein, sonst
hätte mein dünnes Stäbchen diese starke Kette nicht brechen können. Leider
vermag ich nicht für Euch zu tun.' Kummer und Elend war wieder einmal in der
Judengasse eingekehrt. Endlich nahte der traurige Tag. Die 12 Vorsteher der
jüdischen Gemeinde (12 Parnassim) begaben sich noch einmal auf das
Rathaus, um den dort versammelten Ratsherren in den ergreifendsten Worten
die Unschuld der Juden zu schildern. Aber ihr jammervolles Bitten und
Stöhnen war erfolglos. Kein Mitleid regte sich in dem Herzen ihrer
Widersacher. Da erfasste Verzweiflung die Unglücklichen, die sich und die
ihrigen rettungslos verloren sahen, und sie stürzten sich, ihrer selbst
nicht mehr mächtig, auf ihre Gegner und im blutigen Handgemenge fanden sie
alle mit mehreren Ratsherren ihren Tod. Kaum war die Kunde hier von in die
Massen gedrungen, als ein schreckliches Würgen in den Straßen begann.
Endlich hatte der Würgeengel, der eine so blutige Ernte gehalten, dem Engel
des Mitleids den Platz geräumt. Eine Anzahl braver Familien nahm die wenigen
noch übrig gebliebenen Juden ins Haus auf, um sie den grimmigen Blicken der
Feinde zu entziehen. Niemand hatte eine Ahnung, dass manche christliche
Familie, welche von der Unschuld der Juden überzeugt war, diese in ihren
Räumen beherberge. Da suchte der Spürsinn der Wahnbetörten durch Zauberei
auch diese noch zu ermitteln. Eine Gans flog auf alle Häuser, in denen sich
noch Juden befanden, und so wurden auch diese noch in den Tod gehetzt.
Während dieser traurigen Zeit der Verfolgungen, lebte in Worms ein frommer
Jude, der mit talmudischer Gelehrsamkeit auch hervorragende Kenntnisse auf
anderen Wissensgebieten verband und deshalb mit dem Pfarrer in näherer
Beziehung stand. Diese Tatsache schützte ihn vor Verfolgung. Als nun der
Pfarrer sich eines Tages zur Kirche begeben wollte, machte ihm dieser den
Vorschlag, ihn als Pfarrer vorzustellen, damit er heute die Predigt halte.
Sein Schützling willigte ein. Mit hinreißender Beredsamkeit schilderte der
vermeintliche Geistliche die Leiden der Juden, fragte die Anwesenden, ob das
Gebot: 'Du sollst nicht morden!' für sie nicht in der Bibel stünde, und ob
sie es vor ihrem gesunden Menschenverstande |
verantworten können, einer Zaubergeschichte so viel Bedeutung beizulegen!
Die in der Kirche herrschende Andacht ließ den Prediger erkennen, dass seine
Worte den Weg zum Herzen gefunden hatten. Um aber seinen Worten noch mehr
Nachdruck zu verleihen, schloss er seine Predigt wie folgt: 'Ihr werdet Euch
überzeugen, dass ich recht gesprochen, wenn ich Euch soeben ans Herz gelegt
habe, Euch von den Untaten fortan fernzuhalten, zu denen Ihr Euch von einer
verzauberten Gans habt verleiten lassen. Ihr habt doch sicher die
Überzeugung, dass sich hier in der Kirche kein Jude befinde, und doch
wird wie auf andern Häusern, bald auf dem Giebel des Kirchendaches die Gans
zu erblicken sein.' Die Menge eilte aus der Kirche, um sich zu überzeugen,
und wirklich gewahrte sie auf dem Kirchdache die Zaubergans. Man glaubte den
Worten des vermeintlichen Pfarrers und unterließ es, die Juden weiter
zu verfolgen. Die Erinnerung an jene Leidenszeit hat die Wormser
israelitische Gemeinde dadurch festgehalten, dass sie den 10. Adar zu einem
Fasttage einsetzte.
Noch heute bezeichnet auf dem hiesigen Friedhofe ein einfacher Stein in der
Hälfte der Mauer, welche die Südseite des Friedhofs umgibt, die Stätte, auf
welcher man die 12 Vorsteher (12 Parnassim) zur ewigen Ruhe gebettet
hatte. Der Volksmund bringt die steinerne Gans auf der Martinskirche (vgl.
https://de.wikipedia.org/wiki/St._Martin_(Worms)) mit der soeben
erzählten Geschichte des Nissim-Buches in Verbindung.
Eine Geschichte von Raschi und woher das Sprichwort kommt: Drei Mann und
ein Rosskopf. Wer kennt nicht Rabbi Salomo ben Isak, im Volksmunde
Raschi genannt (vgl.
https://de.wikipedia.org/wiki/Raschi), mit seinen Kommentaren über
Bibel und Talmud (vgl.
https://de.wikipedia.org/wiki/Talmud)? Dieser Raschi unterhielt in
Worms eine Lehrschule und gar viele Schüler saßen zu seinen Füßen, um
andächtig den Worten des Meisters zu lauschen. Über das Weichbild der Stadt
hinaus war der Ruf Raschis gedrungen und auch nichtjüdische Persönlichkeiten
suchten die Nähe des großen Mannes auf, um seine Ansichten über wichtige
Dinge zu hören. So kam denn eines Tages auch der Herzog von Lothringen,
Gottfried von Bouillon (vgl.
https://de.wikipedia.org/wiki/Gottfried_von_Bouillon), im Jahre
1096, im Begriffe gegen die Türken zu ziehen und Jerusalem zu erobern, nach
Worms. Er suchte Raschi auf und wünschte dessen Ansicht über seinen
Kriegsplan zu hören. Nach kurzem Besinnen verkündete ihm Raschi, dass er die
Türken besiegen, Jerusalem und noch andere Orte erobern werde. Viele Schätze
werden in seine Hände fallen und sein aufgenommenes Werk werde dadurch
gekrönt, dass man ihn zum Könige von Jerusalem ausrufen werde. Doch nicht
von langer Dauer werde das Glück sein. Die Türken werden die erlittene
Schmach nicht lange ertragen. Mit verstärktem Heere werden sie gegen Euch
ziehen. Das Glück, das Euch anfangs so hold war, wird sich von Euch
abwenden. Die Türken werden wieder Herren von Jerusalem werden. Viele von
Euch durch das Schwert fallen, andere durch eine Epidemie dahingerafft
werden. Während Ihr in so stattlicher Zahl von hier ausziehet, werden die
Zurückkommenden nur aus '3 Mann und einem Rosskopf' bestehen. Du wirst
meinen Rat, fügte Raschi hinzu, den Zug nicht zu unternehmen, zwar nicht
befolgen, aber du wirst Dich doch noch überzeugen, dass ich wahr gesprochen
habe. Mit großem Erstaunen und immer wachsender Erregung lauschte der Herzog
den Worten Raschis; doch schienen besonders die letzten Worte: 'Drei Mann
und ein Rosskopf' ihn sehr nachdenklich zu stimmen. Er mochte noch so sehr
in Raschi drängen, ihm doch den dunklen Sinn dieser Worte zu erklären; immer
erhielt er das bereits Gesagte ohne jegliche Deutung zur Antwort. Der
Herzog, durch die prophetischen Mitteilungen Raschis, dass das Glück sich
anfangs ihm sehr zuwenden werde, noch mehr bestärkt, beschloss, den
Kriegszug fortzusetzen. Gottfried verließ mit seinen Truppen Worms. Der
Kampf mochte im Heiligen Land noch so sehr toben; immer begleitete den
Herzog die ehrwürdige Erscheinung Raschis, denn das Glück war ihm bei seinen
Unternehmungen so hold, dass alle Prophezeiungen Raschis vollkommen
eintrafen. Doch auch das Unglück stellte sich in solchem Maße ein, dass er
nur mit vier Mann und einem Pferde gen Worms einzuziehen vermochte.
Schon schmiedete er in seinem Innern verwerfliche Pläne, weil die
Prophezeiung Raschis sich nicht in vollem Maße erfüllte, da war er an
dem Stadttore angekommen. Doch kaum öffnete sich für ihn dasselbe, als ein
Balken des Tores herunterfiel, einen Mann tötete und auch das
Pferd, dessen größerer Teil außerhalb des Tores lag, während drei Mann
und der Rosskopf sich in der Stadt befanden. Jetzt fühlte er mit wuchtiger
Schwere die Bedeutung der Worte Raschis und schnell eilte er nach dessen
Wohnung, um ihn, wie er versprochen, fürstlich zu belohnen. Doch Raschi war
in der Nacht – gestorben. Wie gerne hätte er ihm so vieles Wichtige aus dem
Heiligen Lande erzählt. –
Viele Jahre vergingen. Da kamen Nachkommen des Herzogs von Lothringen
abermals nach Worms. Mit besonderer Vorliebe zeigten sie den Juden prächtige
Gegenstände von David und Salomo, die ihr Ahn einst aus Jerusalem
mitgebracht habe. Ganz besonders erregte ein großes Messer in einer |
silbernen
Scheide auf welchen die Worte gestanden haen: David, Sohn Isays, (David
Gen Isai) ihr allgemeines Interesse. -
Das Nissim-Buch schließt diese Erzählung mit den Worten: 'Nun könnt Ihr
sehen, was Raschi für ein großer Mann gewesen, fast ein halber Prophet. Gott
soll uns die Früchte seiner Gelehrsamkeit genießen lassen.'
Die Rabbi-Juda-Chasids-Mauer. Der Fremde, der nach Worms kommt, um
die vorhandenen Denkmäler aus alter und neuer Zeit zu besichtigen, wird wohl
auch nach der Judengasse gehen, um hier die Synagoge zu sehen. Gleich wird
er aber auch nach der 'eingedrückten Mauer' fragen, ob dieselbe noch
vorhanden sei oder nicht. Diese ist allerdings noch vorhanden und das 'Nissim-Buch'
erzählt darüber Folgendes: Eine brave, fromme Frau befand sich einst auf dem
Wege zum Gotteshause in dem engen Gässchen neben der Frauensynagoge. Sie
hatte dasselbe noch nicht verlassen, als ein Wüterich mit seinem Wagen
plötzlich in dasselbe einlenkte, um die arme Frau zu überfahren. Wütend
trieb er seine Pferde auf die Unglückliche; totenblass drängt sich diese an
den kalten Stein. Schon empfiehlt sie in Todesangst ihre Seele dem
Allsehenden, als plötzlich die Mauer zurückweichet und ihr Schutz gewährt
vor der schrecklichen Tat. Wenige Monate nachher genas die Frau eines
Knaben, welcher später unter dem Namen Rabbi Jehuda Hachasid (der Fromme)
bekannt wurde.
Der Sohn des Bürgermeisters. In Worms lebte ein von allen Bürgern
noch angesehener Mann, dessen Sohn jedoch dem Vater sehr unähnlich war, und
es immer darauf abgesehen hatte, auf dem Gange zur Schule und bei der
Heimkehr die Juden durch Schimpfen und Steinewerfen zu belästigen. Man
wusste allgemein, dass der Vater ein derartiges Benehmen seines Sohnes
durchaus nicht billigte. Nachdem dieser aber seine rohe Handlungsweise nicht
einstellte, gab man dem Vater davon Kenntnis, welcher nicht wenig erschrak.
Doch als seine eindringlichsten Ermahnungen nichts nützten, machte der Vater
dem Lehrer hiervon Anzeige, welcher den Jungen hart bestrafte. Die Strafe
des Lehrers hatte scheinbar wohl den gewünschten Erfolg; aber es entwickelte
sich gleichzeitig in dem Herzen des Jungen das Gefühl der Rache gegen die
Juden, das sich mit jedem Tage steigerte. Als der Junge zu einem Studenten
herangewachsen war, machte er einer Anzahl seiner Kollegen den Vorschlag,
sich als Krieger zu verkleiden, Offiziere zu ernennen, und in militärischer
Ordnung den Weg zur Judengasse einzuschlagen. Gewiss wird man uns dort sehr
freudig empfangen. Wir laden die Juden ein, auf dem freien Weg zu
erscheinen, um sich an unserem militärischen Schauspiel zu ergötzen. Sind
sie nun, nichts Böses ahnend, alle erschienen, dann töten wir sie. Auf einen
derartigen schlimmen Ausgang waren die übrigen Studenten nicht gefasst und
einstimmig gaben sie ihrem Freunde ihr Missfallen zu erkennen, mit der
hinzugefügten Bemerkung, dass ihnen nichts ferner liege, als unschuldiges
Blut zu vergießen. Erst nach langem festgesetztem Drängen entschlossen sie
sich, den Freund nur dann in seinem fürchterlichen Plane zu unterstützen,
wenn er als 'Oberster des Regiments' die erste Mordtat vollbringe. Damit
einverstanden, kaufte er sich sofort ein scharf geschliffenes Messer und mit
flatternden Fahnen und klingendem Spiele setzte sich der Zug nach der
Judengasse in Bewegung. Da die Bewohner derselben nichts Schlimmes ahnten,
eilten sie alle herbei. Doch kaum waren sie auf dem freien Platze
erschienen, als plötzlich der 'Oberst' sein Messer hervorholt und dasselbe
auf den ihm nächststehenden Juden zückt. Da ward ihm plötzlich schwach, so
dass er das Messer sinken ließ und selbst zur Erde fiel. Die Juden eilten
herbei und nicht achtend, wer er sei, und was er zu tun beabsichtigte, kamen
sie ihm zu Hilfe, eilten zur Apotheke und pflegten ihn so lange, bis er sich
wieder erholt hatte. Der Wiedergenesene freute sich, dass Gottes Fügung ihn
von der Ausführung einer so schrecklichen Tat ferngehalten hatte. Mit dem
Gelöbnis im Herzen, diese edle Tat der Juden nie zu vergessen, schied er aus
der Gasse. Und was er in seinem Innern feierlich gelobt, hat er als
Ehrenmann gewissenhaft gehalten. Nicht nur so lange als sein Vater noch
lebte, sondern auch als dieser gestorben und er als dessen Nachfolger
wirkte, immer zeigte er sich, seinem Versprechen treu, als aufrichtiger
Freund der Juden.
Der Name der Stadt 'Worms' und der Schlüssel zu ihrem Wappen. Zur
Zeit, als Worms noch eine sehr große Stadt gewesen, lagerte einst ein aus
der Wüste entflohener Lindwurm vor ihren Mauern. Er wird beschrieben: Zwei
Füße, von hinten aussehend wie ein Wurm, sein Rachen spie Feuer und hatte
zwei Reihen großer und spitzer Zähne. Seine Augen waren glühenden Kohlen
gleich. Schon sein Bild, das außen an der Münze auf dem Marktplatze
angebracht war, erregte Schrecken, noch viel mehr aber erregten ihn die
Verheerungen, die er an Menschen und Vieh, an Häusern und Feldern
angerichtet hatte. Alle Versuche, dies Ungeheuer zu töten, waren vergeblich.
Große Furcht bemächtigte sich die Bewohner von Worms. Um das Wüten des |
Lindwurms
zu besänftigen, wurde eine Liste aller Bewohner aufgestellt und das Los
gezogen, wer dem Ungeheuer als Speise vorgeworfen werden sollte. Nachdem die
Opfer jedoch allzu zahlreich geworden waren, weigerte sich die Bürgerschaft
der weiteren Auslosung, und es entstand ein gefährlicher Hader in der Stadt.
Um die Bürger zu beruhigen und ihnen ein Beispiel von Opfermut zu geben,
ließ sich die Königin, deren Gemahl gestorben war, nebst ihren Beamten in
die Verlosungsliste einzeichnen; das wirkte. Es lebten auch damals in Worms
drei Brüder, riesenhafte Gestalten, welche das Schlosser- und
Messerschmiedehandwerk eifrig betrieben. Da jeder Mann von dem traurigen
Opfertode betroffen werden konnte, fertigten die drei Brüder einen Panzer
an, der von außen ringsum mit scharfen Messern versehen war. Eines Tages
fiel das Los auf die Königin. Sie weinte und jammerte so sehr, dass einer
der drei Brüder sich erbarmte und sich bereit erklärte, sich für die Königin
zu opfern. Doch fügte er die Bedingung bei, dass, wenn er durch Gottes Gnade
am Leben bliebe, ihn die Königin zum Gemahl nehmen müsse. Gern willigte die
Königin in diesen Vorschlag ein. Der Schlosser, angetan mit seinem Panzer,
wurde dem Lindwurme vorgeworfen, welcher ihn sofort verschlang, aber die
haarscharfen Messer im Innern zerschnitten den Leib des Ungetüms, sodass
dieses verendete und der Schlosser lebend dem toten Körper entstieg. Großer
Jubel herrschte in der Stadt, welche nun wieder aufatmen konnte. Der Jubel
verstärkte sich, als die Königin ihr Wort einlöste und den Retter der Stadt
zu ihrem Gemahl erkor. Hocherfreut war der jetzt zum König Gekrönte, und
damit die seltsame Art, wie er die höchste Stufe erklommen, nie aus dem
Gedächtnis schwinde und der Nachwelt dauernd erhalten bliebe, nannte er die
Stadt, welche vorher Garmisa geheißen, zur Erinnerung an den Wurm Worms.
Gleichzeitig befahl er, dass das Wappen der Stadt nunmehr zur Erinnerung an
sein früher betriebenes Handwerk einen Schlüssel führen sollte. 'An dem
Rathause', so schließt das, wie schon bemerkt, meinen Erzählungen zugrunde
gelegte, 'Masseh Nissim' Buch, 'befand sich ein Bild, welches die drei
Brüder mit dem Lindwurm und die Königin mit ihrer Krone darstellte.'
Miscellen. (Interessante Inschriften an der Wormser Synagoge).
Die zitierten hebräischen Inschriften werden nachfolgend übersetzt:
'Von der Sehnsucht nach dem Vorhof des Tempels errichtet, stehe das Zeugnis
da in Joseph! Gottesfürchtige! Ihr schaut aufwärts, zum Felsen, zur Schrift,
ihm vorn eingegraben. Den Inhalt beweist, ruft und bezeugt der Stein aus der
Wand, der Balken aus dem Gehölz. Tief grub er bis zum Grunde und führte
aufwärts das Gewölbe, einwärts führt ein gerader Weg und die Wand erhebt
sich aus früheren Trümmern. Dieses alles auf Kosten seines Geldes, auf dass
er im Schatten der Weisheit eine Hütte sich schaffe, unter dem ästigen Baum,
in jener Höhe errichtet -, dort, wo bei'm Aufgang der Sonne das Licht ihm
schön erglänzt, dass Schatten ihm werde in der Hütte, von der Haut dessen,
über welchen die Freunde die Lose werfend würdig zur Teilung im Kreise sich
setzen. Genießen wird er der Freuden Fülle, einem Gurte gleich und Tugend um
seine Lenden, Treue um seine Hüften sich schließen. Gepriesen in Ewigkeit
der, welcher das Flehen erhöret! Denn erfüllet hat er im Glauben das Herz
seines Dieners, des Jakob, des Sohn Davids auf dass dieser mit Einsicht
begabt, seinem erhabenen Namen einen Tempel errichte, und mit ihm seine
Gattin Rachel, hochgeachtet zwischen den Glücklichen. Ihr Vermögen diente
zur Ehre, zur Freude Gottes, ausschmückend verschönerten sie den Tempel, der
im Ellul 794 seine Vollendung erreichte. Lieblicher, denn Opfer gefiel es
dem Schöpfer, lieblicher als Söhne und Töchter empfingen sie ewigen Ruf,
Denkmal und freudigen Glückwunsch. Gesegnet sei ihr Andenken, und wer dies
liest, spreche Amen.'". |
Rechts oben: Äußere Ansicht der Synagoge zu
Worms; unten: Innere Ansicht der Synagoge zu Worms. |
|
Rechts oben: Die Raschi-Kapelle mit
Raschi-Stuhl; unten: Der alte jüdische Friedhof zu Worms. |
|
Zur Geschichte der Juden von Worms und Speyer (Artikel
von 1897)
Artikel in der Zeitschrift "Der Israelit"
vom 20. Mai 1897: "Zur Geschichte der Juden von Worms und Speyer.
Von Samson Rotschild – Worms.
Es ist das überaus große Verdienst des Baseler Professors, Dr. Heinrich
Boos (vgl.
https://de.wikipedia.org/wiki/Heinrich_Boos), dass er das hiesige
städtische Archiv, welches lange Jahr sehr im Argen gelegen, auf
Veranlassung des Freiherrn v. Heyl zu Hernsheim (vgl.
https://de.wikipedia.org/wiki/Heyl_zu_Herrnsheim und
http://www.alemannia-judaica.de/herrnsheim_synagoge.htm) in
vortrefflicher Weise geordnet hat. Nachdem die Ordnung des Archivs im
Wesentlichen 1883 vollendet war, bearbeitete Professor Boos die Wormser
Geschichtsquellen in drei Bänden. Sein neuestes Werk, das vor kurzem
erschienen ist, trägt den Titel: 'Geschichte der rheinischen Städtekultur
von den Anfängen bis zur Gegenwart mit besonderer Berücksichtigung von
Worms.' Freiherr v. Heyl hat das großartig ausgestattete Werk in einer
beschränkten Anzahl von Exemplaren drucken lassen. Es ist
selbstverständlich, dass ein Verfasser, welcher die Geschichte von ehemals
hervorragenden Städten wissenschaftlich zu behandeln hat, nicht gleichgültig
an den alten Dokumenten der jüdischen Gemeinde vorbeigehen kann.
Ebenso selbstverständlich ist es, dass er hierbei sein Hauptaugenmerk der
jüdischen Gemeinde von Worms und Speyer zuwendet. Dies hat der geniale
Professor in so gründlicher und objektiver Weise getan, dass es sicher für
viele Ihrer Leser von Interesse sein dürfte, Näheres zu erfahren.
Nachdem Boos das berühmte Privileg von Heinrich IV. (1056 -1106) (vgl.
https://de.wikipedia.org/wiki/Heinrich_IV._(HRR)) für Worms
bespricht, sagt er: 'Höchst bedeutsam ist es, dass als Nutznießer der
Zollfreiheit die Juden in erster Linie von den übrigen Einwohnern von Worms
genannt werden.' (Judaei et coeteri Vuormatienses). Nicht ohne Grund.
Denn die Juden bildeten ein wichtiges, ja unentbehrliches Element der
damaligen städtischen Bevölkerung. Sie vor Allen waren Kaufleute und werden
als solche ebenfalls in dem Privileg Kaiser Ottos des I. (vgl.
https://de.wikipedia.org/wiki/Otto_I._(HRR)) für Magdeburg vom 9. Juli
965 den christlichen Kaufleuten vorangestellt. Im zehnten Jahrhundert galten
Jude und Kaufmann als synonyme Begriffe.'
Nachdem Boos über das Verhältnis des jüdischen und christlichen Kaufmanns,
über die soziale und geschäftliche Stellung der Juden spricht, fährt er wie
folgt fort: 'In den rheinischen Städten finden wir die Juden schon sehr
früh. Bereits für das Jahr 321 ist die Existenz einer jüdischen Gemeinde in
Köln bezeugt. Im Anfang des 11. Jahrhunderts besuchten die Juden von Mainz
und Worms die Kölner Messe. Der christlichen Sage nach sollten Juden schon
vor der Geburt des Stifters der christlichen Religion in Worms gewohnt und
ihre Glaubensgenossen in Jerusalem von der Kreuzigung, von der sie glaubten,
dass sie durch Juden stattfand, abgemahnt haben. Darum das Sprichwort:
'Wormser Juden, fromme Juden.' Einzelnen Inschriften auf dem jüdischen
Friedhofe vor dem St. Andreastor in Worms wird ein hohes Alter
zugeschrieben. Wie dem auch sei, jedenfalls beweist die im romanischen Stil
monumental erbaute
Synagoge,
dass in Worms eine große Judengemeinde bestanden hat. Laut einer hebräischen
Inschrift wurde die Synagoge oder die Judenschule 1060 vollendet; urkundlich
wird sie erst seit 1290 erwähnt, auch stammt der jetzige Bau erst aus dem
13. Jahrhundert, der Frauenbau, der 1349 verbrannt sein soll, erst aus der
gotischen Bauperiode und die Raschikapelle ist noch späteren Datums.
Wie es im Mittelalter allgemein üblich war, wohnten die Juden in einem
Quartier, oder einer Gasse zusammen, und zwar in Worms in der Pfarrgemeinde
St. Paul. Damit der Pfarrer in St. Ruprecht in seinen Einnahmen nicht
verkürzt wurde, mussten die Juden wie die Christen Stolgebühren (vgl.
https://de.wikipedia.org/wiki/Stolgebühr) bezahlen. Schon im Jahr
1080 wird die Porta Judaeorum erwähnt, also darf man das Zusammenwohnen der
Juden nicht als eine Folge des Judenmordes (vgl.
https://de.wikipedia.org/wiki/Emicho_(Kreuzfahrer)) des Jahres 1096
ansehen. Wir wissen ja, dass die Friesen, dass die Welschen (vgl.
https://de.wikipedia.org/wiki/Welsche) etc. ebenfalls abgesondert in
eigenen Quartieren wohnten. Bei den Juden war das Zusammenwohnen durch ihre
religiöse Stellung bedingt. Ganz besonders lehrreich ist die Urkunde, die
Bischof Rüdiger (vgl.
https://de.wikipedia.org/wiki/Rüdiger_Huzmann) 1084 zu Gunsten der
Juden ausstellte. Aus früheren Urkunden ist uns bekannt, dass außerhalb der
ummauerten Altstadt Speyer ein Dorf lag, das zum Gerichtsbezirk der Stadt
gehörte. Hier hatten sich, wie zu Straßburg und Köln, Kaufleute, darunter
auch Juden, niedergelassen. Der genannte Bischof Rüdiger, der auch den Namen
Huzmann führte, erklärte nun, dass er aus diesem Dorfe eine Stadt machen
wolle, und dass er in dieser Vorstadt die Juden ansiedle. Damit sie aber
nicht durch die Unverschämtheit des Pöbels gestört werden, will er sie mit
einer Mauer umgeben! Das Land zu dieser Ansiedlung hat der Bischof teils |
durch
Kauf, teils als Geschenk der Markgenossen erworben und schenkte es nun den
Juden, unter der Bedingung, dass sie ihm jährlich einen Zins von 3 ½ Pfund
Speyerer Münze zu Frommen des Domstiftes bezahlen sollen. Zugleich erhalten
sie das Recht, innerhalb ihrer Ansiedelung in der Gegend zwischen da und dem
Hafen, am Hafen und durch die Stadt frei Gold und Silber zu wechseln, zu
kaufen und verkaufen, was sie wollen. Sie bekommen ferner aus dem
Kirchengute einen Begräbnisplatz zum
erblichen Besitz, das Recht, fremde Juden zollfrei bei sich zu beherbergen;
ihr Archisynagogus (Synagogenvorsteher) erhält eine Gerichtsbarkeit, wie sie
der Tribunus urbis, d.h. der Stadtschultheiß (vgl.
https://de.wikipedia.org/wiki/Schultheiß), über die Bürger hat; in
schwierigen Fällen sollen sie an den Bischof oder seinen Camerarius (=
Kämmerer) appellieren. Wach- und Schutzdienste brauchen sie nur innerhalb
ihres Bezirks zu tun, und die Verteidigung führen sie gemeinsam mit den
Mannen des Bischofs. Sie dürfen auch christliche Ammen und Dienstboten
mieten und unkoscheres Fleisch können sie den Christen verkaufen. Als
höchsten Grad des Wohlwollens gewährt ihnen schließlich der Bischof das
beste Recht, das die Juden in irgendeiner Stadt des Reiches besitzen. Diese
neubegründete Judenstadt ist später unter dem Namen der Vorstadt Altspeyer,
im Norden der Stadt, gelegen. Sie wurde 1632 von den Schweden verwüstet und
dem Boden gleichgemacht.
Im Jahre 1090 baten die Speyerer Juden Judas, der Sohn des Calominus,
David, der Sohn des Meschullam und Moses, der Sohn des Guthihel,
für sich und ihre Angehörigen den Kaiser Heinrich IV. um Aufnahme in seinen
Schutz. Sie gehörten einer berühmten Rabbinerfamilie an, die aus Lucca
stammte. Bekanntlich geriet Kaiser Otto II. (vgl.
https://de.wikipedia.org/wiki/Otto_II._(HRR)), nach der
Sarazenenschlacht 982 in große Lebensgefahr, aus welcher er durch Hilfe
eines Juden Kalonymus, Sohn des Meschullam, aus Lucca gerettet wurde. Der
Kaiser bewies ihm seine Dankbarkeit, indem er ihn nach Deutschland
verpflanzte. Diese Familie war im Besitz eines Schutzbriefes (vgl.
https://de.wikipedia.org/wiki/Judenschutz), den einst ein
karolingischer König ausgestellt hatte. Otto oder seine Nachfolger haben
dieses Privileg bestätigt und aufgrund dieser Bestätigung ließ dann Heinrich
IV. am 19. Februar 1090 zu Speyer den obengenannten drei Juden eine
Neuausfertigung ausstellen, und zwar in einer Fassung, die zu Gunsten des
Bischofs Rüdiger von Speyer geändert worden war. Auch die Wormser Juden
erhielten zur Zeit, als Salmann Judenbischof https://de.wikipedia.org/wiki/Judenbischof
war, vom Kaiser Heinrich IV. einen Schutzbrief, der jedoch in manchen
Punkten vom Speyerer Diplom abweicht. Im Speyerer Privileg werden dem
Bischof die Rechte vindiziert, welche das Wormser dem Kaiser zuschreibt.
Auch ist die Stellung der Speyerer Juden abhängiger und ungünstiger, als die
der Wormser.
Die Wormser Juden gehören zur Kammer des Königs und stehen unter der
ausschließlichen Gerichtsbarkeit desselben und ihres selbstgewählten
Bischofs. Der König ist für die Juden in Worms die oberste Berufsinstanz.
Alle Bußen fallen dem königlichen Fiskus zu. Niemand darf die Wormser Juden
in ihrem Besitz, Immobilien und Mobilien, stören, wer dies doch tut, fällt
in die Ungnade des Königs, und wer einem Juden etwas nimmt, muss das
Doppelte ersetzen. Auch soll ihnen erlaubt sein, beim Bau ihrer Häuser die
Stadtmauer zu benutzen. In der Tat sitzen noch heute die Häuser in der
Judengasse auf der Stadtmauer, die gerade in dieser Gegend zwischen dem
Martinstor und dem Judentor aus der romanischen Zeit stammt. Die Juden haben
das Recht, in der ganzen Stadt Gold zu wechseln, außer vor dem Hause der
Münzer oder da, wo die Münzer einen Geldwechsel errichtet haben. In ganz
Deutschland dürfen sie freien Handel und Wandel haben, und kein Zoll darf
von ihnen abverlangt werden, noch soll ihnen irgendjemand eine öffentliche
oder private Leistung auferlegen. Auch ist ihnen erlaubt, den Christen
Weine, Salben und Arzneien zu verkaufen. Unter diesen Weinen sind offenbar
südländische zu verstehen, indem namentlich die schweren, edlen Weine aus
Kleinasien und Griechenland beliebt waren. In ihren Häusern brauchen sie
ohne ihre Einwilligung keine Einquartierung aufzunehmen. Niemand darf von
ihnen ein Pferd zur Heerreise des Königs oder des Bischofs fordern oder eine
königliche Heersteuer. Wenn eine gestohlene Sache bei ihnen gefunden wird,
so soll der Jude seine Aussage, dass er sie gekauft habe, nach seinem Gesetz
beschwören und dann gegen Zurückerstattung des Kaufpreises das gestohlene
Gut dem Eigentümer zurückgeben. Niemand darf ihre Kinder gegen ihren Willen
taufen oder er muss zur Strafe 12 Pfund Gold dem König bezahlen. Wer von den
Juden freiwillig getauft zu werden wünscht, soll drei Tage warten, damit man
erkenne, ob er es entweder um des christlichen Glaubens oder erlittener
Unbill willen tut, dann aber soll er mit dem Glauben auch die Erbschaft
seiner Väter abschwören. Ihre heidnischen Sklaven soll keiner unter dem
Vorwande, sie im christlichen Glaube zu taufen, ihnen wegnehmen oder drei
Pfund Silber zur Strafe dem König bezahlen und die Sklaven wieder
zurückgeben. Der Sklave soll seinem jüdischen Herrn in allen Dingen gehorsam
sein, ausgenommen, wenn es den christlichen Glauben angeht. Es soll ihnen
erlaubt sein, christliche Mägde und Ammen zu haben und christliche
Dienstboten zur Verrichtung von Arbeiten zu mieten, es sei denn, dass der
Bischof oder ein Kleriker diesen an Sonn- und Feiertagen den Dienst
verbietet. Sie dürfen aber keine christlichen Sklaven haben. Streitigkeiten |
zwischen
Christen und Juden sollen nach dem versöhnlichen Rechte beider Teile
entschieden werden, hingegen Streitigkeiten unter den Juden von ihren
Glaubensgenossen nach jüdischem Rechte. Niemand darf einen Juden dem
Gottesurteil (vgl.
https://de.wikipedia.org/wiki/Gottesurteil) unterwerfen, wie das
glühende Eisen, die heiße oder kalte Wasserprobe, oder ihn durch Prügel zum
Geständnis zwingen, sondern der Jude schwört nach seinem Gesetze. Auch darf
keiner durch Zeugen, es seien denn zugleich Juden und Christen überwiesen
werden; ihm steht die Appellation an den König frei. Wer gegen diese
Bestimmungen fehlt, zahlt dem Kaiser 3 Pfund Gold. Wer gegen einen Juden
eine Verschwörung macht oder ihm Nachstellungen bereitet, so dass der Jude
dabei umkommt, so sollen beide, der Verschwörer, wie der Totschläger, dem
König 12 Pfund Gold bezahlen; wenn aber der Jude nur verwundet wird, ein
Pfund Gold. Ist es jedoch ein Höriger, der ihn getötet oder verwundet hat,
so büßt der Herr für diesen oder bestraft ihn. Kann der Täter die Strafe aus
Armut nicht bezahlen, so soll er bestraft werden, wie jener, der den Juden
vivus getötet hat, nämlich mit dem Verluste der Augen und der rechten Hand.
Freilich, weder der König noch der Bischof konnten die Juden vor der
fanatischen Wut der Kreuzfahrer und des christlichen Pöbels schützen. In der
Not ließen sich viele Juden taufen. Damals, 1096, nahm sich Rabbi Moscheh,
Sohn des Rabbi Jekuthiel (das ist Moses, Sohn des Guthihel in der Urkunde
von 1090) seiner Glaubensgenossen in Speyer kräftig an. Durch seine
Vermittelung kehrten die zwangsweise Getauften wieder zum Glauben ihrer
Väter zurück.
So erwies sich der Schutzbrief der Juden doch noch wirksam. Die
Judenverfolgung des Jahres 1096 erschütterte die ehrenvolle Stellung der
Juden. In der Betätigung der Wormser Zollfreiheit durch Heinrich V. (vgl.
https://de.wikipedia.org/wiki/Heinrich_V._(HRR)) vom 16. Oktober
1112 stehen die Juden nicht mehr in erster, sondern in zweiter Linie und in
der Bestätigung Friedrichs I. (vgl.
https://de.wikipedia.org/wiki/Friedrich_I._(HRR)) vom 3. Januar 1184
werden sie überhaupt nicht mehr erwähnt. Während bis zur Zeit Heinrichs V.
die Juden den übrigen Kaufleuten vorangestellt waren, trat nun eine scharfe
Scheidung zwischen Juden und Christen ein. Die zweite Judenverfolgung vom
Jahre 1146 offenbarte von neuem ihre gefährdete Lage. Ja, sogar der allseits
verehrte Bernhard von Clairvaux (vgl.
https://de.wikipedia.org/wiki/Bernhard_von_Clairvaux) erregte den
Unwillen des Volkes, als er gegen den fanatischen Mönch Radulf (vgl.
https://de.wikipedia.org/wiki/Radulf_der_Zisterzienser), der das
Volk gegen die Juden aufhetzte, predigte. Es ist nicht allein religiöser
Fanatismus, der das Volk wider die Juden aufbrachte, sondern es wirkten dazu
noch mehr wirtschaftliche Motive. Man bedurfte nun, da die Städte im Laufe
des 11. Jahrhunderts aufgeblüht waren, der merkantilen Vormundschaft der
Juden nicht mehr, und ihre gefährliche Konkurrenz erregte den erbittertsten
Hass. Wir können an der Hand der Urkunden Schritt für Schritt verfolgen, wie
die Juden seit der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts rechtlich
heruntergedrückt wurden. Nur noch beim König fanden sie Schutz, den sie
freilich mit schwerem Gelde erkaufen mussten. Friedrich I. nahm sich ihrer
an. Von Worms aus erließ er am 06. April 1157 ein Privileg, worin er den
Schutzbrief Heinrichs IV. bestätigte. Während der Landfrieden Heinrichs IV.
vom Jahre 1103, den für die Stellung der Juden maßgebenden Satz
ausgesprochen hatte, dass alle Juden im Reiche unter dem Frieden des Königs
stünden, betont Friedrich I. schärfer die Unterordnung der Juden unter die
königliche Gewalt. Von da ab bewegt sich die Geschichte der Juden in
absteigender Linie. Der fremde Kaufmann, welcher sich in einer Stadt
niederlässt, verschmilzt mit den übrigen Einwohnern, der Jude hingegen sinkt
zum königlichen Kammerknecht herab und sondert sich von der christlichen
Bevölkerung. Friedrich II. nennt 1236 die Juden Kammerknechte. Universi
Alemanniae servi camerae nostrae. Selbstverschuldung der Juden, Neid,
Habgier und fanatischer Glaubenshass der Christen trugen dazu bei, die Lage
der Juden immer gefährlicher zu machen.
Man warf den Juden den Mord von Christenkindern (vgl.
https://de.wikipedia.org/wiki/Ritualmordlegende) vor, und der von
keinem Glaubenszweifel heimgesuchte Kaiser Friedrich II. beeilte sich, sie
von dem Verdachte völlig freizusprechen, indem er ein wissenschaftliches
Gutachten über die Anklage des rituellen Christenmordes abfassen und
gestützt darauf ein reichsgerichtliches Urteil fällen ließ. Auch Papst
Innozenz IV. (vgl.
https://de.wikipedia.org/wiki/Innozenz_IV.) erhob am 5. Juli
1247 dagegen seine Stimme. Es nützte den Juden wenig, denn bis zur heutigen
Stunde herrscht noch in gewissen Gegenden dieser gotteslästerliche Wahn.'
So weit die Mitteilungen des Herrn Prof. Boos über die Geschichte der Juden,
welche in anderen Kapiteln zuweilen noch gestreift wird. Das Werk selbst
beschließt den 1. Band mit dem Kapitel: 'Der große rheinische Städtebund.'
Wir freuen uns schon jetzt auf den folgenden II. Band, der jedenfalls am
interessantesten und speziell für die jüdische Geschichte, dem ersten nicht
nachstehen wird."
Vgl.
https://www.historicum-estudies.net/etutorials/tutorium-quellenarbeit/beispielanalysen/privileg-barbarossas
Zur Familie des Kalonymus:
https://de.wikipedia.org/wiki/Kalonymiden. |
Zur Geschichte der Juden in Worms - Buchbesprechung
(1900)
Artikel in der Zeitschrift "Der Israelit"
vom 5. März 1900: "Zur Geschichte der Juden in Worms. Von Samson
Rothschild, Worms.
Der III. Band von 'Geschichte der rheinischen Städtekultur mit besonderer
Berücksichtigung von Worms', herausgegeben von Prof. Boos (vgl.
https://de.wikipedia.org/wiki/Heinrich_Boos) in Basel ist
erschienen. Er enthält für die Geschichte der Juden im Allgemeinen und der
von Worms im Besondern schätzbares Material, von welchem ich einiges
mitteilen möchte.
Der Verfasser bespricht die Leiden der Juden während der Kreuzzüge, wo des
'Reiches Kammerknechte' für den oft prekären Schutz dem König jährlich den
goldenen Opferpfennig, eine Kopfsteuer, die z.B. in Nürnberg jährlich
zwischen 3 und 4.000 Gulden betrugt, zahlen musste. Wie der König, so
verstand es auch der Bischof und die |
Städte,
die Juden zu schröpfen. In Worms besaßen die Juden 1315 Grundeigentum in den
verschiedenen Pfarrgemeinden, aber bald nachher versuchte die Geistlichkeit,
den Juden ihren Besitz zu entreißen und sie aus der Stadt zu verdrängen, was
ihnen jedoch nicht gelang. In der Judengasse gab es damals sehr stattliche
Häuser, die Zeugnisse von dem Reichtum der Wormser Judengemeinde ablegten.
War doch diese im Stande, der Stadt im Jahre 1377 ein Darlehen von 20.000
Goldgulden zu machen, eine für jene Zeit enorme Summe. An der Spitze der
Wormser Judengemeinde stand ein Rat, dessen Vorsitzender Judenbischof hieß.
Ursprünglich wählte die Gemeinde ihren Vorsteher selbst, aber der Bischof
machte ihnen das Recht streitig. Am 25. Juli 1312 kam es mit Hilfe des
Wormser Rates zu einem Vergleich. 1. Der Vorstand der Judengemeinde besteht
nun aus 12 Räten, die nach jüdischem Rechte richten sollen. Der Bischof
ernennt einen der 12 Ratsherren zum Judenbischof auf Lebenszeit, das Amt
selbst ging indess unter ihnen allmonatlich um. Jeder neue Judenbischof
musste dem Bischof 20 Pd. Wormser Pfennige zahlen. 2. Der Judenrat ergänzte
sich durch Kooptation. So oft einer der 12 Räte abgeht, wählten die übrigen
11 Judenräte innerhalb eines Vierteljahres einen anderen achtbaren Juden,
diesen soll dann der Bischof bestätigen und der Bestätigte ihm den
gewöhnlichen Judenratseid schwören. Für jedes neue Mitglied zahlt der
Judenrat dem Bischof 60 Pfund Heller. 3. Versäumen die 11 Judenräte
innerhalb eines Vierteljahres die Wahl, so setzt der Bischof von sich aus
einen in den Judenrat, der dem Bischof 60 Pfund Heller zahlt. 4. Fällt die
Besetzung einer Ratsstelle oder eines Judenbischofs in die Zeit einer
Sedisvakanz, so tritt das Domkapitel in die Rechte des Bischofs. 5. Verlässt
einer der Judenräte die Stadt, so soll ihm sein Ratsamt drei Jahre lang
offenstehen; erst nach Ablauf dieser drei Jahre wird das Ratsamt ledig. 6)
Nur bei der Wahl eines Ratsmannes soll die Stimmenmehrheit entscheiden.
Diese Verfügung, von Bischof Reinhart I. (vgl.
https://de.wikipedia.org/wiki/Reinhard_I._von_Sickingen) bestätigt,
wird von Bischof Johannes von Dalberg 1488 wieder geändert.
Während die Juden noch im 14. Jahrhundert Bürger der Stadtsein konnten, ist
dies im 15. Jahrhundert nicht mehr der Fall. Sie wurden nur noch geduldet.
Ihnen wurde nur noch ein Niederlassungsrecht (Gedinge) auf bestimmte Zeit
gewährt. Bezeichnend ist der Eid, den zu schwören ihnen der Rest auferlegte.
Im 15. Jahrhundert vertrieben die Städte Köln,
Augsburg,
Ulm, Nürnberg die Juden, in Worms
hätte man es auch getan, wenn der Kaiser sie nicht geschützt hätte, aber
dafür drangsalierte man die Juden auf jede mögliche Weise. Am 1. November
1584 erlässt der Rat eine neue Judenordnung, welche 25 Paragraphen enthält.
1615 werden die Juden von Worms vom Pöbel misshandelt. Sie wenden sich an
den Kaiser, der sich der Sache annimmt, und an den Pfalzgrafen Friedrich V.
(Winterkönig, vgl.
https://de.wikipedia.org/wiki/Friedrich_V._(Pfalz)), der in einem
Schreiben vom 14. April 1615 seinen scharfen Tadel über die Exzesse
ausspricht. Dessen ungeachtet werden sie aus der Stadt vertrieben mit Weib
und Kindern, ohne Schonung der Kranken und Kindbetterinnen; auch hatten die
Bürger die Synagoge zerstört und die Grabsteine ausgerissen, was einen
scharfen Verweis des Kaisers zur Folge hatte. Im Jahr 1699 erwarben die
Juden durch Vertrag mit der damals bedrängten Stadt die Aufhebung ihrer
Leibeigenschaft, in entschiedenstem Widerspruch zu den Vorschlägen
Seidenbenders, der am 15. Mai 1690 die Frage aufgeworfen hatte, ob man nicht
bei der Wiederaufrichtung des Gemeinwesens die Juden völlig ausschließen
sollte, und der Wormser evangelischen Geistlichkeit, die verlangte, dass der
Magistrat die Juden zum wenigsten zum Kirchenbesuch und zur Anhörung
göttlichen Wortes (nicht zum christlichen Glauben selbst) anzutreiben per
vim sive disciplinam externam verbunden sei.
Über die Anzahl der Juden in den mittelalterlichen Städten herrschen nach
Boos übertriebene Vorstellungen. So besitzen wir für Nürnberg einige
authentische Angaben. Im Jahre 1338 zählte Nürnberg 212 Juden, und die
Zählung vom Jahre 1449 ergab 150 Köpfe.
In Frankfurt betrug die Zahl der Juden: 1241 über 200 Personen, 1431 über
102 Personen, 1473 über 131 Personen, 1703 über 2.364 Personen, 1817 über
4.309 Personen, 1880 über 13.856 Personen.
In Worms war die Gemeinde im Mittelalter sehr groß. 1491 erließ der Kaiser
ein Ausschreiben an die Städte des Reichs, wonach die Juden folgendermaßen
geschätzt wurden:
Frankfurt auf 600 Gulden, Worms auf 400 Gulden,
Friedberg auf 35 Gulden,
Wetzlar auf 30 Gulden, Gelnhausen auf 80
Gulden, |
die
Städte im Elsass auf 100 Gulden,
Schweinfurt auf 100 Gulden.
Im Mai 1377 gewährte die Wormser Judengemeinde dem Rat der Stadt ein
Darlehen. Der Brief ist von 36 Männern unterschrieben, die jedenfalls der
Wormser Gemeinde angehörten. In der Aufzeichnung über die Steuerleistungen
der Wormser Juden werden 35 Juden namentlich aufgeführt, darunter der Rabbi,
der Schulklepper und der Vorsänger, der Bader gibt nichts; ferner sind
genannt ein Arzt, ein Bartscherer, ein Metzger, dazu kommen noch 30
Studenten.
Über den Ursprung der Wormser Juden meint Boos, dass die rheinischen Juden
aus Italien und Frankreich stammen. Diese Judengemeinden bildeten eine
engverbundene Gemeinschaft, die unter sich regen Verkehr unterhielten.
Kölner Juden finden wir in Frankfurt und Worms. Wormser Juden in den
verschiedenen Rheinstädten. Die Juden wanderten häufig. In dem Wormser
Verzeichnis aus dem 15. Jahrhundert wird ein Jakob von
Ulm genannt, ferner ein Selickmann von
Ingelheim, ein Gottschalck von Walch
und ein Lesser Walch. Unter Walch sind Juden romanischer Herkunft zu
verstehen. Laut dem Statut von 1312 durfte kein Walch in den Judenrat
gewählt werden.
Boos bespricht dann nach den frommen Sinn der jüdischen Gemeinde von Worms,
erzählt von Raschi (vgl.
https://de.wikipedia.org/wiki/Raschi) und Rabbi von Rotenburg (vgl.
https://de.wikipedia.org/wiki/Meir_von_Rothenburg) und schließt sein
Kapitel 'die Juden' mit den Worten: 'Noch manch berühmter Name wäre zu
nennen. Den Juden ist die Erinnerung an sie ein süßer Trost für die vielen
Leiden, die sie die Jahrhunderte hindurch zu dulden hatten.' . |
Zur Geschichte der Juden in Worms (I. Die Zerstörung von Worms im Jahre 1689
und ihre Folgen, II. Wormser Flüchtlinge, a) Meir Eisenstadt, Artikel von
1900)
Artikel in der Zeitschrift "Der Israelit"
vom 18. Januar 1900: "
Zur Geschichte der Juden in Worms
(I. Die Zerstörung von Worms im Jahre 1689 und ihre Folgen……….)
Zur Geschichte der Juden in Worms
I. Die Zerstörung von Worms im Jahre 1689 und ihre Folgen (Fortsetzung,)
Aus der Zeitliteratur teile ich ein von einem Augenzeugen der Zerstörung
verfasstes, höchst seltenes Klagelied mit, das Cat. Bodl.
https://de.wikipedia.org/wiki/Bodleian_Library No. 3677 aufgeführt ist und
folgendermaßen lautet:
(Jiddisch in hebräischer Schrift) |
Fortsetzung
des jiddischen Klageliedes mit Anmerkungen. |
... Der Verfasser des Klagelieds, Sekle (wohl die Koseform von
Jizchak, Anmerkung S.R.) war einer von den Wormser Flüchtlingen, die
anno 1689 nach allen Windrichtungen sich zerstreuten. Nachfolgende
Zusammenstellung enthält die Namen und Lebensumstände derjenigen
Flüchtlinge, die in der jüdischen Literatur als solche verzeichnet sind.
a. Meir Eisenstadt. Meir b.(en) Isack Eisenstadt (Maharam E"sch)
(vgl.
https://de.wikipedia.org/wiki/Meir_Eisenstadt, geb. 1660, gest. 7.
Juni 1744, war Rabbiner in Schidlow (vgl.
https://de.wikipedia.org/wiki/Szydłowiec bzw.
https://en.wikipedia.org/wiki/Szydłowiec) und wurde von da an das
Lehrhaus des Samson Wertheimer (vgl.
https://de.wikipedia.org/wiki/Samson_Wertheimer) nach Worms berufen.
Allein die Kriegswirren zwangen ihn anno 1689 von da an zu flüchten. Samson
Wertheimer, dessen Freundschaft und Wohltätigkeitssinn so manchem jüdischen
Gelehrten zu statten kam, hatte die Berufung des Rabbi Meir nach Worms
veranlasst; er sorgte auch jetzt wieder für seinen gelehrten Schützling,
dessen Lebensunterhalt er zweifellos aus eigenen Mitteln bestritt und dem er
später das Rabbinat in Prossnitz (vgl.
https://de.wikipedia.org/wiki/Prostějov) verschaffte, wo unser Rabbi
Meier von 1702 bis 1712 verweilte! Dort schrieb er seine Novellen zu
Masechat sewichim, von dort rühren auch viele auch viele RGA her, die im
Panim Me'irot 1. Teil veröffentlicht wurden. In lebhaftem
Briefwechsel stand er mit dem bekannten Chacham Zebi (vgl.
https://de.wikipedia.org/wiki/Zwi_Hirsch_Aschkenasi), dessen Tochter
an den Sohn des Meier Eisenstadt, namens Isack, der den Rabbinatsstuhl in
Biala einnahm, verheiratet war. Von Prossnitz kehrte unser R.(abbi) Meier
wieder nach seinem alten Rabbinatssitz Schidlow zurück , wo er eher für sein
eigenes Studium und den Unterrichtder Schüler die nötige Zeit zu finden
hoffte. Sein Gönner Samson Wertheimer veranlasste später seine Berufung nach
Eisenstadt (vgl.
https://de.wikipedia.org/wiki/Eisenstadt), wo er ums Jahr 1717 die
Rabbinerstelle übernahm und bis an sein Lebensende verweilte. Dieser
Aufenthalt erlitt a.(nno) 1723 eine mehrmonatige Unterbrechung als R. Mier
wegen einer Denunziation nach Polen zu flüchten gezwungen war (vgl.
(Hebräisch) Abschrift Schemini). Näheres über R. Meir Eisenstadt und seine
Wirksamkeit s. Orient 1847, S. 381 u. 444, vgl. auch Kaufmann Samson
Wertheimer, S. 64 ff.
(Fortsetzung folgt)
Zur Zerstörung von Worms durch die Franzosen im Jahr 1689:
https://www.worms.de/de/kultur/stadtgeschichte/wussten-sie-es/liste/2014-02_Franzosen_am_Rhein.php
https://www.dilibri.de/rlb/content/titleinfo/782874." |
Zur Geschichte der Juden in Worms (II. Wormser Flüchtlinge, b) Isack Blin, Artikel von 1900)
Artikel in der Zeitschrift "Der Israelit"
vom 12. April 1900: "Zur Geschichte der Juden in Worms (II.
Wormser Flüchtlinge; (Fortsetzung.)
b. Isack Blin. Isack Blin, Sohn des Elieser Sussmann, war zur Zeit
der Zerstörung von Worms einer der dortigen Vorsteher und flüchtete von da
nach
Frankfurt, wo er Freitag, 2. Nissan (18. März) 1695 ins Jenseits
einging. Seine Grabschrift lautet: (Hebräisch)
Sein Tod wird auch im Wormser Memorbuch (ed. Berliner, S. 22, Zeile 6 von
unten gemeldet, wo unmittelbar auch der Heimgang seiner Frau Fromet
betrauert wird, die zehn Jahre nach ihrem Gatten aus dem Leben schied. Sie
war die Tochter des Wormser Talmudlehrers Mosche Öttingen und starb in Worms
am Dienstag, 1. Tamus (23. Juni) 1705.
Die Familie Blin, die heute noch in Worms vertreten ist, führt ihren
Stammbaum auf mehrere Jahrhunderte zurück - Anmerkung 1. Einer der
alten Gelehrten daselbst war Elia ben Mose Blin, von dem die Bodleiana in
Oxford (vgl.
https://de.wikipedia.org/wiki/Bodleian_Library) (Cod. 2184)
Rechtsbescheide besitzt und der als Lehrer und Verwandter des Herz Treves in
Frankfurt, des Verfassers eines kabbalistischen Kommentars zum
Gebetbuch, bekannt ist (cf. Horowitz, Frankfurter Rabbinen I, 23; Mate
levi S. 3 N. 16). Nach Zunz (zur Geschichte und Literatur S. 107) war er
früher in
Bingen wohnhaft. Er starb in Worms am Sabbat, 18. Adar II (28.
März) 1587, seine Frau Blümlin starb daselbst in der Nacht vom 5./6. Aw
(14./15. Juli) 1630. Von seinen Kindern starb Elieser Sussmann vor dem Vater
anno 1551, sein Sohn Aron - Anmerkung 2 - starb 1622, seine Tochter
Fromet, die 1631 starb, war die Gattin des gelehrten Vorstehers R.
Feibelmann - Anmerkung 3 -, der 1641 in Nikolsburg (vgl.
https://de.wikipedia.org/wiki/Mikulov) zu seinen Vätern einging; des
Letztern Sohn, Rabbiner Aron, war einer der Schulrektoren in Worms,
kam dann als Rabbiner nach Metz und starb daselbst an der Pest 1635
(vgl. Memorbuch, S. 12, wo seine Leistungen als Vorbeter rühmend
hervorgehoben werden). – Ein Sohn des in der Überschrift genannten Isack
Blin namens Elia, war Rabbinatsassessor in Worms und starb hochbetagt
am Freitag, 16. Adar I (16. Februar)1680. Ein
Anmerkung 1) Cod. 672 Oxford (vgl.
https://de.wikipedia.org/wiki/Bodleian_Library) nennt einen Mose ben
Elia Blin, der vor 1465 in Worms lebte und wahrscheinlich Urgroßvater
des hier genannten Elia ben Mose war.
Anmerkung 2) Eine Tochter dieses Aron, namens Sorlen, war an den
Gelehrten Rabbi Abraham Aberle ben Mose Landau verheiratet, der 1666 in
Worms an der Pest starb (Memorbuch S. 28).
Anmerkung 3) Eine Anfrage von ihm findet in (Hebräisch) Nr. 118. |
Sohn
dieses Elia namens Josua Falk, war lange Zeit Gemeindekassier in Worms;
das Memorbuch rühmt u. a. seine Gastfreundschaft, er starb am Mittwoch, 15.
Siwan (31. Mai) 1730.
Die Familie Blin war auch im Elsass sesshaft. Mose Blien aus
Hönheim
wird um die Mitte des 18. Jahrhunderts als Armeelieferant erwähnt -
Anmerkung 4; er ist jedenfalls identisch mit Mose Blin in
Bischheim,
der von Sabbatai Kohen in der Einleitung zu seinem Sefer Minchat Cohen
Fürth 1741) als Mäzen gepriesen wird.
Auch sonst findet sich der Name Blin in der jüdischen Literatur, so Elieser
ben Jakob Blin als Verfasser von Awronot (Cat. Bodl. vgl.
https://de.wikipedia.org/wiki/Bodleian_Library S. 958); ein
Rafael Blin aus Nizza und Simson Blin in Parma werden von
Gadalja ibn Jachja genannt (ibid. S. 2877, cf. Gross, Gallia judaica p.
384).
(Fortsetzung folgt)." .
|
Zur Geschichte der Juden in Worms (II. Wormser Flüchtlinge. c) Elieser
Liberman; Artikel
von 1900)
Artikel in der Zeitschrift "Der Israelit"
vom 9. Juli 1900: "Zur Geschichte der Juden in Worms (II. Wormser
Flüchtlinge). (Fortsetzung)
c. Elieser Libermann. Elieser Libermann, der 1689 von Worms nach
Amsterdam flüchtete, gehörte der Familie Mansbach an. Dieser Name, der heute
noch in jüdischen Kreisen vertreten ist, scheint mir eher auf das
talmudische MaNZPaCH zurückzuführen sein, als auf die Stadt Ansbach -
Anmerkung 1. Der erste Träger dieses Namens ist Naftali Herz, Sohn
des Gerschon. Eine talmudische Rechtsfrage zwischen ihm und Elia Blin (vgl.
Artikel oben) behandelt Cod. 2184 der Bodleiana (vgl.
https://de.wikipedia.org/wiki/Bodleian_Library). Der Sohn des
Naftali Herz hieß Jiftach Josef und ist unter dem Namen Juspa Schamasch
bekannt. Er studierte 1620 in
Fulda
unter Rabbi Pinchas Horwitz - Anmerkung 2 - und kam 1623 nach
Worms, wo er 30 Jahre als Synagogendiener, Beglaubter und Thoraschreiber
fungierte, bis er am Sabbat 13. Schewan (5. Februar) 1678 - Anmerkung 3
- aus dem Leben schied. Seine Frau Rebecka Peierchen, Tochter des
gelehrten Rabbi Jechiel, starb 1688. Aus der Ehe gingen 3 Söhne und 2
Töchter hervor. Der älteste Sohn, Jacob, starb schon anno 1666 (Memorbuch S.
28), der jüngere, namens Samuel, starb 1699 (Memorbuch S. 21); der jüngste
ist der in der Überschrift genannte Elieser Libermann. Von den Töchtern war
die eine, namens Mindele, an Samuel Sofer in Worms verheiratet, von
dem als Wormser Flüchtling weiter unten die Rede sein wird. Die andere
Tochter, Tamar, war an Löb Batenheim verheiratet und starb 1666. Juspa
Schamasch ist Verfasser des noch ungedruckten Sefer Lekitei Josef,
eines Kommentars zum Gebetbuch; er schrieb ferner das Sefer Musar und
das Maasei Nassim, die von seinem Sohne Elieser Libermann in
Amsterdam dem Druck übergeben wurden; endlich stellte er auch die
Wormser Minhagim (vgl.
https://de.wikipedia.org/wiki/Minhag_(Judentum)) zusammen. (Cod.
Oxford) – Elieser Libermann fand die Werke seines Vaters handschriftlich vor
und ließ sie in Amsterdam - Anmerkung 4 - drucken (1690 ff.).
Er selbst verfasste gemeinschaftlich mit Abraham Margaliot eine Tefila
Lekibuz Galiotenu (Amsterdam 1705). Elieser Libermann, der 1724 in
Amsterdam starb, hinterließ 3 Töchter und 2 Söhne, der das oben S. 12
mitgeteilte
Klagelied auf die Zerstörung von Worms verfasste und wahrscheinlich
gemeinsam mit seinem Vater nach Amsterdam geflüchtet war. Isack Sekle (vgl.
Artikel) erhielt seine Ausbildung an der Jeschiba in Metz. Das
Bet-hamidrasch (Lehrhaus) Ez Chaiim in Amsterdam (vgl.
https://de.wikipedia.org/wiki/Bibliothek_Ets_Haim) besitzt ein
von dessen Hand geschriebenes Buch, das Erklärungen zum Pentateuch (vgl.
https://de.wikipedia.org/wiki/Tora) und am Schluss die Schilderung
verschiedener Zeitereignisse, sowie endlich eigene genealogische
Aufzeichnungen enthält, die jedoch nur geringen geschichtlichen Wert haben -
Anmerkung 5.
(Fortsetzung folgt.)
Anmerkung 1) Vgl. Hock, Die Familien Prags, S. 373 n. Der Ursprung
der Familie weist jedenfalls auf Worms hin. Träger des Namens finden
sich in Amsterdam und Prag (?); ein Rabbiner Jakob Mansbach in
Kreuznach wird in RGA Schawot Jaakow 11 Nr. 161 genannt; er
gehörte, wie alle Wormser Mansbach, dem Levitenstamm an. Es gibt übrigens
auch Mansbach, die ihren Ursprung aus
einem in Kurhessen liegenden Dörfchen gleichen Namens herleiten.
Anmerkung 2) Derselbe war zuerst Appellant in Prag, dann Rabbiner in
Fulda; von Fulda kam er als Rabbinatspräses
nach Prag, wo er 1653 aus dem Leben schied. Vgl. Sch"T chassat Jair
Nr. 123, Lieben, Galed Nr. 138. Seine Frau Lipet war die Tochter des Bezaled
und Enkelin des hohen Rabbi Löw (vgl.
https://de.wikipedia.org/wiki/Judah_Löw); die zweite Frau Jutel,
Tochter des Samuel Esriel, starb 1640 in Prag (dass. S. 91), ein anderer
Sohn, David, war Rabbinatsassessor in Wien (vgl. Buber Anaschei Schem
Nr. 414).
Anmerkung 3) Vgl. Lewysohn, Epitaphien, S. 69; Memorbuch S. 28.
(Seligmann) Bär in Awodat Jisrael Einleitung VI hat die unrichtige
Jahreszahl T"M.
Anmerkung 4) Ein Abraham ben Salomon Levi, aus der Familie Mansbach,
war ebenfalls Buchdrucker in Amsterdam; cf. Cat. Bodl. (vgl.
https://de.wikipedia.org/wiki/Bodleian_Library) Nr. 7740.
Anmerkung 5) Eine Abschrift derselben verdanke ich der Güte des Herrn
Sigmund Seeligmann in Amsterdam." |
Zur Geschichte der Juden in Worms (II. Wormser Flüchtlinge,
d) Samuel Sofer, e) Manlin See; Artikel von 1900)
Artikel in der Zeitschrift "Der Israelit"
vom 22. Oktober 1900: "Zur Geschichte der Juden in Worms II.
Wormser Flüchtlinge (Fortsetzung)
d. Samuel Sofer. Samuel (Sanfel) Sofer,
Sohn des Aron Benjamin (Wolf) war Gemeindeschreiber und Beglaubigter in
Worms. Er flüchtete nach Hamburg, wo er 1693 ein Rätsel über den Tabak
(Hebräisch) schrieb, wie er auch ein Jahr vorher ein Lied drucken ließ, das
er der Chewrat Kadischah... in Worms bei Übergabe einer neuen Thorarolle anno
1677 gewidmet hatte - Anmerkung 1. Er schrieb auch ein Rätsel über
die
Brille - Anmerkung 2. 1697 hielt er sich in
Hanau, wo
er im Hause des Enkels des Rabbi Elia Loanz (vgl.
https://en.wikipedia.org/wiki/Elijah_Loans)
aus dem Gräberbuche
seines Schwiegervaters Juspa Schames (s.o. S. 45) den Eintrag über Rabbi Elia (Loanz) kopierte
- Anmerkung 3. Nach der
Restaurierung von Worms kehrte er dahin zurück - Anmerkung 4 - und starb dort am 20. Tischri (20. Oktober) 1712. Seine Frau Mindele,
die Tochter des ebengenannten
Juspa Schames, starb in Worms am 20. Siwan (23. Juni) 1723) - Anmerkung 5. Das Wormser Memorbuch S. 24 nennt einen Sohn, Kalman, der vor dem Vater am 7. Ijar (13.
Mai) 1712 starb; ein Sohn Wolf war Rabbinatsassessor in Worms, wirkte dort
in dem von Löb Sinzheim gestifteten Lehrhause und starb am 27. Tischri (7.
Oktober) 1760 (Memorbuch S. 47); eine Tochter Chajele starb 1712 (das S.
24). Die Witwe des genannten Kaufmann heiratete in 2. Ehe den Vorbeter
Mordechai in Mainz;
eine Tochter aus 1. Ehe, ?itle, starb als Braut 1734 in Mainz (Mainzer
Memorbuch, No. 558, wo sich der Zusatz findet, dass die Verstorbene
(Hebräisch) gewesen ist.
e. Manlin See. Menachem (Manlin) See - Anmerkung 6 - war vor der Katastrophe Vorbeter in Worms und
flüchtete mit vielen Genossen nach Metz (s.o. S. 4), wo er wahrscheinlich
geboren war, da dort der Name See sich häufig findet.7) Auch in der neuen
Heimat wirkte er als Vorbeter. Als im Jahre 1698 zwei Sendboten aus Worms
abgingen, um zum Wiederaufbau von Synagoge, Gemeinde- und Privathäusern
Gelder zu sammeln, kamen sie auch nach Metz, wo in ihr Kollektenbuch
folgender Eintrag gemacht wurde:
(Hebräisch)
Manlin See starb in Metz vor 1709. Seine Söhne Isack und Simon Koblenz sind
im dortigen Gemeindebuch verzeichnet (Revue XIX, 128 ff.)
(Fortsetzung folgt.)
Anmerkung
1). Cf. Wolf bibl. hebr. I, 2061. Cat. Bodl. No. 6998, Cat. Rosenthal S.
1172, No.
15 II, der Anfang des Liedes lautet (Hebräisch)
Anmerkung 2) Kaufmann, Jair Chajim Bachrach, S. 76n
Anmerkung
3) Ebendas,
Anmerkung
4) Von ihm rührt der Eintrag im sog. Grünen Buch fol. 225 von (Hebräisch)
1689, der eine Spezifikation des der jüd. Gemeinde gehörigen Silberschatzes
enthält; cf. Kaufmann das S. 74. Auch bewahrt das Wormser israelitische
Gemeindearchiv einen Brief mit einer Namensunterschrift d. d. 4. Siwan 1202,
in welchem er aus Auftrag des Vorstandes in Worms nach Heidelberg an die
isr.(aelitischen) Vorsteher der Pfalz in Forderungssache sich wendet, vgl.
Löwenstein, Kurpfalz S. 102 n.
Anmerkung 5) Vgl. Wormser Memorbuch S. 34, Z.(eile) 8 v.(on) u.(nten), wo (Hebräisch)
anstatt (Hebräisch) zu lesen ist.
Anmerkung
6) Die Deutung des vielfach umstrittenen Familiennamens (Hebräisch) die
Kaufmann in Revue XX, S. 309, gibt, wird neuerdings von Freudenthal (Aus der
Heimat Mendelssohns, S. 299) wieder angefochten.
Anmerkung
7) Cf. Revue XX, 310. |
Zur Geschichte der Juden in Worms (II. Wormser Flüchtlinge, Schluss;
f) Rafael Durlach, g) Samuel Schwob, h) Jehuda Menz; Artikel von
1900)
Artikel
in der Zeitschrift "Der Israelit" vom 31. Dezember
1900: "Zur Geschichte der Juden in Worms.
II. Wormser Flüchtlinge (Schluss).
f. Rafael Durlach Rafael b(en) Baruch Durlach, der in Worms das Amt des Rabbinatsassessors
bekleidete, flüchtete von da nach Mainz, wo er als Vereinsrabbiner bei der
dortigen Chewra Kaddischa (vgl.
https://de.wikipedia.org/wiki/Chewra_Kadischa)
Anstellung fand. Das Protokollbuch dieses Vereins - Anmerkung 1 - enthält folgenden
Eintrag: (Hebräisches Zitat)
Der hier geschilderte Vorgang bezieht sich auf die Zeit, als Mainz am Anfang
des Jahres 1689 von den Franzosen belagert wurde. Der Friedhof, zu dem
während der Belagerung der Zugang unmöglich war, wurde erst nach oben
genanntem Tage – 10. Januar 1690 – wieder freigegeben. Die bis dahin im
Synagogenhof bestatteten Leichen wurden ausgegraben und auf den Friedhof
transferiert und der 1. Schebat (vgl.
https://de.wikipedia.org/wiki/Schevat) wird
heute noch von der Beerdigungsbruderschaft als Freudentag gefeiert.
Rafael Durlach kehrte später wieder nach Worms zurück und starb 1.
Tischri (Neujahr) 5475 -
10. September 1714. – Am folgenden Tage wurde er mit großen Ehren beerdigt.
Sein Sohn Jakob Elieser, gewöhnlich Rabbi Leser Durlach genannt, war
nahezu 50 Jahre Rabbinatsassessor in Worm, wo er 7./8. Adar I. (14./15.
Februar) 1777 starb - Anmerkung 3. Der Sohn des Dajan Leser, namens Maier Durlach, war
Herausgeber von Elia Loanz Koheletkommentar (Berlin 1775) (vgl.
https://de.wikipedia.org/wiki/Kohelet)
- Anmerkung 4.
g. Samuel Schwob Samuel Schwob, der in Pressburg (vgl.
https://de.wikipedia.org/wiki/Bratislava)
wohnte, nennt sich in einem Briefe an den Vorstand von Worms, d. d. 26. Ijar
- 10. Mai 1706 Migula Wirmisa. In diesem Briefe, dessen Original im jüdischen
Gemeindearchiv von Worms sich befindet,
bittet der Genannte um die Stättigkeit für die Dienerin Krönchen, die
Tochter Josefs, cf. Kaufmann, Jair Chaim Bacharach, S. 76 n.
h) Jehuda Löb Menz. Jehuda Löb ben Mose Josef Menz, Korrektur des
Nachalat Schewaah ed. Frankfurt 1693, fügt seinem Namen den Zusatz
Migula Wirmisa bei."
Anmerkung
1) Durch die dankenswerte Güte des Herrn Rabbiner Dr. Bondi wurde mir ein
Einblick in des Buch gestattet
Anmerkung
2) Wormser Memorbuch ed. Berliner S. 25, Kobez al Jad 1893 S. 20.
Anmerkung
3) Wormser Memorbuch ibid. S. 51
Anmerkung
4) Vgl. Löwenstein, Kurpfalz S. 168 u. 2." |
Hinweis auf einen publizierten Vortrag von Benas Levy über die Juden in Worms
(1914)
vgl.
https://www.amazon.de/Die-Juden-Worms-Geschichte-Literatur/dp/1332555934
Artikel in der "Allgemeinen Zeitung des Judentums"
vom 30. Oktober 1914: "Die Juden in Worms. Ein Vortrag,
gehalten von Benas Lev, Berlin. Verlag von M. Poppelbauer, Berlin C 2 1914.
Anmutige populäre Schilderung, die mit einer Beschreibung der Synagoge
anhebt und im Verlaufe die mannigfachen, mitunter nicht traurigen Schicksale
der Wormser Gemeinde erzählt. Die historischen Vorgänge werden schlicht
berichtet, interessante Stellen aus Historiken und Urkunden mitgeteilt, auch
Legenden werden berücksichtigt. Gelegentlich werden die Abgaben einzelner
Gemeindemitglieder genau verzeichnet. Bestimmte Quellen werden im
Allgemeinen nicht genannt, aber das Ganze macht, wenn ich auch keine
Gelegenheit hatte, die Angaben nachzuprüfen, den Eindruck eines guten, aus
zuverlässigen Hilfsmitteln herbeigeholten Buches. Die Darstellung ist
einfach und gut lesbar. L.G." |
Vorstellung
des Buches von Samson Rothschild über "Die Abgaben und die Schuldenlast der
Wormser jüdischen Gemeinde 1563-1854" (1926)
Artikel in der "Jüdisch-liberalen Zeitung" vom 29. Januar
1926: "S.(amson) Rotschild: Die Abgaben und die Schuldenlast der
Wormser jüdischen Gemeinde 1563 – 1854. Ein Beitrag zur Geschichte der
jüdischen Gemeinde Worms. Mit zwei Briefen des Stadtarchivars Prof.
Weckerling Broschiert, 43 S. Der verdienstvolle Erforscher der
Geschichte der Wormser Juden hat seinen bisherigen Veröffentlichungen (aus
Vergangenheit und Gegenwart der israelitischen Gemeinde Worms; Beamte der
Wormser jüdischen Gemeinde; Emanzipationsbestrebungen der hessischen
jüdischen Großgemeinden im vorigen Jahrhundert; Raschi) diese neue wertvolle
Werkchen angereiht, das als Beitrag zur Wirtschaftsgeschichte einer
deutschen Gemeinde das ganze Judenelend der Judengemeinden in Deutschland
vom 16. bis 18. Jahrhundert widerspiegelt und als Baustein für die
Städtegeschichte der deutschen Juden nach dem Dreißigjährigen Kriege
bleibende Bedeutung beansprucht. Der Stadtarchivar von Worms gibt dem
Büchlein das Begleitwort auf den Weg, dass der Verfasser es vorzüglich
verstanden habe, 'die Ursachen klar darzustellen, infolge der die
Judengemeinde Worms schon im Mittelalter finanziell sehr schlecht gestellt
war und dann besonders im 17. und 18. Jahrhundert von so einer
außerordentlichen Schuldenlast bedrückt wurde.'
Annähernd ein halbes hundert Urkunden aus einem Zeitraum von etwa
dreihundert Jahren liegen der überaus fleißigen und gewissenhaften Arbeit
zugrunde. Sie zeigen ein düsteres Bild von Erpressungen und Verzweiflung.
Unglaublich erscheinen die zahllosen Arten der erzwungenen Abgaben, die als
Geleitgeld und Schutzgeld an Magistrat und Kirche, als Kriegssteuern,
Kronsteuern, Reichspfennig u.s.f. (= und so fort) an die kaiserlichen
Hofkammern zu zahlen waren. Am schlimmsten lastete der Druck des Magistrats
zu Worms. In einer Eingabe an den Vertreter des Kaisers gegen Ende des
Dreißigjährigen Krieges, schüttet die Wormser Judenschaft ihr bedrücktes
Herz in rührender Klage aus: 'So wenden wir uns an Eure Exzellenz in aller
Demut mit der Bitte, dass dieselbe vor allem zu erwägen geruhe, in welch
unglücklicher Lage jetzt die Gesamtheit sowohl wie jeder einzelne von uns
elendiglich schmachtet, indem uns der Ackerbau und anständiger Handel
nicht gestattet, sind wir durch andere regelmäßig Abgaben an den
Bischof von Worms sowohl als an die Erben von Dalberg und
ebenso durch jährlich zu zahlende Abgaben von den Häusern bedrückt
worden, wir unser Hab und Gut aber durch den täglich mehr sinkenden Kredit
verlieren und bei dieser Lage der Dinge uns nicht anderes von der Zukunft
versprechen können, als dass wir unsere Häuser, die wir seit 1.700 (!)
Jahren in der genannten Stadt inne gehabt haben, verlassen und mit dem
leeren Ranzen in die Verbannung gehen müssen. (Seite 5).
Bis über die Mitte des 19. Jahrhundert, 1851, seufzten die Wormser Juden
unter der angehäuften, vor allem durch den Dreißigjährigen Krieg, die
Verwüstung der Pfalz durch Ludwig XIV. und den Spanischen Erbfolgekrieg
unerträglich angeschwollenen Schuldenlast, von der sie schließlich durch ein
gütliches Übereinkommen unter großen persönlichen Opfern hochherziger
Gemeindemitglieder um die Mitte des 19. Jahrhunderts erst sich befreien
konnten.
Allen für Geschichte der deutschen Juden interessierten Kreisen empfehlen
wir das auch äußerst geschmackvoll ausgestattete Büchlein aufs Wärmste. Vom
Verfasser aber erhoffen wir noch manchen gleich wertvollen Beitrag zur
Geschichte der Wormser Juden. Rabbiner Dr. Seligmann, Frankfurt a.
M.". |
Gedenkfeier: 200 Jahre Zerstörung der Stadt durch die Franzosen im Jahr 1689 (1889)
Artikel in der Zeitschrift "Der Israelit"
vom 12. Juni 1889: "Worms, 31. Mai. In würdig-ernster Weise
wurde heute hier der zweihundertjährige Gedenktag der Zerstörung der Stadt
Worms durch die Franzosen (31. Mai 1689) gefeiert. Die Feier war eine rein
kirchliche. Nachdem gestern abend (8 – 9 Uhr) das festliche Geläute von
sämtlichen Kirchen der Stadt den Bewohnern den wichtigen Gedenktag ins
Gedächtnis gerufen hatte, folgte heute Nachmittag in den Kirchen aller
Konfessionen (Protestanten, Katholiken und Israeliten) Festgottesdienst, an
welchem sich die Behörden und die Schulen in corpore beteiligten." |
Zur Geschichte der Wormser jüdischen Gemeinde
(1911)
Artikel in der Zeitschrift "Der Israelit"
vom 14. Dezember 1911: Abbildung 1: Alter Friedhof der
Wormser jüdischen Gemeinde. |
Abbildung
2: Kanne aus 1710 des Wormser Männerwohltätigkeitsvereins
Abbildung 3: Becher aus 1609 des Wormser Männerwohltätigkeitsvereins
Abbildung 4: Portal und Versammlungshalle des neuen Friedhofs dem Wormser
jüd. Gemeinde
Zur Geschichte der Wormser jüdischen Gemeinde (mit vier Bildern)
In der Gedenkschrift zur Eröffnung des neuen Friedhofs in
Worms macht Herr Max Levy (vgl.
https://de.wikipedia.org/wiki/Max_Lewy) in einer erschöpfenden
Abhandlung über die Geschichte der Wormser jüdischen Gemeinde u. a. auch
folgende Angaben: Juden sollen sich schon in vorchristlicher Zeit in Worms
niedergelassen haben. So wird sowohl in der Chronik eines Augustinermönchs
aus dem bei Worms gelegenen Kloster Kirchgarten, als auch in dem
Mase Nissim-Buche des Juspa Schammes erzählt. Auch Josef Friedrich
Schannat, der Gerichtsschreiber des Bistums Worms, reiht die Juden den
ältesten Bewohnern von Worms an. Johann Friedrich Moritz führt ebenfalls
viele angebliche Beweisstücke für das in die vorchristliche Alter der
Wormser jüdischen Ansiedelung an, ebenso eine handschriftliche Chronik aus
dem 18. Jahrhundert in der Wormser Paulusbibliothek.
Aus dem elften Jahrhundert befinden sich noch manche Grabsteine auf dem
Friedhofe. Für Größe und Ansehen der Wormser jüdischen Gemeinde damaliger
Zeit spricht auch die Tatsache, dass in ihr die erste Rabbinatsversammlung
auf deutschem Boden und zwar in der ersten Hälfte des 11. Jahrhunderts
abgehalten wurde. Rabbi Gerschom ben Jehuda von Mainz (vgl.
https://de.wikipedia.org/wiki/Gerschom_ben_Jehuda), der als
Begründer des Talmudstudiums in Deutschland gilt, war der Einberufer dieser
Versammlung, deren wichtigster Beschluss in dem Verbote der Polygamie
bestand. Und lockte nicht bald nachher die Talmudschule unter Isaak Halevi
und Isaak ben Jehuda den jungen Raschi (vgl.
https://de.wikipedia.org/wiki/Raschi, 1040 - 1115) nach Worms)?
Damals war die Glanzzeit der Wormser jüdischen Gemeinde. Reeller
kaufmännischer Großhandel verschaffte ihr Wohlstand, der es ermöglichte,
dass sie, gleich dem Kaiser Heinrich IV. im Kampfe gegen seine Widersacher
treu zur Seite stehen und ihm zum Siege verhelfen konnte. Aber fürstlich war
auch der Lohn. Der Kaiser gewährte in einer in Worms vollzogenen Urkunde vom
18. Januar 1074, dass die Juden und die anderen Bewohner von Worms künftig
als Belohnung für ihre Treue in sechs königlichen Zollstätten, worunter
Frankfurt a. M. Zollfreiheit gewähren sollten.
Doch das Schicksal wollte es, dass die Wormser jüdische Gemeinde bald von
ihrer stolzen Höhe in kläglichen Niedergang kommen sollte. Im Jahre 1096 bei
Beginn des ersten Kreuzzugs erlag sie, die 800 Seelen zählte, grausamer
Vernichtung. Das Andenken an die damaligen 12 Gemeindevorsteher, die
heldenhaft starben, wird durch einen Stein mit kurzer Inschrift, der sich an
der Südmauer des Friedhofs befindet, noch erhalten.
Der Beginn der 'Kammerknechtschaft' (vgl.
https://de.wikipedia.org/wiki/Kammerknechtschaft) der Juden datiert
aus der Zeit des Zweiten Kreuzzugs, da sie gegen Geldopfer an die
kaiserliche 'Kammer' den kaiserlichen Schutz vor Verfolgung erstrebten.
Dennoch wurde im Jahre 1146 Rabbi Samuel ben Isaak erschlagen. Kaiser
Friedrich Barbarossa gab der Wormser jüdischen Gemeinde am 6. April 1157
einen Schutzbrief. Aber bei Beginn des Dritten Kreuzzugs 1196 erlagen
trotzdem einige Wormser Juden mörderischer Verfolgung. Im Jahre 1213
stiftete Judith, die Frau des Rabbi Meir (vgl.
https://de.wikipedia.org/wiki/Meir_von_Rothenburg), die
Frauensynagoge. Da der Friedhof sich um die Mitte des 13. Jahrhunderts als
zu klein erwies, wurde er durch Niederreißen einiger von der jüdischen
Gemeinde dem Andreaskloster abgekauften Häuser vergrößert.
Aus dem Jahre 1278 berichtet Friedrich Zorns Chronik: 'Die Judenschaft hat
den Bürgern von Worms 400 Pfund Heller geben, dass sie ihnen ihren Kirchhof
unzerstört gelassen haben, welchen sie im Sinne hatten einzureißen und gar
zu schleifen.' Der kaiserliche Schutz erwies sich in der Folge nicht wirksam
genug. Da schloss die Wormser jüdische Gemeinde mit dem Bischofe, der sich
mit wechselndem Glücke um die Vorherrschaft in Worms bemühte und auch in
Bezug auf die Gemeindeverwaltung und die Gerichtsverfassung der Juden
mitzusprechen begehrte, im Jahre 1312 einen diese Fragen regelnden Vertrag,
dessen Bestimmungen fast unverändert bis zum Ende des 18. Jahrhunderts im
Verhältnisse zum Bischofe in Kraft blieben, wenn sie auch durch vielfachen,
späteren, das Wohn- und Handelsrecht bestimmenden Judenverordnungen der
Stadt von ihrer Bedeutung einbüßten. Im Jahre 1348 wurden nämlich die Juden
der Stadt mit Leib und Gut von Kaiser Karl IV. überliefert. Sei fielen 1349
während einer Seuche als 'Brunnenvergifter' (vgl.
https://de.wikipedia.org/wiki/Brunnenvergiftung#Mittelalter) grausam
abergläubischem Fanatismus, der von Geißlern genährt wurde, zum Opfer.
Aber schon 1355 ließ sich der Wormser Rat von Karl IV. die Erlaubnis geben,
Juden, die ein unentbehrliches Ingredienz der Bevölkerung geworden waren,
wieder als Stadtbewohner aufzunehmen. Die Besiedelung der Wormser Judengasse
vollzog sich rasch. Nur waren die Häuser nicht mehr, wie früher, Eigentum
der jüdischen Insassen, sondern durch kaiserliche besondere Schenkung nach
1349 der Stadt gehörig an die von nun an die Juden Miete dafür |
zahlen
mussten. Da auch das Wohnrecht ihnen nur für kurze Zeit zugestanden und nur
immer unter schweren Bedingungen erneuert wurde, konnten sie nicht mehr zu
erheblichem Wohlstand kommen. Fehlten doch auch außergewöhnlich große
Anforderungen nicht. So brauchte die Stadt, um einen Gegner zu befriedigen,
1377 die große Summe von 20.000 Goldgulden, die sie zwangsweise von den
Juden erholen. Diese konnten allerdings nur 6.668 fl. sofort aufbringen,
aber in einer hebräisch verfassten Urkunde mussten sich 36 unterzeichnete
Juden verpflichten, den Rest in vier jährlichen Raten zu zahlen.
Der jüdische Friedhof diente nicht nur den Wormser Juden, sondern auch denen
der weiteren Umgegend als Begräbnisplatz. Bei jeder Beerdigung eines
auswärtigen Juden erhielt sowohl der Bischof als auch der Städtmeister zwei
Gulden.
Wie groß mag der Schmerz und die Angst der jüdischen Gemeinde gewesen sein,
als Johannes Pfefferkorn (vgl.
https://de.wikipedia.org/wiki/Johannes_Pfefferkorn) 1509 mit einem
kaiserlichen Schreiben an den Rat nach Worms kam, um alle Thorarollen und
talmudischen Bücher seiner früheren Glaubensgenossen zu vernichten. Ein
Verzeichnis der damals in Worms vorhanden gewesenen Thorarollen, Gebet- und
talmudischen Bücher befindet sich noch im Wormser Stadtarchive. Dass
Pfefferkorns Vorhaben vereitelt wurde, war hauptsächlich dem Humanisten
Reuchlin (vgl.
https://de.wikipedia.org/wiki/Johannes_Reuchlin), dem in Worms ein
Standbild beim Lutherdenkmal (vgl.
https://de.wikipedia.org/wiki/Lutherdenkmal_(Worms)) errichtet ist,
zu verdanken.
Nicht minder groß muss der Kummer der jüdischen Gemeinde gewesen sein, als
sie im Jahre 1519 die Wahrnehmung machte, dass städtische Werkleute den
Friedhof schändeten, Grabsteine ausgruben und wegfuhren, um sie zu profanen
Zwecken zu verwenden.
Im Jahre 1521 wurde von Kaiser Karl V. (vgl.
https://de.wikipedia.org/wiki/Karl_V._(HRR)) der Rabbi Samuel zum
'Obersten Rabbi im heiligen Reiche' ernannt mit dem Sitze in Worms, wo
häufig Gemeindetage, Vorsteher- und Rabbinerversammlungen stattfanden, da
dessen jüdischer Gemeinde eine Art Vorzugsstellung unter den Juden
Deutschlands zugestanden war.
Im Jahre 1615 wurden die Juden gegen den Willen des Magistrats von
aufständischen Zünftigen aus Worms vertrieben. Das Wormser städtische Archiv
enthält die Akten über diesen Vorfall, dabei auch ein vollständiges
gerichtliches Inventar der in den einzelnen Häusern zurückgelassenen Habe
der Vertriebenen. Als sie auf kaiserlichen Befehl mit militärischem Geleite
im nächsten Jahre wieder in die Stadt eingelassen wurden, fanden sie zu
ihrem Schmerze die Synagoge verwüstet und viele Grabsteine auf dem Friedhofe
zerschlagen. Waren durch dieses Exil der jüdischen Gemeinde schon schwere
Wunden geschlagen worden, so vernichtete der bald nachher ausbrechende
30jährige Krieg ihren geringen Wohlstand vollends. Das gesamte Vermögen der
Wormser Juden betrug damals in Friedenszeiten etwa 100.000 Gulden. Davon
musste die jüdische Gemeinde in den Jahren 1631 und 1632 fl. 9.480 und von
1635 -37 fl. 37.726 für außergewöhnliche Kriegsschatzungen opfern. Überdies
wurden in dieser Zeit aus den Speichern der Judengasse 400 Malter (vgl.
https://de.wikipedia.org/wiki/Malter_(Einheit)) Getreide , aus den
Kellern 100 Fuder (vgl.
https://de.wikipedia.org/wiki/Fuder) Wein abgeführt, sodass die
Gemeinde in ganz ärmliche Verhältnisse kam. Trotzdem pachtete sie, wie es
schon früher geschehen war und zu veränderten Bedingungen, auch später
geschah, im Jahre 1659 wieder von Kurpfalz, das 'Judengeleite' für 2.200
Gulden jährlich. Welcher Jude die Städte und Landgemeinden in den
pfälzischen Ämtern, wozu damals auch die Oberämter
Heidelberg,
Mosbach,
Bretten, Alzey,
Oppenheim,
Kreuznach,
Bacharach mit ihren vielen Gemeinden
gehörten, passieren wollte, der hatte für einen Batzen (vgl.
https://de.wikipedia.org/wiki/Batzen) einen Geleitspass bei der
Wormser Gemeinde zu lösen, deren Rabbiner übrigens auch für die
kurpfälzischen Juden das Richterrecht in religiösen Angelegenheiten ausübte.
Und nun nahte die Zeit, die nicht nur den Juden, sondern der gesamten
Bürgerschaft wieder schlimmstes Unheil brachte, die Zeit des französischen
Überfalls. Zwar hatte die jüdische Gemeinde sich beim Herannahen des
französischen Heeres von dessen Oberstkommandierenden Marschall Duras
(vgl.
https://de.wikipedia.org/wiki/Jacques-Henri_de_Durfort,_duc_de_Duras),
einen Schutzbrief für ihre Straßen und ihren Friedhof erwirkt, 'nous leur
permettrons de la faire afficher aux portes des rues de leur Quartier et de
leur cimetière' (wir erlauben ihnen, die Tore zu den Straßen ihres Quartiers
und ihres Friedhofs zu kennzeichnen, um sie vor Verwüstung zu schützen)
heißt es in Duras' Schreiben vom 11. November 1688 im Lager vor
Mannheim. Aber darüber setzten die
sich in Worms einziehenden Franzosen hinweg, legten der jüdischen Gemeinde
eine Schatzung von wöchentlich 600 Livres (vgl.
https://de.wikipedia.org/wiki/Livre) auf und ließen am 31. Mai 1689
die Judengasse bis auf wenige Häuser in Rauch aufgehen. Die Synagoge blieb
im Mauerwerk erhalten. In alle Gegenden zerstreuten sich die Wormser Juden.
Erst 1699 finden sich wieder Ansätze zu einer neuen Gemeinde, die unter
Förderung des großen Sohnes der Wormser Judengasse, des kaiserlichen
Oberhoffaktors Samson Wertheimer (vgl.
https://de.wikipedia.org/wiki/Samson_Wertheimer), der seiner
Vaterstadt beim kaiserlichen Hofe gewichtige Dienste leistete, einen
Vergleich mit dem Wormser Magistrat abschloss. Waren dessen Bedingungen zwar
immer noch drückend, so nahm er doch von den Wormser Juden das Schlimmste,
das Karl IV. (vgl.
https://de.wikipedia.org/wiki/Karl_IV._(HRR)) zu Gunsten der Stadt
ihnen auferlegt hatte: Die Leibeigenschaft.
Im Jahre 1718 waren wieder jüdische Familien in Worms ansässig; die Zahl
erhöhte sich 1744 auf 146 Familien. Unter den Kriegslasten, die das 18.
Jahrhundert der Stadt Worms in reichlichem Maße brachte, seufzten die Juden
nicht minder wie die übrigen Stadtbewohner. In den Einquartierungskosten des
Stolzenbergischen Regiments im Jahre 1705, während des Spanischen
Erbfolgekrieges (vgl.
https://de.wikipedia.org/wiki/Spanischer_Erbfolgekrieg) im Belaufe
von 8.139 Gulden musste z.B. die Judenschaft 1.800 Gulden beitragen, 1718
wurden ihr für Türkensteuer (vgl.
https://de.wikipedia.org/wiki/Reichstürkenhilfe) 800 Gulden
abverlangt, während des polnischen Erbfolgekrieges (vgl.
https://de.wikipedia.org/wiki/Polnischer_Thronfolgekrieg) und des
Siebenjährigen Kriegs (vgl.
https://de.wikipedia.org/wiki/Siebenjähriger_Krieg) hatten die Juden
bei den vielen Durchmärschen von Truppen und lange andauernden
Einquartierungen eine große Menge außerordentlicher Schatzungen, meistens
Vermögenssteuer von ½ % - zu entrichten.
Wie schwer muss den Juden damaliger Zeit der Gewinn des Lebensunterhalts
gewesen sein. Kam doch zu all den Lasten, die regelmäßig durch Abgaben an
die Stadt, den Bischof bei der Vorsteherwahl, die Dalberg (vgl.
https://de.wikipedia.org/wiki/Dalberg_(Adelsgeschlecht)) ,welche
seit frühen Zeiten bei Beerdigungen zum Schutze des Leichenzuges einen ihrer
Beamten vorausschickten, an Kurpfalz für Schutz- und Geleitgeld, auch noch
eine Kopfsteuer für Kron- und Opferpfennig (vgl.
https://www.mittelalter-lexikon.de/wiki/Opferpfennig) an den Kaiser.
Trotz aller Drangsal darf angenommen werden – mündliche Überlieferungen
bestätigen es, - dass die Wormser Juden früherer Zeit, wenn sie keine
blutigen Verfolgungen erlitten, mit ihrem Lose nicht unzufriedener waren,
als andere nicht ratsfähige Stadtbewohner. Bewahrten sie doch einen
kostbaren Schatz, der, nachdem mit der Wormser reichsstädtischen Verfassung
auch die konfessionellen und wirtschaftlichen Schranken immer mehr gefallen
waren, sich nicht in aller Reinheit in die neue Zeit herübergerettet hat.
Die tiefempfundene Religion, die Gottergebenheit, die in allen Nöten
Hoffnungsfreudigkeit auf bessere Zukunft gewährte.
Gewaltige Heroen des Geisteslebens, ein Rabbi Meir von Rothenburg (gest.
1293) (vgl.
https://de.wikipedia.org/wiki/Meir_von_Rothenburg), ein Rabbi Jacob
Möln (vgl.
https://de.wikipedia.org/wiki/Jakob_ben_Moses_haLevi_Molin), Elia
Loanz (vgl.
https://en.wikipedia.org/wiki/Elijah_Loans), R. H. Spitz, ein R.
Jair Chaim Bacharach (vgl.
https://de.wikipedia.org/wiki/Jair_Chajim_Bacharach), Moses Brody
und viele andere, die nicht nur von lokaler Berühmtheit, sondern von
unbestrittener Wertschätzung in der jüdischen Religionsgeschichte sind,
ruhen auf dem alten Friedhofe. Er birgt auch die irdischen Reste vieler
ausgezeichneter Persönlichkeiten, die sich durch eifrige Pflege der
weltlichen Wissenschaften, durch hingebende Sorge um ihre Gemeinde,
Verdienste erworben haben.
Hinweis auf die Seite
https://www.worms.de/de-wAssets/docs/kultur/stadtarchiv/Der-Wormsgau/WG_BH-23_OCR.pdf.
vgl.
http://www.zeno.org/Geschichte/M/Graetz,+Heinrich/Geschichte+der+Juden.
|
Über die Wormser Juden während der Zerstörung der Stadt
durch die Franzosen 1689 (Artikel von 1925)
Anmerkung: bei dem im Text genannten antijüdisch eingestellten Herrn
"Seidenbänder" handelt es sich um Johann Friedrich Seidenbender, nach dem in
Worms bis heute die Seidenbenderstraße benannt ist. Er war von Beruf Advokat und
Mitglied im Wormser Stadtrat, seit 1685 Mitglied des Dreizehnerrates. Er
erstellte nach der Zerstörung der Stadt durch die Franzosen 1689 eine
programmatische Schrift "Vorschläge für die Wiederaufrichtung der Stadt Worms"
(Titel aus späterer Zeit), in der er auch auf die Wiederbevölkerung der Stadt
eingeht. 1698 wurde Seidenbender kaiserlicher Hofpfalzgraf.
Artikel
in der "Jüdisch-Liberalen Zeitung" vom 18. Dezember
1925: "Die Wormser Juden im Schreckensjahr 1689. Von Samson
Rothschild.
Vor einigen Monaten feierte die hiesige evangelische Gemeinde ein großes
Fest zur Erinnerung an die vor 200 Jahren erfolgte Einweihung der
Dreifaltigkeitskirche (vgl.
https://de.wikipedia.org/wiki/Dreifaltigkeitskirche_(Worms)). Bei
dieser Feier wurde besonders des Stadtratsmitgliedes Seidenbänder gedacht,
nach dessen Namen auch eine Straße benannt ist. Dieser um die Wiedererbauung
der Stadt, nach der Zerstörung derselben durch die Franzosen, verdiente
Mann, hat gegen die Juden in ganz fürchterlicher Weise gewütet. Gern hätte
er die Juden nach der Wiedererbauung ausgewiesen, aber der Kaiser duldete
das nicht. Man sollte es kaum glauben, was er den Juden alles während der
Besetzung durch die Franzosen angedichtet. |
Einiges
möge hier mitgeteilt werden und dann die Widerlegung der Anklagen durch
Canstatt, einen Christen, dem Redakteur der 'Wormser Zeitung', im Jahre
1889, als 200 Jahre seit der Zerstörung verflossen waren. Seidenbänder
schreibt unter anderem: 'Zeit während der Kapitulation hat sich auch dieses
strafwürdig zugetragen, dass die Juden im Beisein des Magistrats als ihrer
Obrigkeit auf offenem Plan durch den Schulklepper bei dem Barbesier (gemeint:
der französische General-Brigadier Marquis de Barbesier) eine aparte
Beschützung gesucht desgleichen sie auch durch zweimalige Abschickung in das
Lager vor Philippsburg und
Frankenthal getan, dem Dauphin (vgl.
https://de.wikipedia.org/wiki/Dauphin_(Adel)) ein Präsent von einem
ganz vergüldeten hohen Pokal zu tun, davon sie aber abgehalten worden,
demselben allezeit in die Ohren gepispelt und die Hände gedrückt; und ob sie
schon zum zweiten Mal von dem Stättmeister in ihre Gasse zu gehen befehlt
worden, haben sie es doch nicht getan, bis ermelter (erwähnter) Schulklepper
dem Barbesier (s.o.) nochmals die Hände gedrückt und bedeutet, dass er dabei
kein Verbleibens habe.' Seidenbänder fährt fort: 'Als am 2. Dezember der
General d’Huxelles (vgl.
https://de.wikipedia.org/wiki/Nicolas_Chalon_du_Blé) mit einer Suite
von 70 Personen stark das erste Mal in die Stadt gekommen, haben die Juden
sich herbeigemacht und im Angesicht der Stadtdeputation durch den
Schulklepper Abraham zur Kanten und noch einem Vorsteher zwei geputzte fette
Gänse mit goldenen Luisen (Birnen?) gefüllt in einer Schüssel, in der
anderen eine große Gänseleber, in der dritten aber Zitronen und Pomeranzen
präsentiert, so er auch angenommen das Fass Wein, aber, so der Herr Bischof
verehren wollte, hatte er nicht akzeptiert, außerdem hat diese gottlose
Nation das kaiserliche Wappen, das viele Jahre hier an ihren beiden
Gassentoren angeheftet gewesen, abgerissen und das königliche französische
mit sonderbarem Frohlocken angeschlagen.' Dies nur eine kleine Blumenlese,
die man noch bedeutend vermehren könnte, aber sie ist genügend, um den
Reorganisator Seidenbänder als 'Antisemiten' zu zeigen. Auf diese Vorwürfe
antwortet Canstatt in seiner Schrift wie folgt: 'Seidenbänder dichtete den
Juden mehr an, als er verantworten kann. Man sollte doch nicht vergessen,
dass die Klugheit der Juden es ihnen von selbst verboten hätte, sich so
schroff den christlichen Wormsern gegenüberzustellen, da sie ja gar nicht
wissen konnten, wie lange die französische Okkupation dauern und wann Stadt
und Land wieder in deutscher Gewalt sein würden. Ferner war die Judenschaft
im 17. Jahrhundert nach der Tradition früherer Jahrhunderte viel zu sehr
daran gewöhnt, sich unterzuordnen, als dass plötzlich so ein unfügbarer Gast
in sie fahren konnte. Dass sie die Franzosen bestochen, scheint unwahr zu
sein, da die jüdische Gemeinde nach Ausweis ihrer Archivalien arg
verschuldet war und gegen alle Welt pekuniäre Verpflichtungen zu erfüllen
hatte*). Es mag sein, dass bei dem Stadtbrand die Judengasse etwas
glimpflicher weggekommen ist, tatsächlich jedoch erreichten ganz ohne Frage
die alles verheerenden Flammen auch das damalige Judenquartier.
Die ganze innere Einrichtung der Synagoge war ja samt dem Dachstuhl ein Raub
des Feuers geworden, die Synagoge selbst wurde von den Franzosen noch zum
Pferdestall und von den später heimkehrenden Bürgern als Speicher benützt.
Wenn man das Aktenstück liest, welches die Juden am 25. Februar 1689 an den
Rat der Stadt gerichtet, kommt man zu einer anderen Ansicht als die des
Herrn Seidenbänder, und was das Märchen betrifft, als hätten die Juden die
deutschen Adler abgerissen und dafür die französischen Lilien angebracht,
mochten wir noch die Worte eines jüdischen Zeitgenossen Rabbi Abraham
Wallerstein aus Worms anführen: 'Er (der Franzose) hat all die Adler
abgeschlagen, die da sind angeschlagen gewesen an den Pforten, denn über
Worms ist der Kaiser Schutzherr gewesen. Also hat er die Adler herabschlagen
lassen und hat seine Wappen lassen anschlagen.' Drei Lilien, und er hat
lassen die Stadtmauer einbrechen. Das haben müssen die Bürger selber tun und
die Juden auch.' Um aber Seidenbänder weiter zu entlarven und festzustellen,
dass sich die Juden nicht in so rosiger Stimmung befunden haben, mögen noch
die elegischen Worte des damaligen bewährten Rabbiners Jair Bacharach (vgl.
https://de.wikipedia.org/wiki/Jair_Chajim_Bacharach) angeführt
werden: 'Unstet und flüchtig irre ich seit der Zerstörung der Stadt umher,
ich war in der Fülle der Manneskraft und bin plötzlich zum Greise geworden,
meiner Augen Licht ist getrübt, die Schärfe meines Geistes ist gebrochen,
denn Not und Elend sind meine ständigen Begleiter.'
Bedürfte es noch eines weiteren Beweises, dass Seidenbänder die Tatsachen
gefälscht hat, dann darf man nur den im Archive der hiesigen jüdischen
Gemeinde befindlichen, in hebräischer Sprache geschriebenen Brief des
Vorstandes der jüdischen Gemeinde in Metz vom Jahre 1689 an den hiesigen
Vorstand lesen, der leider für Milderung der vielen und schweren Leiden
keinen Weg anzugeben vermag.
Fast 250 Jahre sind es, dass sich diese Geschicke zugetragen. Fast 250 Jahre
sind es, dass sich diese Geschichte zugetragen. Ist’s inzwischen besser
geworden, in dieser langen Zeit? Wie damals, so auch heute: Verleumdung der
Juden und des Judentums aller Orten, und wenn auch die Gerichte die
Verleumder bestrafen, was tut’s? 'Etwas wird schon hängen bleiben', und das
ist ja die Hauptsache bei unseren Gegnern.
*Siehe hierüber meine neueste Schrift: Die Abgaben und die
Schuldenlast der Wormser jüdischen Gemeinde 1563 – 1854." |
Über ein Kollektenbüchlein von 1698 mit einem
Spendenverzeichnis für den Wiederaufbau des 1689 zerstörten Worms (Artikel von
1891)
Artikel
in der Zeitschrift "Der Israelit" vom 31. August
1891: "Worms. Herr Dr. Mayer in
Zweibrücken, welcher kürzlich unter
dem Bücherschatze des Herrn Moses dahier ein altes Pentateuch-Exemplar (vgl.
https://de.wikipedia.org/wiki/Tora) entdeckte, gibt in einer
Veröffentlichung in der Wormser Zeitung über den 'Brand der Wormser Synagoge
im Jahre 1689' (vgl.
http://www.alemannia-judaica.de/worms_synagoge.htm) Kunde von einem
anderen interessanten Buche, welches er unter den Büchern desselben Herrn
Mannheimer gefunden hat. Es ist dies ein altes Kollektenbüchlein aus dem
Jahre 1698. Es finden sich darin die Spenden verzeichnet, welche die von der
hiesigen jüdischen Gemeinde ausgeschickten Sendboten bei den benachbarten
und entfernteren jüdischen Gemeinden eingezogen haben. Die Spenden waren
bestimmt für den Wiederaufbau der durch den Brand 1689 teilweise zerstörten
Synagoge und für die übrigen Gemeindegebäude, sowie auch für die
niedergebrannte Judengasse überhaupt. An der Spitze der spendenden Gemeinden
befindet sich die auch damals schon durch große Wohltätigkeit sich
auszeichnende jüdische Gemeinde in Frankfurt a. M. Dieselbe zeichnete
nämlich den für damalige Zeiten beträchtlichen Zuschuss von 1.600 Gulden.
Von anderen Gemeinden seien erwähnt:
Grünstadt,
Eisenberg,
Kerzenheim,
Göllheim,
Homburg, Metz,
Neuwied
und eine Reihe anderer Gemeinden an der Mosel und am Rheine. An der Spitze
der spendenden bayerischen Gemeinden steht
Fürth
mit einem Wechsel auf Frankfurt."
Anmerkung zu Dr. Mayer: gemeint ist Bezirksrabbiner Dr. Israel Mayer in
Zweibrücken". |
Über den Wormser Judenrat im 17. Jahrhundert (Artikel
von 1902 und 1938)
Beitrag
in der "Monatsschrift für Geschichte und Wissenschaft des
Judentums" 1902: links ist nur die erste Seite des 14
Seiten umfassenden Beitrages von A. Epstein wiedergegeben. Siehe auch
https://www.jstor.org/stable/23079290"
Der Wormser Judenrat. von A. Epstein
Die Juden bildeten in jeder von ihnen bewohnten Stadt eine Sondergemeinde
mit eigener Verwaltung. Zu den Obliegenheiten der Vorsteher gehörten neben
der Besorgung der inneren Angelegenheiten, auch die Vertretung der Gemeinde
nach außen und die Wahrung ihrer Interessen gegenüber den Übergriffen den
Stadtherrn und des Reiches. Die Organisation des Vorstandes scheint nicht
überall und zu allen Zeiten die gleiche gewesen zu sein. Die Gestaltung
desselben hing von verschiedenen Umständen, zunächst von der jeweiligen Lage
der Juden ab. Auch mussten die landesüblichen Gemeindeverfassungen als
Muster ihres Einflusses auf die Bildung des jüdischen Gemeinderates ausüben.
Die Verwaltung der jüdischen Gemeinden wird wohl räumlich und zeitlich
mannigfaltige Formen angenommen haben. Es verlohnt sich der Mühe, den
Judenrat in Deutschland näher kennenzulernen. Zu diesem Zwecke
veröffentlichte ich hier eine Schilderung des Wormser Judenrats aus dem 17.
Jahrhundert, wie sie uns Juspa Schammas in seinem handschriftlichen
Minhagbuche (vgl.
https://de.wikipedia.org/wiki/Minhag_(Judentum)) gibt vgl.
Anmerkung 1.
Der Wormser Judenrat bestand im 17. Jahrhundert aus 12 Räten, von denen
jeder einen Monat im Jahre seines Amtes waltete, und während seiner
Amtsdauer Monatsvorsteher (Parnas HaChodesch) genannt wurde. Die Räte
wurden ursprünglich von der Gemeinde gewählt und vom Bischof bestätigt. Die
Räte hatten dann das Recht der Selbstergänzung, beim Abgange eines
Mitgliedes durch Tod oder Auswanderung, ergänzten die zurückgebliebenen
Vorsteher den Rat durch die Wahl eines neuen 'Ratsmannes', der ebenfalls
durch den Bischof bestätigt werden musste. Zum Vorsitzenden des Rates
wählten die Räte einen aus ihrer Mitte, der dann 'Judenbischof' (HaGamon
Parnas) und (Parnas Chischisch) hieß. Ähnlich organisiert war der
Judenrat, auch in anderen bedeutenderen Städten Deutschlands.
Über den Wormser Judenrat lautet der Vertrag von 1312 mit Bischof Emrich
insoweit er uns hier interessiert wie folgt: Zum Ersten, dass der Juden
Ratsleut mit dem
Anmerkung 1) Gedenkbuch zur Erinnerung an David Kaufmann, S. 303." |
|
Artikel
im "Jüdischen Gemeindeblatt für Frankfurt" vom August 1938 (S.
13-15): "Der Wormser Judenrat.
Aus dem Minhag-Buch des Juspa Schammasch aus Worms (17. Jahrhundert) 'Von
jüdischer Gemeinde und Gemeinschaft' reden, heißt die Grundlagen des
jüdischen Lebens nach der Tempelzerstörung überhaupt behandeln. Insbesondere
die Gemeinde des Mittelalters die so 'organisierte Diaspora', sucht die
jüdische Eigenart innerhalb anderer Völker zu wahren und dem eigenen Gesetz
nachzuleben. Eine wertvolle Arbeit des in Jerusalem lebenden Rabbiners Kurt
Wilhelm fasst eine Reihe von Satzungen und Verordnungen zusammen. Dem
soeben in der Bücherei des Schockenverlags als Nummer 86 erschienenen
schönen Bändchen 'Von jüdischer Gemeinde und Gemeinschaft', das ein reiches
Material in deutscher Sprache darbietet, entnehmen wir (mit freundlicher
Genehmigung des Verlags) einen Abschnitt. Redaktion.
Jiftach Jossef Juspa Manzpach stammte aus Fulda
und lebte von 1623 bis zu seinem Tode im Jahre 1678 in Worms, wo er
Schammasch (vgl.
https://de.wikipedia.org/wiki/Schammes), Vertrauensmann des
Vorstands und Schreiber der Gemeinde war. Er war schriftstellerisch tätig
und verfasste in hebräischer Sprache unter anderem das bisher nur
handschriftlich vorliegende Wormser Minhagbuch, dass das Leben der Juden
seiner Gemeinde liebevoll und treu schildert. Das Kapitel über den Judenrat
ist von A. Epstein in |
der
Monatsschrift für Geschichte und Wissenschaft des Judentums 45 (1892)
übertragen worden (Vgl. auch Epstein: Die Wormser Minhagbücher, ein
Gedenkbuch zur Erinnerung an David Kaufmann, S. 288 ff.).
Der Vorsteher: Die Wahl und die Einsetzung des Vorstehers geschehen
wie folgt: Die Vorsteher schreiben ihre wegen des zu wählenden Vorstehers
auf und übergeben die Zettel aus ihrer Tasche dem Monatsvorsteher, der in
jenem Monat amtiert. Der Monatsvorsteher mischt die Zettel durcheinander,
damit man nicht erfahre, wer diesen oder jenen Zettel aus Feindseligkeit
oder Zuneigung geschrieben hat. Ein jeder soll seine Meinung nur um Gottes
Willen abgeben, ohne Zuneigung und Berücksichtigung oder gar Bestechlichkeit
- was Gott verhüte – auch ohne jedweden Hintergedanken, denn darüber ist
gesagt worden: 'Fürchte dich vor deinem Gotte' (Lev. 9,14). Man holt dann
die Zettel hervor, und wer die Mehrheit hat, ist Vorsteher. Er wird durch
die Vorsteher allein und nicht durch diese im Verein mit den übrigen Beamten
der Gemeinde gewählt. Man teilt es sofort dem Bischof von Worms mit. Der
Bischof fragt nach, ob der Neugewählte dazu durch seine Handlungen, sein
Vermögen und seine Familie geeignet sei. Gleich nach der Wahl des Vorstehers
wird der Synagogendiener herbeigeholt, und man sagt ihm: Der und der ist zum
Vorsteher gewählt worden, geh und teile ihm und seiner Frau diese Botschaft
mit. Der Synagogendiener geht in das Haus jenes Vorstehers und verkündet es
ihm und seiner Frau, dabei wünscht er ihnen 'Masal tow.' (vgl.
https://de.wikipedia.org/wiki/Masel_tov). Der gewählte Vorsteher
muss sich sofort zusammen mit dem Synagogendiener in die Gemeindestube, den
Versammlungsort der Vorsteher, begeben. Die Vorsteher verkünden es ihm
ebenfalls und wünschen ihm 'Masal tow'. Er ist verpflichtet, dem
Synagogendiener einen Golddukaten als Botenlohn zu geben. So ist es auch
Brauch, bei der Verkündigung der Wahl eines Almosenverteilers, nur beträgt
da der Botschaftslohn nur einen halben Reichstaler.
Ist der Bischof mit dem Vorsteher einverstanden, so kommt er oder sein
Stellverteter in das bischöfliche Schloss und lässt die Vorsteher, den
Neugewählten und den Synagogendiener, der ein Fünfbuch (vgl.
https://de.wikipedia.org/wiki/Tora) mitbringt, sich im Vorhofe des
Schlosses zu einer bestimmten Stunde des folgenden Tages versammeln.
Jedermann darf in den Vorhof eintreten, während die Vorsteher dort
zusammenkommen. Die meisten |
Männer,
Frauen, Knaben und Mädchen, die das Verlangen haben, sich die Wahl eines
Vorstehers anzusehen, gehen hin und sehen sie sich an. Der Bischof oder sein
Stellvertreter lässt die Vorsteher in das Schloss eintreten und stellt
ihnen, wenn sie alle beisammen sind, die oben erwähnten Fragen. Dann kehren
sie vom Schloss in den Vorhof zurück, wo die stehenbleiben und einen Kreis
bilden. Der Sekretär des Bischofs tritt darauf in den Kreis ein, wo er
stehend oder sitzend verbleibt. An der Seite des Sekretärs steht der
Synagogendiener, in der Hand das Fünfbuch, in dem jene Seite aufgeschlagen
ist, wo die zehn Gebote geschrieben sind. Der neugewählte Vorsteher legt
seine Han auf die zehn Gebote, der Sekretär liest ihm aus einem geistlichen
Buch den Eid vor, und er sagt ihn Wort für Wort nach. Während des Eides
bedecken sich sowohl der Schwörende als alle übrigen Vorsteher. Sie bleiben
nicht barhäuptig, selbst, wenn der Bischof zugegen ist. Bevor der gewählte
Vorsteher geht, zieht er seine Feiertagskleider an, schneidet sich Haupt-
und Barthaar und zieht ein weißes Hemd und einen weißen Kragen an.
Nach der Eidesleistung besucht man den Vorsteher, seine Frau und seine
Verwandten und wünscht ihnen 'Masal tow'. Der gewählte Vorsteher ist
verpflichtet, den Vorstand zu Gastmahlen
einzuladen, wie es bei ihnen Sitte ist. Sie können ihn dazu zwingen, denn
sie betrachten es als seine Pflicht. Vor der Eidesleistung übergibt man dem
Bischof den Betrag, den er von jedem neugewählten Vorsteher zu bekommen hat.
Nach der Wahl allein führt er noch nicht den Titel Vorsteher, auch wird er
nicht zu den Versammlungen des Gemeindevorstands eingeladen, solange er
nicht den Eid geleistet hat. Gleich nach dem Eide ist er in allen
öffentlichen Angelegenheiten den andern Vorstehern gleich. Monatsvorsteher
wird er zuletzt. Am ersten Sabbat nach der Eidesleistung wird er zur
Vorlesung aus der Tora aufgerufen." |
Aus einem Reisebericht aus dem 18. Jahrhundert: Besuch im
jüdischen Worms (1885)
Artikel
in der Zeitschrift "Der Israelit" vom 29. Oktober 1885: "Von Frankfurt sind
wir nach Oppenheim, wo man mit
einer fliegenden Brücke (Fähre) über den Rhein geholt wird. Diese Stadt
gleicht mehr einem Steinhaufen, als einer festen Stadt, weil selbige in
Kriegszeit ganz und gar 'verunjenirt' ist worden; man sieht hier umliegendes
Land mit viel Plaisir in Weinwachs; und weiter auf Wirms oder
Worms; auch eine
alte und übereinander gefallene Stadt. Hier in die Judengasse gekommen, muss
man ein gelb klein Läppchen Tuch (vgl.
https://de.wikipedia.org/wiki/Gelber_Ring) in den Rock (Gehrock) 'spälten',
ist ein solcher Gebrauch für die Juden. Hier wohnen etwa 200 Juden, haben
auch eine treffliche, schöne alte Schul' (gemeint
Synagoge),
allwo das Altar mitten in der Schul (gemeint Almemor), von Stein gar
hoch bis unter das Gewölb gezogen ist. Sonst habe ich hier viele von der
alten Historie beschriebene Wunderzeichen gesehen, wovon ich gleich einige
beschreiben will, was ein Jeder, der noch dorten gewesen ist, nicht leugnen
kann. So steht in einer Mauer, eine 'eingebuckte Bucht', welches passierte,
als eine 'tragene' (trächtige = schwangere) Frau hier vorbeigeht, so
kommt ein Fuhrmann mit einem Heuwagen. Die Gasse war eng und die Frau begibt
sich an die Seite dieser Mauer, um dem Wagen zu entweichen. Der Fuhrmann
aber, welcher ein 'schalkhaftiger' Mann war, dringt, diese Frau zu
überfahren, die Frau sich stark an diese Mauer drängt, so hat sich die Mauer
eingebogen, wie noch zu sehen ist. Ich bin auch in einem kleinen 4-eckigen
Gebäude gewesen, welches man Raschi-Schul (gemeint
'Raschi-Kapelle') heißt, worin der hochgeehrte Mann Raschi seinen
Gottesdienst getan; auch ist hierzu ein aus Stein gehauener Stuhl, auf dem
Stuhl mich niedergesetzt, um zu sagen, dass ich bin auf dem Stuhl von Raschi
gesessen. Man sieht hier tiefen Höhlen, worin sich die Menschen nicht
trauen, hereinzugehen, wegen der Unsicherheit, nicht wissend, welchen
Ausgang dieselben haben. Auch habe ich in Worms auf einem Kirchlein (gemeint
St. Martin vgl.
https://de.wikipedia.org/wiki/St._Martin_(Worms)) eine aus Stein
gehackte Gans gesehen, von welcher erzählt wird, wie durch eine von Gott
zugeschickte Gans viele Juden am Leben erhalten wurden, welche hätten um das
Leben kommen sollen. Ich bin von hier in eine wunderschöne neu gebaute Stadt
gekommen, mit Namen Mannheim.
Das ist eine..." |
Im Nationalmuseum in Washington befinden sich auch
Gegenstände aus Worms (1890)
Anmerkung: zu dem genannten Harry Friedenwald siehe Artikel
https://web.nli.org.il/sites/nli/english/collections/humanities/edelstein/pages/harry-friedenwald.aspx
Artikel in der Zeitschrift "Der Israelit"
vom 25. August 1890: "Washington, 4. August. Das National-Museum
hier hat durch Herrn Harry Friedenwald in Europa eine ganze Sammlung von
Objekten, welche die Israeliten zur Verherrlichung ihres Gottesdienstes und
ihrer religiösen Zeremonien benötigen, aufkaufen lassen. Vor allem bemerken
wir in dieser Sammlung Photografien der berühmten Synagogen von Prag
(vgl.
https://de.wikipedia.org/wiki/Altneu-Synagoge),
Worms,
Frankfurt, dann eben solche
Fotografen von dem Mauereindrucke in
der Wormser Synagoge, der bekanntlich der Sage zufolge von Raschis
Mutter herstammen soll, und vom Triumphbogen des Titus in Rom (vgl.
https://de.wikipedia.org/wiki/Titusbogen) mit der Menorah (vgl.
https://de.wikipedia.org/wiki/Menora) auf demselben, dann eine
silberne Gewürz-(Bessomim-)Büchse (vgl.
https://de.wikipedia.org/wiki/Besamimbüchse) aus
Laupheim vom Jahre 1740, eine
Sederschüssel (vgl.
https://de.wikipedia.org/wiki/Seder) von Konstantinopel (vgl.
https://de.wikipedia.org/wiki/Konstantinopel) mit eingravierten
hebräisch-kabbalistischen (vgl.
https://de.wikipedia.org/wiki/Kabbala) Worten, einige alte
Sabbatlampen (vgl.
https://de.wikipedia.org/wiki/Sabbatampel), einen spiralförmig
gebogenen Schofar (vgl.
https://de.wikipedia.org/wiki/Schofar) aus Italien, eine Sefer Thora
(vgl.
https://de.wikipedia.org/wiki/Tora) vollständig bekleidet (vgl.
https://de.wikipedia.org/wiki/Toramantel) und geschmückt mit den
heiligen Gegenständen (vgl.
https://de.wikipedia.org/wiki/Rimonim), mehrere Megillot (vgl.
https://de.wikipedia.org/wiki/Megilla_(Mischna)), Tefillin (vgl.
https://de.wikipedia.org/wiki/Tefillin), Mesusot (vgl.
https://de.wikipedia.org/wiki/Mesusa) und Arba Kanfot (= Zizit
vgl.
https://de.wikipedia.org/wiki/Zizit) in den verschiedenen
Größen und Formen, einige bunt gemalte Misrachim (vgl.
https://de.wikipedia.org/wiki/Mizrachim) mit den üblichen
Bibelversen auf denselben, einige Menorath (vgl.
https://de.wikipedia.org/wiki/Menora), Schlachtmesser (Chalofim)
(vgl.
https://de.wikipedia.org/wiki/Schächten) und dergleichen mehr. So
schmücken sich nichtjüdische Museen mit unseren religiös-zeremoniellen
Objekten - so mache ich Dich zur ewigen Pracht, zur Freude aller
Geschlechter (Jesaja 60,15)." |
Zum
300-jährigen Bestehen der Raschikapelle (1924)
Artikel in der "CV-Zeitung" (Zeitschrift des
Central-Vereins) vom 17. Juli 1924: "Zum 300jährigen
Bestehen der Raschikapelle in Worms. Von Hofrat Max Levy (Worms)
David Oppenheim (vgl.
https://de.wikipedia.org/wiki/David_Oppenheimer_(Rabbiner)) hat im
Jahre 1624 seiner Heimatgemeinde Worms die Raschikapelle gestiftet.
Es ist ein schlichter, an die alte Synagoge angelehnter kleiner Bau aus
rotem Sandstein von kaum 20 Quadratmeter Gesamtfläche. Um die Seiten ziehen
sich mit gehobelten Brettern überzogene aufgemauerte Sitzgelegenheiten, die
an der zugespitzten Stirnseite an einen erhöhten steinernen Sessel münden,
auf dem der Lehrer thronte. Der Sessel scheint nach dem gemeißelten
Vorderteil der Wände viel älter als die Kapelle und von einer anderen Stelle
in sie verpflanzt zu sein. Oder aber die alte Kapelle war baufällig, wurde
abgebrochen und von Oppenheim erneuert und den Steinsitz – der 'Raschistuhl'
– wurde in sie übernommen. Diese an und für sich geringfügige Sache wird nur
deshalb hier besonders erörtert, um an ihr zu zeigen, wie echte Deutsche
unsere Juden sind. Es entstand nämlich eine 'querelle allemande'
unter zwei jüdischen Gelehrten von Ruf, ob Raschi in einer Kapelle an diesem
Platze sich schon aufhielt! und lehrte oder in einem anderen, 20 Meter davon
befindlichen Gebäude.
* Wer Raschi ist, auf den die Juden stolz sein können, wissen nicht
einmal alle mehr, die die Bibel im Urtext lesen können und noch weniger die,
so dazu außerstande sind. Warum sollen sie in Bezug auf ihre Herren mehr
wissen las jene Rekruten, die einige Jahre nach Bismarcks (vgl.
https://de.wikipedia.org/wiki/Otto_von_Bismarck) Tode in der
Instruktionsstunde nach ihm gefragt wurden, und von denen nur der
allerkleinste Teil vom Reichseiniger einen schwachen Dunst hatte? 'Raschi'
ist in Bezug auf Namensbildung ein Urahne der 'Hapag' (vgl.
https://de.wikipedia.org/wiki/Hapag-Lloyd), eine Zusammenziehung der
ersten Buchstaben von R a bbi Sch lomo ben I’zchak.
Er war in Troyes (vgl.
https://de.wikipedia.org/wiki/Troyes) in Frankreich 1040
geboren, beschäftigte sich früh mit der jüdischen Wissenschaft, besuchte,
als er 20 Jahre alt war, die damals berühmtesten jüdischen Lehrstätten in
Worms und Mainz, begab sich dann
nach seiner Heimat zurück, wo er ehrenamtlich Lehrmeister von Weltruf in
jüdischen Dingen wurde und seine freie Zeit - er ernährte sich
wahrscheinlich durch Weinbau – dazu benutzte, Kommentare zur Bibel und
zum Talmud zu schreiben, die später selbst von Luther (vgl.
https://de.wikipedia.org/wiki/Martin_Luther) beachtet wurden und
auch heute noch in ihrem Scharfsinn und natürlichem Verstand nicht
übertroffen sind. |
*
In Worms geht die Sage, dass eine Ohrfeige von unsichtbarer Hand erhalte,
wer auf den 'Raschistuhl' in der Kapelle sich setze. Das ist natürlich nicht
wörtlich zu nehmen, sondern soll besagen, dass, wenn Junge alles besser
wissen wollen als die Alten und durch ihr Draufgängertum alte Erfahrung und
Besonnenheit ersetzen wollen, sie sich und andern schaden. Lange Zeit war
der Autoritätsglaube die Grundlage nicht nur der jüdischen Religion, sondern
auch des jüdischen Familienlebens. Was in der Bibel steht, unterstand keiner
Kritik. 'Es steht geschrieben …' und man glaubte und die Kinder folgten auch
in weltlichen Dingen ohne Widerrede der Elternmeinung, selbst, wenn sie
glauben durften, dass das Recht mehr auf ihrer Seite stand. Wenn jüdische
junge Dichter das Milieu der Gegenwart widerspiegelten, wäre es damit nun
ganz anders und die Familienband wiesen nicht mehr die alte Dichtigkeit und
Tüchtigkeit auf. Ganz so schlimm ist es aber nicht. Die Juden der
Gegenwart sind auch Kinder der Zeit, genauso wie ihre andersgläubige
Umgebung. Gewiss ist der alte Autoritätsglaube gelockert und die Jugend
fordert das Recht eigenen Denkens und das Lebensführung nach eigenen Denkens
und der Lebensführung nach eigenem Überlegen. Sie will mehr als früher nicht
mehr auf Füßen anderer, sondern auf eigenen handeln. Aber Kritik der Jungen
sollte doch nicht historisch Gewordenes in Bausch und Bogen über Bord
werfen, als alles 'veraltet' verlassen, die Ehrfurcht vor den Alten
vermissen lassen und sich nicht das Diktum Oskar Blumenthals (vgl.
https://de.wikipedia.org/wiki/Oscar_Blumenthal) aneignen: 'Wenn ich
vor allen grauen Haaren Respekt haben sollte, hätten die Esel am meisten
darauf Anspruch.' Gewiss war es nur ein Scherz von Blumenthal, aber statt
besonnener Evolution rabiates Hervorkehren von Extremen stößt ab und schadet
nicht nur den jugendlichen Eiferern. Gerade da kann die Persönlichkeit
Raschis vorbildlich wirken. Nicht wie ein blindes Huhn, das hier und da
einen Brocken erhascht und von seinem Funde durch lautes Gackern Kenntnis
gibt, strebte und wirkte er. Schlicht und bescheiden, voll Eifer sein Leben
lang die Wahrheit suchend, schuf er Unvergängliches.
* Nicht nur die Juden von Worms sind stolz auf Raschi, sondern auch die
Stadt ehrte den trefflichen Mann, der einst in ihren Mauern sich aufhielt,
indem sie ein Tor an ihrer alten Umfassungsmauer 'Raschitor' (vgl.
https://de.wikipedia.org/wiki/Raschitor) benannte. Die jüdische
Gemeinde hat vor dem Kriege Mittel, die ihr von Samuel Loeb (vgl.
https://de.wikipedia.org/wiki/Salomon_Loeb), einem geborenen
Wormser, Mitbegründer der New Yorker Bankfirma Kuhn, Loeb u. Co. und
Schwiegervater von Jakob Schiff (vgl.
https://de.wikipedia.org/wiki/Jakob_Heinrich_Schiff), zur Verfügung
standen, zur Herausgabe von Preisschriften über Raschi, die von den
Rabbinern Dr. Beermann und Doctor verfasst wurden und die Bedeutung Raschis
für seine Zeit und die Gegenwart schildern. Jetzt hat der verdienstvolle
Lehrer und Sekretär der Wormser Gemeinde, S. Rothschild, eine Schrift
'Raschi' mit Illustrationen (Verlag Ch. Herbst, Worms) erscheinen lassen',
sie wird nicht nur von Juden gern gelesen werden, da sie in volkstümlicher
Form die Persönlichkeit eines Mannes vorführt, der auf Nachruhm vollen
Anspruch hat." |
Fahrt des Jüdischen Turnerbundes aus Frankfurt nach
Worms (1927)
Artikel in der Zeitschrift "Der Israelit"
vom 10. November 1927: "Eine Fahrt mit dem Jüdischen Turnerbund
nach Worms. Dichter Nebel lag über der Stadt, als wir am Sonntag, den
30. Oktober, Frankfurts Gemarkung in Erwartung der vielen
Sehenswürdigkeiten, die sich uns bieten sollten, verließen.
Nach fröhlicher Bahnfahrt in Worms angelangt, wurde unsere Spannung bald
durch die Besichtigung der einzelnen Sehenswürdigkeiten gelöst. Die Herren
E. Heidelberger, Mannheim, und
E. Hirsch, Worms, übernahmen in liebenswürdiger Weise die Führung und
konnten uns dank ihrer reichen Kenntnisse nähere Erklärungen über alles
Sehenswerte geben. Wir durchschritten das ehemalige Ghetto mit seinen engen
Straßen, in welchen sich dereinst so viel jüdisches Leben abgespielt hat. An
die Besichtigung des Ghettos sowie sonstiger Bauten und Sehenswürdigkeiten
schloss sich die Besichtigung der Synagoge,
der Raschikapelle, der
Mikwah und des Museums an. Hierbei hat sich
uns Herr Lehrer Rothschild (vgl.
https://de.wikipedia.org/wiki/Samson_Rothschild)*, der eng mit der
Wormser Geschichte vertraut ist, in liebenswürdiger Weise zur Verfügung
gestellt und uns in einem sehr inhaltsreichen Vortrag über die Geschichte
der alten 'Judenstadt' vieles erzählt. Redner streifte in seinem, von uns
mit großem Interesse aufgenommen Vortrag die Geschichte der Stadt Worms seit
Entstehung der ersten jüdischen Ansiedlung (1034) bis zum heutigen Tag;
erzählte u.a. von der Thorarolle des Maharam Rothenburg (vgl.
https://de.wikipedia.org/wiki/Meir_von_Rothenburg), von den Sch’ne
Orchim, sowie von den 12 Parnossim (vgl.
https://de.wikipedia.org/wiki/Parnas) und gab eine eingehende
Erklärung über die Synagoge selbst. Nach Besichtigung des
alten Friedhofs begaben wir uns zum
Bahnhof, um die Weiterfahrt nach Bensheim
anzutreten. Eine kurze Wanderung durch herrlichen, herbstlichen Wald
beschloss den so lehrreichen Ausflug, und vollauf befriedigt über den
harmonischen Verlauf des Tages fuhren wir ab
Hähnlein nach Frankfurt zurück. Dichter Nebel lag wieder wie am Morgen
über der Stadt, als wir gegen 8 Uhr hier ankamen. Wir kehrten mit dem
Bewusstsein zurück, durch unseren Ausflug nach Worms eine Stätte frühester
und bedeutendster jüdischer Kultur besucht und kennengelernt zu haben."
*Zu Lehrer Samson Rothschild siehe auch:
http://www.warmaisa.de/stolpersteine/rothschild-samson-1848-1939/
|
Zu Besuch in Worms (1929)
Artikel in der Zeitschrift "Der Israelit"
vom 18. April 1929: "Wenn man um zwei Minuten den Zug versäumt.
Kleine Erlebnisse auf kleiner Tour.
Schuld waren zunächst Rabbi Naftali Hakohen (vgl.
https://en.wikipedia.org/wiki/Naphtali_Cohen) und dann die breiten
Quadrate des Mannheimer Straßennetzes (vgl.
https://de.wikipedia.org/wiki/Quadratestadt).
Das war nämlich so. Ein lieber Freund in Mannheim überreichte mir, im
Gedenken an meine 'Feuerzeichen' und in Erinnerung an die Mannheimer
Zusammenkunft, einen alten, vergilbten Fürther
Druck, der das Testament Naftali Hakohens, des Rabbi aus der Zeit des
Frankfurter Ghettobrandes, enthielt. Spannende Blätter, voll tiefer
Gedanken, wie geschaffen für Nachtlektüre bei abgedunkeltem Lichte. Ich
hatte nachts zu lange und zu tief in die alten, ewig neuen letzten
Wahrheiten und Weisheiten geschaut. Und morgens, nach dem kurzen einsamen
Gebete im Hotelzimmer, noch einmal hineingesehen. Noch zwanzig Minuten Zeit.
Und durch die schönen breiten Straßen Mannheims ist gut gehen und gut
finden. Noch reichlich Zeit zum Zuge!
In Mannheim kann keiner irre gehen, nur kommt man meisten immer
woanders hin… Die Straßen sind so gebaut, als hätte ein Kind aus der ersten
Vorschulklasse nach der neuen Arbeitsmethode den Plan dazu entworfen: Schön
ornamental, exakt symmetrisch, hell und heiter, mit buntem, breitem Bord an
den Ecken und graugrüner Einlage in der Mitte. Die eine Straße, genau wie
die andere, der erste Platz wie der zweite, alle nummeriert, uniformiert und
alle gleich schön. Und dennoch ist es ärgerlich, wenn man bei dieser schönen
Gleichförmigkeit zehn Minuten vor Abgang des Zuges statt am Bahnhof an dem
prächtigen Rosengarten (vgl.
https://de.wikipedia.org/wiki/Rosengarten_(Mannheim)) landet.
Da erst tue ich das, womit ich eigentlich gleich im Hotel hätte beginnen
müssen. Ich wende mich an einen Chauffeur mit der Frage, wie man von hier am
besten und schnellsten nach dem Bahnhof gelange. Man soll sich immer bei
diesen bewährten Führern der Menschheit befragen, man 'fährt' gut
dabei. Er gibt mir kluge Antwort: 'Am besten und schnellsten kommen Sie an
den Bahnhof, wenn Sie sich in meinen Wagen setzen…' Ein guter Rat, ich habe
ihn nicht bereut und kostete mich nur achtzig Reichspfennige…
Aber zu spät kommt die Einsicht – zwei Minuten zu spät. Der Schnellzug nach
Frankfurt war vor zwei Minuten
abgefahren. Ich hatte nicht einmal das Nachsehen. So rasch können
Schnellzüge sein, wenn man sie versäumen soll.
Aber die Badenser Bahnbeamten sind joviale Leute, so nett und höflich, als
würden sie französisch sprechen. (Siehe Feuilleton 'Menschen und
Menschen' in Nr. 14 des 'Israelit'.) 'Es geht noch ein Zug', tröstete
der Mann hinter der Schalterklappe. 'Steigen Sie nur ein!' ermutigte der
Mann mit dem blinkenden Messingschild an der Brust und dem bescheidenen
Titel 'Portier'. 'Ja, wohin fährt dieser Zug?' 'Sie komme schon nach
Frankfurt!' ' Heute noch?' 'Heute!' So stieg ich ein. Und
damit beginnen die Erlebnisse.
Zunächst bringt mich der Zug über die monumentale Rheinbrücke (vgl.
https://de.m.wikipedia.org/wiki/Datei:Mannheim_Rheinbrücke_loc_00324v.jpg)
nach dem etwas harten und arbeitsgrauen
Ludwigshafen hin, in einem
Wagen, der vollgestopft ist mit Männern und Frauen, die zur Arbeit
hinüberfahren. Einige, zumeist ältere Jahrgänge, sehen recht ausgeschlafen
und ausgeruht aus, andere, jüngere, haben sich von der Sonntagserholung noch
nicht erholt und wieder andere sitzen still in der Ecke und brüten wohl über
das letzte Glas von gestern nach. 'Was ist der Mensch, wenn eine Kanne ihn
umwirft?!...' Alle sprechen von dem seligen Karl Benz, dem Erfinder
des Motorwagens, der gestern, Sonntag, mit 85 Jahren in der Gegend (vgl.
Link) zur letzten Ruhe getragen wurde. Das von ihm in den achtziger
Jahren zuerst konstruierte Wagenmodell (vgl.
https://de.wikipedia.org/wiki/Benz_Patent-Motorwagen_Nummer_1),
damals Wunder der neuesten Technik, wurde hinter dem Leichenwagen
hergefahren. Es mutete wie ein Monstrum von anno dazumal an… Sie sprachen
nun von dem seligen Karl Benz und von der 'schönen Leiche' (gemeint:
Begräbnis). So viele Blumen, so viele Fahnen! Ein kleiner Streit
entspann sich; der drohte, in Tätlichkeiten auszuarten. Einer verstieg sich
zu der Behauptung, Benzin komme von Benz, er habe diesen feurigen
Stoff gleich miterfunden. Ein anderer behauptete gerade das Gegenteil: Der
geniale Erfinder habe sich den Namen Benz zugelegt, weil er eben mit Benzin
arbeitete. Ein dritter entschied überlegen, beides wäre blühender Unsinn.
Darüber ein vierter und ein fünfter und ein sechster laut und spöttisch
lachten. Da einigten sich der erste und der zweite gegen den dritten, und
alle drei gegen die Lacher und Spötter. Zum Glück dauerte die Überfahrt nach
Ludwigshafen nicht so lange, um eine solche Affäre ausreifen bis zur letzten
Phase ausreifen zu lassen.
In Ludwigshafen wartet auf dem anderen Geleise der Schnellzug, als wäre er
eigens für mich angespannt. In zwanzig Minuten bringt er mich durch das
flache Land der bayrischen (vgl.
https://de.wikipedia.org/wiki/Pfalz_(Bayern)) und hessischen (vgl.
https://de.wikipedia.org/wiki/Rheinhessen_(Provinz)) Pfalz,
wo die winterlich dürren Weinberg mit Apfelbaumskeletten am Rande umsäumt
sind, nach Worms. Und hier sagte der Stationsvorsteher kalt und
sachlich (in Hessen sprechen die Beamten 'deutsch'): 'Anschluss nach
Frankfurt in zwei Stunden, Personenzug!'
Nun erfasse ich den höheren Sinn der versäumten 'zwei Minuten'. Ich werde
noch einmal die alten Gassen von Worms sehen.
Ich grüße dich, zum so und so vielten Male, alte schöne Stadt am Rhein,
durch die der Fuß Raschis und der Tosastiften geschritten ist. Durch die
Hauptstraße gleich hinein in das Gewinkel der engen Gassen bis ans Viertel
mit dem alten Brunnen in der Mitte, umgeben von Rundtürmen, Zinnen und
Kuppeln. An alten Kirchenmauern rankt sich noch totes Weinlaub. Aus diesen
drei Domportalen werden sich die Horden mit dem Symbol der Liebe in der
einen, dem Mordbeil in der anderen Hand, unter dem Geläute der großen
Glocken, in die enge Gasse ergossen haben… Die kleinen Giebelhäuschen hinter
den neuen Fassaden schmiegen sich heute noch so scheu hintereinander, wie
die Schäfchen, in deren Reihen der Wolf eingebrochen ist.
Aber auch etwas von der Geruhigkeit und vom stillen Glücke alter Zeiten
schaut durch die vergitterten kleinen Scheiben. Festesfreude rauscht durch
die Luft. Ein Hochzeitszug mit Zimbel, Pauke und Trompete und mit zitternden
Fackeln bewegt sich durch den Nebel dem Schulhofe zu…
Ist nicht durch diese hohle Gasse, zwischen den zwei grauen Brandmauern, der
Rabbi von Bachrach (vgl.
https://de.wikipedia.org/wiki/Jair_Chajim_Bacharach) geeilt, vom
Grauen gejagt, in weitem Mantel gehüllt, da die schwarzen Männer die
Kindesleiche unter seinen Sedertisch geworfen? Fest umklammert hält er den
Arm seines Weibes und zieht es nach sich. 'Mache die Augen zu, schöne
Sara!'… Und Jaekel Narr und Nasenstern, und Hündchen Reiß
und die Schnapperell, und wie sie sonst alle hießen… (vgl.
http://www.alemannia-judaica.de/rabbi_von_bacharach.htm). Das
war in Frankfurt? Ob Frankfurt, Mainz oder
Worms, das Gesicht des Ghettos war überall gleich.
Da gehe ich durch das Raschitor (vgl.
https://de.wikipedia.org/wiki/Raschitor). Durch zwei Pforten wälzt
sich reger Stadtverkehr. Hier ist die 'eingedrückte Mauer', die ein
jüdisches Weib, mit einem Kinde unter dem Herzen aufnahm, als ihm in der
Enge von einer Fuhre der Tod des Erdrückens drohte. War es die Mutter
Raschis (die nie Worms gesehen hat), oder die des Rabbi Jehuda Hachassid
(vgl.
https://de.wikipedia.org/wiki/Juda_ben_Samuel), der wirklich in
dieser Stadt zur Welt kam? Das Symbol bleibt! Wie oft wurde hier und in den
alten Gassen Mutter Zion von Gewalt und Rohheit in die Enge getrieben, an
die Wand gedrückt. Die blühende Frucht unter dem Herzen war bedroht. Aber es
tat sich die rettende Nische in der Mauer auf, und die Frucht blühte weiter,
indes draußen ein falsches Licht nach dem andern erlosch und rohe Kräfte
brachen und verfielen. Dieses ganze Ghetto, es ist eine Nische, in der
bedrohte jüdische Zukunft Rettung und Bergung fand…
Durch die Andreasgasse am Dome vorbei gelangen wir in das heiligste Reich
(alter Friedhof; vgl.
https://de.wikipedia.org/wiki/Heiliger_Sand) der Vergangenheit. Es
ist hier Winter, wo die Bäume weniger üppig und das Laub dürr und
durchsichtig ist, leichter sich auszukennen. Hier ist das Massengrab der
Märtyrer aus dem Schreckensjahr 4856 (Pogrom vom Mai 1096 in Worms durch
Emicho (vgl.
https://de.wikipedia.org/wiki/Emicho_(Kreuzfahrer)), von denen das
Klagelied von Wirmaisa (Warmaisa, hebr. für Worms) in unseren
Kinoth (hebr. Klagelieder) spricht. Nicht weit davon das Grabmal von
Rabbi Meier von Rothenburg (vgl.
https://de.wikipedia.org/wiki/Meir_von_Rothenburg) und etwas von ihm
abstehend das von Rabbi Süßkind Wimpfen (vgl.
https://de.wikipedia.org/wiki/Alexander_ben_Salomon_Wimpfen) aus
Frankfurt, der sein ganzes Vermögen hergegeben hatte, um die heiligen
Überreste des Gefangenen aus der Festung http://www.alemannia-judaica.de/ensisheim_synagogue.htm
zu retten und in der heiligen Erde zu bestatten. Gar nicht weite davon ruht
Rabbi Jacob Möllen, der 'Maharil' (vgl.
https://de.wikipedia.org/wiki/Jakob_ben_Moses_haLevi_Molin).Wie ein
Singen und Klingen geht es aus diesem Grabe, Melodien mit und ohne Worte,
die Generationen in Gotteslob verbinden… Und andere, und wieder andere,
jedes Grab ein Kapitel jüdische Geschichte, ein Zeuge jüdischer Glanz- und
Leidenszeit zugleich. Gesegnet die zwei Minuten, dass ich euch, heilige
Gräber, heute Morgen noch einmal grüßen darf…
Zurück an der alten Synagoge (vgl.
https://de.wikipedia.org/wiki/Synagoge_Worms) vorbei. Für den
Steinstuhl (vgl.
http://www.alemannia-judaica.de/worms_synagoge.htm) in der Kapelle,
auf dem Raschi gesessen und gelehrt, reicht es nicht mehr. Die 'zwei
Minuten', die mich zwei Stunden gekostet, oder richtiger mir eingebracht,
dürfen sich nicht wiederholen.
In den alten Gassen, durch die der Geist der jüdischen Geschichte
sichtbarlich wandelt, sah ich kaum ein jüdisches Gesicht, auch in den neuen
nicht. Es ist Montagmorgen, Geschäftszeit und die Nachkommen der
Ghettobewohner sitzen in den Büros oder hinter Ladentheken oder sind auf
Reisen. Am Bahnhof sehe ich deren einen ganzen Trupp. Viehhändler oder
Fruchthändler aus Osthofen,
Gau-Odernheim,
Hillesheim,
Heßloch, oder wie sonst die Dörfer und
Flecken am linken Rheinufer heißen. Sie kommen zur Fruchtbörse oder fahren
zum Viehmarkte. Ich kenne den Typ. Zumeist wetterfeste Gestalten mit guten,
treuen jüdischen Gesichtern, ländlich, aber gut angezogen. Der alte
Viehhändler im blauen Kittel mit dem Knotenstock in der Hand ist
ausgestorben. Jüngere haben den Schnurrbart gut gedreht und tragen graue
Regenmäntel weltmännisch auf dem Arm. Alle grüßen, obwohl mich keiner kennt,
grüßen in mir den Juden, den Bruder.
Im Bahnwagen komme ich mit einigen ins Gespräch. Wackere, brave Männer und
missmutig. Das Leben auf dem Lande ist heute schwer. Der Viehhandel, und
nicht minder der Fruchthandel, liegen im Argen. Wenn der Bauer nichts hat,
hat auch der Jude nichts. Wehe aber wenn sich letzterer von eigener Not dazu
treiben lässt, den verschuldeten Bauer etwas hart anzupacken…
Es sind ohnehin Männer am Werk, dem Bauer klar zu machen, dass an allem der
Jude schuld sei… Die Jüdischkeit auf dem Lande? |
Ein
heikles, trübes Kapitel. Die Gemeinde nimmt von Jahr zu Jahr ab. Meistens
hört man sagen: 'Seit der Bernhard, seit der Heinrich, seit der Baruch tot
ist.' Dieser Bernhard, dieser Heinrich und dieser Baruch, es waren die
Einzelnen, die letzten, an denen noch alles hing, die das Ganze
zusammenhielten. Seitdem die tot sind, geht es vollends abwärts. Man kann
keinen Lehrer mehr halten, die Kinder haben mangelhaften oder gar keinen
Religionsunterricht. Die Alten halten noch den Sabbat, wie sie ihn
verstehen, die Söhnchen haben rote Kappen auf und fahren am Sabbat in die
Stadt zur Schule, am freien Sabbatnachmittag und am Sonntag gehen sie auf
den Sportplatz… Es ist gar nicht so schwer, auf dem Lande den Sabbat zu
halten und man hält ihn auch soweit. Man geht 'schulen' (Synagoge
besuchen) und man 'ort' (betet). Wenn zwei aus dem nächsten Dorf
mit der Bahn am Sabbat angefahren kommen, gibt es auch Minjan
(vgl.
https://de.wikipedia.org/wiki/Minjan) …Nach Schul (Synagogenbesuch)
geht man ins Wirtshaus, spielt und trinkt und zahlt auch. Dass es
lauter Ungeheuerlichkeiten sind, wissen sie nicht mehr. Am Sabbat wird recht
gut gegessen. Dass man die Speisen am offenen Feuer auch nicht einmal wärmen
darf, wissen sie nicht. Es hat ihnen keiner gesagt. Vor dem Schlafengehen
greift jeder zum Gebetbuch, keiner geht ohne Nachtleienen zu Bett. Morgens
legen die Alten Tefillin (vgl.
https://de.wikipedia.org/wiki/Tefillin) an, oft vor Tag
und beten weiter hinter der Kuh, die sie im Morgengrauen zum Markte treiben.
Die Jungen fürchten sich bei Tag nicht…
In den Haushalten ist es überall streng koscher, sofern man die Schechita
(vgl.
https://de.wikipedia.org/wiki/Schächten) am Platze oder in der
Nachbargemeinde als solche bezeichnen darf. Die Alten nehmen ihre Hauswurst
mit auf die Reise, wie anno dazumal. Die Jungen?... Stundenweit gehen die
braven Menschen zu Fuß über Land, um letzten Liebesdienst einem toten Bruder
zu erweisen, oder Trostbesuch bei dessen Verwandten zu machen. Die
Gastfreundschaft zu Hause ist grenzenlos wie im alten Ghetto. Jahrzeit (vgl.
https://de.wikipedia.org/wiki/Jahrzeit) wird streng eingehalten. Am
Purimabend (vgl.
https://de.wikipedia.org/wiki/Purim), so erzählte mir der Parneß
(vgl.
https://de.wikipedia.org/wiki/Parnas) von H… stolz, fehlte keiner.
Aber es war keiner da, der aus der Megilloh (vgl.
https://de.wikipedia.org/wiki/Megilla, gemeint ist hier das Buch Esther,
aus dem an Purim zu Ehren von Königin Esther gelesen wird) lesen konnte.
Seitdem der Bernhard tot ist…
Man las aus dem Chumisch (vgl.
https://de.wikipedia.org/wiki/Chumasch), die Megilloh (das Buch
Esther) lag daneben. Morgens waren nicht alle da, und die, die da waren,
hatten große Eile, denn in Osthofen war
Markt. Man begnügte sich daher mit den ersten zwei und dem letzten
Abschnitte. Mein Entsetzen darüber begreifen sie nicht. Es sagt ihnen auch
keiner.
Alle klagen sie über die Rabbiner, die sich 'nicht sehen lassen.' Es wäre
noch so manches zu machen. Hochzeiten finden am Platze nicht mehr statt, und
'Beerdigungen' besorgt der Herr Lehrer aus der Nachbargemeinde, von wegen
der Kosten. Auf die Weise bekommt man den Herrn Rabbiner nie zu Gesicht.
(Das gilt in diesem Zusammenhange lediglich für Rheinhessen).´ Überhaupt,
dass sich keiner in der Stadt, wo so viel von der Not der Landgemeinden und
der Landflucht gesprochen wird, um ihre geistigen Nöte kümmert! Ingenieure,
Agronome, Bauräte kommen im Winter ins Dorf und belehren die Bauern über
ihre Bebauung des Bodens, über Dünger, Maschinen, Ausnutzung des Raumes beim
Bau von Haus und Garten. Reichstags- und Landtagsabgeordnete kommen und
orientieren die Landleute über Politik, Partei und Parlament. Warum kommt
man nicht, die Juden aus dem Dorfe, und insbesondere die Jugend, in der
Religion zu unterweisen, sie zu unterrichten, zu belehren, etwa über den
Sabbat, die Erziehung?
Nur eine Partei kommt, die des Zentralvereins (vgl.
https://de.wikipedia.org/wiki/Central-Verein_deutscher_Staatsbürger_jüdischen_Glaubens).
Aber auch die Dorfjuden empfinden es zu innerst, dass das wohl eine recht
wichtige, aber doch nur äußerliche Sache ist. Es gibt sonst noch Fragen im
Judentum, die nicht gerade mit Hitler und Ludendorff (vgl.
https://de.wikipedia.org/wiki/Erich_Ludendorff) und dem 'Stürmer' (vgl.
https://de.wikipedia.org/wiki/Der_Stürmer) zu tun haben. Davon
erfahren sie auf dem platten Lande so gut wie nichts… Ich gewann sie von
Neuem lieb, diese ehrlichen, braven Menschen. Bei all ihren Mängeln, ihrer
Unwissenheit und Unkenntnis. Es ist schon beinahe mehr Schicksal, denn
Schuld. Und wenn schon Schuld, dann mit unsere Schuld… Vielleicht bringt
diese Gewissheit Nutzen.
Von Biblis ab bin ich allein, und ich
studiere die tiefen Worte aus dem Testamente des Rabbi Naftali Hakohen zu
Ende - über die jüdische Seele, die nie und nimmer an Glanz verliert, die,
wie Salomos Teppiche, wohl Schmutz und Staub annimmt, aber gewaschen und
gereinigt wieder gleich dem Äther glänzt, wie am ersten Tage, wie das Licht
aus dem Urquell, dem sie entsprossen ist…
Zwei Stunden später fahre ich mit der Achtzehnerlinie der Frankfurter
Straßenbahn durch die alte Stadt. Ein Blick nach rechts in die alten,
krummen Gassen und auf die alten, zum Teile neu und bunt gestrichenen
Giebelhäuschen um den Dom (vgl.
https://de.wikipedia.org/wiki/Kaiserdom_St._Bartholomäus)
herum und dahinter bis zum Maine und weiter nach dem
Börneplatz zu und an der
alten Friedhofsmauer
vorbei, hinter der es zwischen schwarzgrauen Ästen schon grünlich schimmert.
Auch, erst recht hier, gäbe es mancherlei zu schauen. Aber, um all dieses so
gesammelt zu sehen und zu genießen, wie mir dies heute Morgen in Worms
gegönnt war, darf man nicht in Frankfurt wohnen und leben, sondern man
müsste schon über Frankfurt kommen und hier für einige Stunden den Anschluss
verpassen…". |
Ausflug
von Frankfurt auf den Spuren von Raschi in Worms (1930)
Artikel in der Zeitschrift "Der Israelit" vom 30. Mai
1930: "Die Frankfurter Aguda zu Besuch bei Raschi.
Die Fahrt. Die Sache begann mit einem Minjangottesdienst kurz nach 5
Uhr in den Räumen der Aguda. Als erste Prämie wurde den Frühaufstehern ein
heißer Kaffee von überzeugender Schwärze und Stärke serviert. |
Als
wir, so erfrischt, kurz nach 6 Uhr mit dem Stabe an die Bahn kamen, sah
schon die ganze Bahnhofshalle gut jüdisch und agudistisch aus. Auch ältere,
würdige Herren und Damen mit Schirm und ein Mantel der weisen Voraussicht
sind dabei, aber vorherrschend ist die Windjacke frischer Jugendlichkeit.
Unser Verkehrsminister ist am Platz und in voller Tätigkeit. 'Wir zählen die
Häupter unserer Lieben, und siehe, es sind zehn mal sieben.' Natürlich dies
nur des schönen Reimes wegen. Eine spätere Volkszählung am Rheine ergab –
mit den von auswärts Hinzugekommenen – die Zahl von 85. Wir sind glücklich
verladen, haben einen eigenen Agudawagen und rollen frisch und froh dem
Rheine zu. Eine herrliche Frühsonne lacht uns zum Fenster hinein und mit
Lachen und Singen wird der Gruß erwidert. Spätlinge packen ihre Teffilin (vgl.
https://de.wikipedia.org/wiki/Tefillin) aus, andere bereits belegte
Brote. Frische Zeitungen gehen von Hand zu Hand. Die Nebenwagen sind voller
Ausflügler anderer Art. Auf irgendeiner Station ist ein ganzer Verein mit
Fahne anmarschiert. 'Wo ist der Gauleiter?' schreit einer. Und zum Fenster
unseres Wagons hinaus wird ihm die Antwort: 'Hier ist kein Goj leider
(vgl.
https://de.wikipedia.org/wiki/Goi), lauter Juden!'
Wir fahren weiter. Unterwegs nehmen wir noch Passagiere auf. Auf einer
Station steigt der Herr Lehrer aus C. (vermutlich
Crumstadt) zu uns ein, er vertritt
würdig, vergnügt und frohgemut seine ganze Gemeinde. In
Biblis tauchen die bekannten lieben
Gesichter aus Mainz und Wiesbaden auf, die überall in der Aguda mit dabei
sind und die echte rheinische Fröhlichkeit mitbringen.
(Foto): Die Frankfurter Aguda vor der alten Synagoge in Worms
Als so gegen 9 Uhr die ersten noch verschlafenen Wormser Sonntagsgesichter
durch die Fenster schauten, bewegte sich, nicht gerade militärisch in
geschlossenen Kolonnen, ein Zug durch die alten und neuen Gassen, wie er
nicht oft gesehen wurde.
Bei Raschi. Wir stehen im alten Chuppohof (vgl.
https://de.wikipedia.org/wiki/Chuppa), werfen einen Blick auf und in
die 'alte Schul' (vgl.
https://de.wikipedia.org/wiki/Synagoge_Worms), in der Raschi (vgl.
https://de.wikipedia.org/wiki/Raschi) noch 'gebetet' hat (sie ist
1034 erbaut), in der die Märtyrer der Kreuzzüge sich für den letzten Gang
gerüstet, in der später Maharil (vgl.
https://de.wikipedia.org/wiki/Jakob_ben_Moses_haLevi_Molin) seine
letzten Lieder gesungen und seine letzten Mahnworte gesprochen und in der
noch später Juspha Schammes (vgl.
https://de.wikipedia.org/wiki/Juspa_Schammes), ein stiller Heiliger,
dreißig Jahre heiligen Dienst versah! Er würde es heute nicht mehr tun, denn
durch den geweihten Raum mit der Thorarolle des Maharam von Rothenburg (vgl.
https://de.wikipedia.org/wiki/Meir_von_Rothenburg), mit der Fülle
von heiligen Reliquien tönen und höhnen zuweilen Orgelpfeifen. Und,
dass den Damen kein Ton davon verloren geht, sitzen sie unten im
Anbau, durch keine Tür und keinen Vorhang von den Männern getrennt. Eine
solche Wandlung (oder Vandalismus) konnte der Verfasser des Wormser 'Nissim'-Buches
nicht ahnen.
An der Straßenfront gegenüber der alten Schul (= alte Synagoge)
erhebt sich auch eine neue Synagoge, hübsch und gut gebaut. Leider hat das
einzige Haus im heutigen Worms, das am Schabbos (vgl.
https://de.wikipedia.org/wiki/Sabbat) geschlossen hält ... Die
Synagoge wird nur zu den hohen Feiertagen (insbesondere
https://de.wikipedia.org/wiki/Rosch_ha-Schana und
https://de.wikipedia.org/wiki/Jom_Kippur) aufgemacht, da das kleine
Minjan (vgl.
https://de.wikipedia.org/wiki/Minjan) der Ausländer und sodann die
alte Schul für die Beter, die sich an diesem Tage an ihren Gott erinnern,
nicht ausreichen. Sonst ist dieser Synagoge nichts nachzusagen. Hier hatte
man den Geschmack und den Anstand, eine Orgel nicht einzubauen.
Wir steigen in das alte Tauchbad (vgl.
https://de.wikipedia.org/wiki/Mikwe_(Worms)) hinunter. Ein richtiger
romanischer Katakombenbau aus dem 8. der 9. Jahrhundert. Man hat diese alte
Tauchbad erst dieser Tage entdeckt. Das Wasser ist ihm längst ausgegangen,
wie so manche Quelle leider auf diesem historischen Boden versiegt ist… Zur
Zeit baut die Gemeinde vornehmlich auf Betreiben einiger der dort ansässigen
Ostjuden, eine neue Mikwah.
Und nun sind wir in der Raschi-Kapelle. Über 80 Menschen füllen sie
bis an den Rand. Ergreifend ist jeder Stein in diesem alten Lehrhause, aber
die Wände sind in den letzten Jahren etwas kitschig angemalt worden. Das
elektrische Licht hier wie in der Schul (Synagoge) stört die
Illusion, aber im Vorraum hängen die großen Laternen mit denen Rasenstern
und der rote Luchs und Wacholder und wie die Wächter alle damals hießen, die
das Ghettotor bewachten. Auf dem Tisch in der Kapelle liegt ein dickes Buch,
in das die Namen der Besucher eingetragen werden. Unzählige Namen von Juden
und Nichtjuden, von Menschen, die da kommen, um alte Bautechnik zu bewundern
und von Menschen, die die Ehrfurcht vor den Mahnen Raschis, Rabbi Meirs (vgl.
https://de.wikipedia.org/wiki/Meir_von_Rothenburg) und Maharils (vgl.
https://de.wikipedia.org/wiki/Jakob_ben_Moses_haLevi_Molin)
hierhergeführt…
Das Gedränge im kleinen Lehrhaus ist nun durch die Frankfurter Invasion so
bedrohlich, dass die an die Wand Gedrückten auf eine Wiederholung des
'Wunders von der eingedrückten Mauer' harren müssen, wenn ihnen nicht der
Atem ausgehen soll. Es sind auch ein paar Wormser dabei. Noch auf der alten
Steinbank steht der Referent und geistige Führer der Expedition und spricht
zu der still und ergriffen lauschenden Schar über
(Foto). Die Frankfurter Aguda vor der Raschikapelle
das alte Worms, die ersten jüdischen Zentren in Deutschland, aus den Zeiten
des Rabbi Gerschom (vgl.
https://de.wikipedia.org/wiki/Gerschom_ben_Jehuda) und Raschi.
Raschi musste, wie alle, die damals lernen wollten, nach Mainz und Worms
kommen, um in der Schule des Rabbi Jakob ben Jackar (vgl.
https://de.wikipedia.org/wiki/Jakob_ben_Jakar), des Schülers des
Rabbis Gerschoms, dessen Lehre in sich aufnehmen. Mit 25 Jahren kehrte
Raschi nach seiner Heimatstadt zurück, wo er bis zu seinem Tode 1105,
verblieb. Damit ist die Illusion der Raschi-Kapelle in ihrem
Hauptteile zerronnen. Denn dieses kleine Lehrhaus wurde nachweislich erst
1624 durch David Oppenheim (vgl.
https://de.wikipedia.org/wiki/David_Oppenheimer_(Rabbiner))
errichtet. Aber hier auf diesem Platze stand ein älteres Lehrhaus, in dem
Raschi gewiss gelernt und vielleicht auch gelehrt hat. Der Raschistuhl
oben aus hartem Stein mit farbiger Lehne ist mindestens eine Reliquie aus
jenem alten Bau.
Und nun stehen wir vor der eingedrückten Mauer, der Nische, die sich
ad hoc für eine Frau gebildet hatte, die, mit kostbarer jüdischer Hoffnung
unter dem Herzen, in der engen Gasse von einem Judenfeinde mit seiner Fuhre
beinahe zu Tode gedrückt worden wäre. Ist Menschenherz Stein geworden, so
bekommt die Mauer ein Herz von Fleisch und bietet einem armen bedrohten
jüdischen Weib Zuflucht und Rettung… Lange genug erzählte man diese
Geschichte in Verbindung mit der Mutter von Raschi und hatte dadurch keinen
Schimmer von historischer Wahrscheinlichkeit. Bis man später aufgrund alter
Schriften dahinter gekommen ist, dass es sich um die Mutter von Rabbi
Jehuda Hachossid (vgl.
https://de.wikipedia.org/wiki/Juda_ben_Samuel) (1200) handele. Sie
kann in Worms gelebt haben. Hier kann auch Rabbi Jehuda das Licht der Welt
erblickt haben, obwohl er spät in
Regensburg gelebt und gelehrt hatte. Der Referent benutzt die
Gelegenheit, aus dem Leben dieses Gaon (Ehrentitel für einen
Rabbiner) der jüdischen Ethik zu erzählen und einiges aus seinem
Hauptwerke 'Sefer Chassidim' wiederzugeben.
Ein Gang durch das Museum zeigt, dass die Gefühle der Pietät und Dankbarkeit
im heutigen Worms noch nicht erloschen sind. Es ist alles aufs Beste und
Schönste geordnet. Die Memor-Bücher (vgl.
https://de.wikipedia.org/wiki/Memorbuch), die Minhag-Bücher (vgl.
https://de.wikipedia.org/wiki/Minhag_(Judentum), die alten, auf
Pergament handgeschriebenen Gebetbücher und Machsorim (vgl.
https://de.wikipedia.org/wiki/Machsor), alte Thorarollen,
geschwungene Schofarhörner (vgl.
https://de.wikipedia.org/wiki/Schofar) Judenschutzbriefe auf allen
Jahrhunderten des Mittelalters (vgl.
https://de.wikipedia.org/wiki/Judenordnung), Chalizahschuhe (vgl.
https://de.wikipedia.org/wiki/Chalitza-Schuh) und was sonst noch
alles an stummen Zeugen einer reichen, starken und leidvollen Vergangenheit. |
Im
Vorraume sind alle Talmudtraktate und Ähnliches aufbewahrt und – aufgebahrt.
Bei uns sieht man solche Bücher nicht unter Glas, sondern es wird in den
Jeschiwas und Lehrhäusern aus ihnen gelernt…
Gegen 11 Uhr hatten wir bereits genug gesehen und in uns aufgenommen, um uns
eine Ruhe- und Frühstückspause unter den Linden und Kastanien im Garten des
'Apostelbräu' zu gönnen. Die Kamera unseres Killephotographen wie der
Amateure arbeiten fleißig. Der historische Augenblick, da mein junger,
kerngesunder Tischnachbar in sein Wurstbrot hineinbeißt, darf der Nachwelt
nicht verloren gehen... Vom köstlichen Apostelbräu ist wohl nicht viel
abgesetzt worden, gebenscht wurde aber – zumeist mit Minjan – unter jedem
Baume. Die Linden und Kastanien schüttelten das alte Haupt…
Auf dem Friedhofe. Eine Stunde später sind wir auf dem
alten Friedhof (vgl. auch
https://de.wikipedia.org/wiki/Heiliger_Sand). Ein heiliges Zittern
geht durch unser Gemüt, da wir durch das alte Gittertor gehen. Auf dem
Vorgelände, bleiben wir wie auf Verabredung stehen. Man hat das Gefühl, man
dürfte nicht so ohne Vorbereitung, ohne irgendeinen Preis den heiligen Boden
betreten. Etwas lernen, etwas beten, wünschen gerade die Jüngsten. Es wird
eine Mischna (vgl.
https://de.wikipedia.org/wiki/Mischna) gelernt und Kaddisch gesagt,
dann rezitiert der Leiter die für den Friedhof vorgeschriebenen Gebete, und
alle sagen Wort für Wort mit größter Andacht mit. Erst jetzt wird uns der
Gang leichter. Schon sehen, wir an der Grabstätte des Rabbi Meir von
Rothenburg (vgl.
https://de.wikipedia.org/wiki/Meir_von_Rothenburg), siebenzig junge
und ganz junge Menschen neben einem Dutzend älterer Leute. Jugend grüßt die
alten Meister, kommt, ihnen zu sagen: 'Wir leben und ihr lebet in uns, mit
uns. Wir lernen eure Lehre, sprechen eure Sprache und denken eure ewigen
Gedanken…'
'Es verrenkte sich die Hüfte Jakobs', aber sie war ihm nie gebrochen.
Und was nur ausgerenkt ist, lässt sich wieder einrenken. Es hat sich
im jüdischen Deutschland nach einer Unterbrechung von hundert Jahren manches
wieder eingerenkt. Seht ihr, ihr Meister, wir kommen!
'Wir dürfen kommen. Wir kommen nicht als Altertumsforscher oder
Grabschnüffler. Wir kommen als Jünger, deren Leben erblühen soll aus
grasbewachsenen alten Grabhügeln!...
Darauf sind die Worte und Erklärungen des Referenten abgestimmt, indem er
die Grabschrift verliest und die tragische Geschichte des großen Gefangenen
(vgl.
https://de.wikipedia.org/wiki/Meir_von_Rothenburg) von
Enzisheim kurz erzählt. Die
Erpressungsversuche von Rudolf v. Habsburg (vgl.
https://de.wikipedia.org/wiki/Rudolf_I._(HRR)) (der Name klingt
beinahe symbolisch) am lebenden Rabbi scheiterten, die Spekulation
auf den toten Rabbi gelang. Ein Frankfurter Alexander Süßkind Wimpfen (vgl.
https://de.wikipedia.org/wiki/Alexander_ben_Salomon_Wimpfen), gab
sein ganzes Vermögen her, um die heilige Hülle auszulösen. 1307 kam Rabbi
Meir hier zur Bestattung, in der Nähe seines großen Vaters Rabbi Baruch.
Kurz darauf durfte dem Frankfurter Wohltäter der einzig gewünschte Lohn
seiner Opfertat werden. Er folgte dem Meister und wurde an seiner Seite
bestattet. Beide Denksteine lehnen aneinander, als würden sie sich
gegenseitig stützen….
Ein paar Schritte weiter und wir haben volle hundert Jahre
zurückgelegt. Wir stehen an dem etwas vereinsamt in einem Becken liegenden
Grab des Rabbi Jakob Möllen, Maharil (vgl.
https://de.wikipedia.org/wiki/Jakob_ben_Moses_haLevi_Molin) genannt.
Wie ein Singen und Klingen kommt aus dem Grabhügel des Mannes, der der
deutschen Judenheit, und vielleicht der Judenheit des Abendlandes, den
Minhag (vgl.
https://de.wikipedia.org/wiki/Minhag) und den Nigun (vgl.
https://de.wikipedia.org/wiki/Niggun) gegeben hat. Hier
schlägt der Referent einen Ton an, wie man ihn nur auf einem jüdischen
Totenfelde, das wir 'Haus des Lebens' nennen, anschlagen darf. Er gibt
Ernstes und noch mehr Heiteres aus dem Leben des Ghetto wieder, wie es sich
im Buche des Maharil widerspiegelt. Das Ghetto war nicht immer in Tränen
aufgelöst, es konnte auch leben und lachen und in Pausen, die die Not
gewährte, Geistesschätze schaffen, für die alle Regale unsere Bibliotheken
nicht ausreichen. Die Tränen und Seufzer haben in ein paar kleinen, dünnen
Büchlein, Slichaus und Kinaus Aufnahme gefunden…
Ein kurzes, dankbares Verweilen am Grabe des Mannes, dem wir das Wissen um
die alten Dinge in der Hauptsache verdanken, Rabbi Juspho Schammes
(vgl.
https://de.wikipedia.org/wiki/Juspa_Schammes), Verfasser der Wormser
'Nissimbuches'. Er kam, dieser sonderbare Mann, um die Mitte des 17.
Jahrhunderts von Fulda nach Worms und hatte
Wissen, Verdienste und lautere Frömmigkeit genug, um Oberrabbiner der alten
Gemeinde zu sein. Er aber sagte: 'Ich will Diener des Herrn sein' und
blieb Schammes (vgl.
https://de.wikipedia.org/wiki/Schammes) der Gemeinde Worms dreißig
Jahre lang, bis er 1678 hier letzte Ruhe fand. Sein Nissim-Buch ist
heute noch eine Quelle für Historiker und Romantiker. Die alten Wormser
sagten aber in tiefster Ehrfurcht: 'Einer der Sechsunddreißig!...'
Ein paar Meter weiter ist die Gräberreihe der Bachrach. Ein paar
Minuten stillen Gedenkens dem bedeutendsten in dieser Ehrenreihe, Rabbi
Jair Chajim Bachrach (vgl.
https://de.wikipedia.org/wiki/Jair_Chajim_Bacharach), dem Verfasser
des 'Chawath Jair' (vgl.
https://de.wikipedia.org/wiki/Datei:Havat.jpg) und der Referent
erzählt von den Kämpfen des großen Rabbi und seinen Beziehungen zu
Frankfurt. Er folgte seinem Vater,
Rabbi Schimchon, als 'dessen Nachfolger' in die Ewigkeit.
Der letzte Gruß gilt den zwölf Märtyrern (vgl.
https://www.regionalgeschichte.net/rheinhessen/aktive-in-der-region/gauss-gymnasium/wormser-juden-im-11-jh/das-pogrom-von-1096.html)
an der Mauer. Mit ihrem Opfertod wurden die Schrecken des ersten
Kreuzzuges 1096 (es war, wie heute, der 18. Mai, aber der erste Siwan
[vgl.
https://de.wikipedia.org/wiki/Siwan_(Monat)]) eingeleitet und sie haben
hier ihr gemeinsames Grab gefunden. Die Grabschrift, bestehend aus den drei
Worten Hier ruhen 12 Parnasim wirkt erschütternder als alle
Lobeshymnen. Der Referent erzählt ihre Geschichte und ihren Opfergang für
ihre Gemeinschaft, er war leider nutzlos. Wie eine Stimme ruft aus allen den
heiligen Gräbern: 'Lebet für das, wofür wir gestorben
sind!...'
Aus dem Minhag-Buch (vgl.
https://de.wikipedia.org/wiki/Minhag_(Judentum)) ersehen wir, dass
Jahrhunderte hindurch je am ersten Siwan und am Rüsttag zu Jom Kippur (vgl.
https://de.wikipedia.org/wiki/Jom_Kippur) die Vorsteher des Chewraus
(vgl.
https://de.wikipedia.org/wiki/Chewra_Kadischa) Rundgänge um die
Mauer machen und sich dann auf das Grab der zwölf Märtyrer warfen, um hier
zu beten. Es drängt uns, Ähnliches zu tun. Ein stimmbegabter Teilnehmer
rezitiert an den Märtyrergräbern das Aw Horachamim (vgl.
https://de.wikipedia.org/wiki/Aw_HaRachamim); sinniger
Abschiedsgruß.
Im Vorgelände waschen wir die Hände und sammeln uns zu gemeinsamem
Minchagebete (vgl.
https://de.wikipedia.org/wiki/Mincha) unter freiem Himmel. Wie wir
das heilige Gelände mit Gebet betreten haben, so möchten wir es verlassen.
Der Vorsitzende der Jugendgruppe spricht das aus, was allen in dieser Minute
in der Seele liegt: 'Es ist ein Ausflug von ganz eigener Art. Wir dürfen es
gar nicht Ausflug nennen, man müsste anderen Namen dafür erfinden!'
Nachmittag. Nun wandern wir, gehoben und innerlich bereichert, ziellos
durch die alten Straßen. Unversehens stehen wir vor der Rheinbrücke,
an deren Eingang französische Soldaten ihre letzte Langeweile ausgähnen.
Hier reiht sich Gartencafé an Gartencafé. Indem wir uns ein wenig erholen
und erquicken, ist ein besonders gewandter Teilnehmer mit einer kleinen
Expedition ausgerückt, um ein Schiff für uns zu kapern. Das kleine Motorboot
kann 64 Mann tragen. Wir sind unserer 80 und manche 'schwerwiegende'
Persönlichkeit darunter. Mit einem blinden Passagier – wir haben 65
Agudisten an Bord – kämpfen wir eine Stunde lang gegen die Wellen. Bis es
dem 'Herrn Kapitän' am Ruder zu bunt wird und wir wieder irgendwo an Land
gesetzt werden. Wir suchen die 'versprengten Stämme', finden sie, und
verlieren dabei anderes wertvolle Menschengut…
Am Bahnhofe und im Zuge findet sich alles wieder. Die Rückfahrt ist ein
Schlussakkord froher Geselligkeit.
Mit dem Gesange des 'Wetaher libbenu' , anwachsend bis zur
chassidischen (vgl.
https://de.wikipedia.org/wiki/Chassidismus) Ekstase, fahren wir in
den Frankfurter Hauptbahnhof ein. Zweck, Sinn und Bedeutung dieses
eigenartigen Ausflugs rangen nach Ausdruck und fanden ihn in der kürzesten
Formel: wetaher libenu le'owdecha be'emet = 'Reinige unsere
Herzen, dass sie dir in Wahrhaftigkeit dienen' (aus den Gebeten zum Schabbat)". |
Leserbrief
zum Bericht auf den Spuren von Raschi in Worms (1930)
Artikel in der Zeitschrift "Der Israelit"
vom 19. Juni 1930: "Von der Raschikapelle in Worms.
Unser Bericht im lokalen Teile (Nr. 22) über den Besuch der Frankfurter
Aguda bei Raschi hat Beachtung auch in wissenschaftlichen Kreisen gefunden.
Herr I. Kiefer in Worms schreibt uns u.a. :
'Ich habe mit Interesse Ihren Bericht über den Besuch in Worms gelesen. Es
triff zu, dass wir die Traditionen zu wahren wissen. Es ist aber nicht
richtig, dass der Stuhl (sc.
Raschis Stuhl
in der Raschikapelle) älter als der jetzige Bau ist, oder gar dem alten Bau
entstammt. Ferner ist richtig zu stellen, dass der Gemeindevorstand aus
eigener Entschließung den Bau einer Mikwoh (vgl.
https://de.wikipedia.org/wiki/Mikwe) vorgesehen hat. Anträge liegen
von seiner Seite aus vor. Außer der Mikwoh haben wir einen Gang unter dem
alten Friedhof aufgefunden, bei dem der
Boden aus jüdischen Grabsteinen besteht.
Sodann geht uns Nr. 4 der 'Zeitschrift für die Geschichte der Juden in
Deutschland' (Philoverlag, Berlin) zu, die mit einem
geschichtswissenschaftlichen Aufsatz über die
Raschikapelle hausgefüllt ist. Nach gründlicher Untersuchung aller
Quellen kommt der Autor I. Kiefer zu dem Resultate, dass alle Berichte von
Juspho Schammes (vgl.
https://de.wikipedia.org/wiki/Juspa_Schammes) über das frühere
Bestehen eines Raschilehrhauses auf dem Platze der jetzigen Kapelle als
zuverlässig anzusehen sind. Die Erneuerung des Baues durch David Oppenheim
(vgl.
https://de.wikipedia.org/wiki/David_Oppenheimer_(Rabbiner))
konnte ihm von seinem Nimbus als Lehrhaus nicht nehmen." |
In
Worms wurde eine zweite mittelalterliche Mikwe freigelegt (1930)
Artikel in der Zeitschrift "Der Israelit" vom 19. Juni
1930: "Worms, 17. Juni. Wir lesen im 'Mainzer Anzeiger': Hier
wurde jetzt das zweite jüdische Frauenbad freigelegt. Beim Abbruch
von zwei alten Häusern stieß man in der Hinteren Judengasse, direkt neben
der alten Synagoge, auf die Anlage, die für die Geschichte der
mittelalterlichen jüdischen Gemeinde von großer Bedeutung ist. Die
Badeanlage misst im Quadrat 1,40 x 1,60 Meter. Es haben sich bisher keine
Anhaltspunkte ergeben, die eine genaue Datierung des interessanten Baues
ermöglichen. Die Sole des Bades liegt etwa 10 Meter unter dem Pflaster der
Straße. Dieses zweite jüdische Frauenbad ist in der Anlage das gleiche wie
das hinter der Synagoge, nur etwas kleiner. Bemerkenswert dürfte noch sein,
dass sich in dem abgebrochenen Hause eine Badeeinrichtung der jüdischen
Gemeinde gehörend, befand." |
Über eine Worms-Fahrt der Vereinigung ehemaliger
Schüler und Schülerinnen der Samson Raphael Hirsch-Schule Frankfurt
(1931)
Artikel in der Zeitschrift "Der Israelit"
vom 25. Juni 1931: "Die Woche Die Worms-Fahrt der Vereinigung
ehemaliger Schüler und Schülerinnen der Samson Raphael Hirsch-Schule.
Die letzte Besichtigung der Vereinigung für dieses Jahr galt Worms
und seinen jüdischen Heiligenstätten, und dieser Schusspunkt war ein
Höhepunkt. Von vornherein war von liebevoller und organisationsfähiger Hand
die Sache so aufgelegt, dass Belehrung und Amüsement sich in einer
gefundenen Mischung fanden. Ein herrlicher Ausflug durch sommerliche Felder
und Fluren, zugleich aber auch ein Ausflug ins Geistige.
Punkt ½ 9 stand der schöne, bequeme Postautobus an der
Friedberger Anlage, der
annähernd 40 Herren und Damen aller Altersklassen aufnahm, jugendliche
Greise, wie junge Damen und Herren, die mindestens seit einem viertel Jahre
schon zu den 'Ehemaligen' zählen. Es ging in höchst angenehmer Fahrt auf
glatten schönen Straßen durch die lieblichen Wälder des Hessenlandes die
wundervolle Bergstraße hinan. Etwas unentschlossen schaute durch lichten
Schleier die Sonne herab, wie es sich gehört an einem Tage, den der Kalender
knallrot für den 21. Juni ausgibt. Durch saubere Dörfer, Weiler, Städtchen
und Marktflecken ging die Fahrt. An verschiedenen Ortschaften grüßten uns
Ehrenpforten mit einem 'Herzlich willkommen' in riesigen Kranzschleifen.
Diese Willkommensgrüße galten nicht uns, sondern einem Kriegerverein, einem
Sängerbund oder der Feuerwehr, die da und dort gerade ihre Fahnenweihe
feierten. Um die Mittagszeit hielten wir vor dem in Sonnenglanz gehüllten
Häuschen der Judengasse. Hier kann
kein Postauto nicht durch, wenn sich nicht das Wunder von der 'eingedrückten
Mauer' noch einmal wiederholen soll. Also ziehen wir per pedes apostolorum (=
zu Fuß wie die Apostel) in fast feierlichem Marsch durch die enge Gasse
und stehen bald vor dem altehrwürdigen Bau. Ein halbes Dutzend Burschen, die
nicht vom Stamme Raschis (vgl.
https://de.wikipedia.org/wiki/Raschi sind), stellen sich uns
gleich vor. Beruf: Arbeitslos. Eine kleine Unterstützung würde nicht
zurückgewiesen werden. Diese erste Sehenswürdigkeit ist keine Wormser
Spezialität.
Es folgt die Besichtigung der alten Stätten unter fachkundiger Führung, die
sich nicht auf Holz und Stein beschränkt, sondern auch die Sprache – und die
Tränen – der alten Quadern zu vermitteln sucht. Ein paar Angaben über das
Alter des jüdischen Worms und der deutschen Judengemeinde überhaupt. Das
heilige Sefer (hebr. 'Buch', kann für den Tenach, Mischnah oder Talmud,
sowie sonstige rabbinische Literatur gelten), das Rabbi Meir von
Rothenburg (vgl.
https://de.wikipedia.org/wiki/Meir_von_Rothenburg), wahrscheinlich
im Gefängnis, mit eigener Hand geschrieben hat und anderes interessiert
gewaltig.
Der Chupahof (vgl.
https://de.wikipedia.org/wiki/Chuppa) gibt Anlass zur
Schilderung einer jüdischen Hochzeit im Ghetto des Mittelalters nach
Aufzeichnungen des Maharil (vgl.
https://de.wikipedia.org/wiki/Jakob_ben_Moses_haLevi_Molin). Der
tiefe, festungsartige Katakombenbau der alten Mikwah (vgl.
https://de.wikipedia.org/wiki/Mikwe_(Worms) bzw.
Fotos), der längst das Wasser
ausgegangen ist – es ist hier so manche Quelle versiegt – erfüllt mit
heiligen Schauern vor der keine Hemmung kennenden und kein Opfer scheuenden
Pflichtfreude unserer Väter und Mütter. Die sogenannte Raschi-Kapelle
(Raschi und Kapelle, die Zusammenstellung klingt nach Attraktion!) ist in
Wahrheit eine David-Oppenheim-Stiftung (vgl.
https://de.wikipedia.org/wiki/David_Oppenheimer_(Rabbiner)) aus dem
17. Jahrhundert. Über die neuesten wissenschaftlichen Forschungen ergaben
einwandfrei, dass an dieser Stelle früher schon ein Lehrhaus gestanden hat,
in der Raschi, wenn vielleicht auch nicht gelehrt, so zum Mindesten
gelernt hat. Der kitschig blaue Anstrich von heute hätte ihn
wahrscheinlich gestört. Denn Raschi war kein Freund von vieler Tinte und
sonstigem Geschmiere… Der geweihte Ort gibt Veranlassung, einiges über
Raschi, der in Nordfrankreich in einem unbekannten Grab ruht, zu sagen.
Sodann wird die eingedrückte Mauer ein bisschen zurechtgeschoben.
Die Mär bringt sie in Verbindung mit Raschis Mutter, die aber Worms nie
gesehen hat. Die Überlieferung betrifft aber die Mutter von Rabbi Jehuda
Hachassid (vgl.
https://de.wikipedia.org/wiki/Juda_ben_Samuel) in
Regensburg, dem Verfasser des 'Sefer
Chassidim', der wirklich in Worms geboren ist. Sein Lied erklingt uns als
Sabbatschlusshymne im unvergleichlichen Anim Semirot (vgl.
https://en.wikipedia.org/wiki/Anim_Zemirot).
Diese Sendung, so winzig sie ist, wirkt symbolisch für Geschichte und
Geschick des Judentums im Mittelalter: Eng und klein das Leben und voller
Gefahren, aber immer geradeaus im Vertrauen zu G’tt, und wenn nötig, mit dem
Kopf durch die Wand!...
Oben im Museum sind ganze Jahrhunderte in Bild, Buch, Wimpel (vgl.
https://de.wikipedia.org/wiki/Mappa), Schutzbrief (vgl.
"Judenschutz" unter
https://de.wikipedia.org/wiki/Schutzbrief_(Diplomatie)) ,
Memorschrift (vgl.
https://de.wikipedia.org/wiki/Memorbuch), Schofar (vgl.
https://de.wikipedia.org/wiki/Schofar) und Chalizahschuh (vgl.
http://www.juedisches-recht.de/lex_erg_barfuser.php) niedergelegt.
Im Vorraum liegen alte Talmudausgaben unter Glas. 'Nicht berühren!', warnt
die Überschrift. Bei uns wird aus noch älteren Traktaten gelernt,
verpönt ist nur das Nichtberühren…
Nach dieser geistigen Sättigung war die Mittagspause wohl verdient. Wir
sitzen im herrlichsten Sonnenschein am lieblichen Rhein und verzehren unsere
Vorräte bei Sodawasser. Weiße Dampfer rauchen und fauchen. Ein Lautsprecher
erzählt etwas von Hoover und dem amerikanischen Angebot. Den Bankiers unter
uns schmeckt das Essen gleich besser.
Es wird dann noch einiges besichtigt, was nicht gerade zum Programme gehört,
und dennoch sehr lebenswert ist. Der monumentale Luther (vgl.
https://de.wikipedia.org/wiki/Lutherdenkmal_(Worms)) , der immer
noch inmitten seiner Gruppe steht und nicht anders kann… Davor das
Heyl-Museum (vgl.
https://de.wikipedia.org/wiki/Heylshof) ,das uns den Wandel des
Geschmacks und der Kunstrichtung vom Rokoko fast bis zur Zeit der neuen
Sachlichkeit in Bildern und Möbelstücken zeigt. Dann ist es späte
Nachmittagsstunde und Zeit, den großen Toten auf dem
alten Friedhofe den schuldigen Besuch
abzustatten.
Die Gräber liegen in idyllischer Ruhe da, umrankt von wildem Gewächs,
umsummt von tausend Käfern, auch weniger romantisch bissigen Schnaken, die
es besonders auf die Damen abgesehen haben. Das Totenfeld ist ein Labyrinth.
Wer nicht öfters hinkommt, irrt hilflos herum. Von den Hügeln keine Spuren
mehr, und der eine Stein genauso schwarzgrau und verwittert wie der andere.
Keine geordneten Reihen, und die Intervalle zwischen Stein und Stein, sind
oft so groß, dass man vermuten muss, dazwischen seien noch andere Gräber
verwischt worden. Stadt, Gemeinde und jüdische Öffentlichkeit sind etwas
spät darauf gekommen, diesen 'guten Ort' in ihren liebevollen Schutz zu
nehmen. Es ist mancherlei zur Systematisierung der Gedenksteine, die in
früheren Jahrhunderten so systemlos durcheinander gestellt wurden, wie der
Tod seine Ernte hält, geschehen, aber die meisten Inschriften sind doch
absolut unleserlich.
Gleich zu Anfang das Grabmal des Rabbi Meir von Rothenburg (vgl.
https://de.wikipedia.org/wiki/Meir_von_Rothenburg), und daneben an
dasselbe gelehnt, das des Frankfurter Philanthropen, der die Gebeine mit
seinem ganzen Vermögen aus dem Gefängnis zu
Ensisheim, Rabbi Alexander Süßkind
Wimpfen (vgl.
https://de.wikipedia.org/wiki/Alexander_ben_Salomon_Wimpfen). Am Yom
Kippur, so meldet die Grabschrift, hat dieser große Frankfurter seine Seele
ausgehaucht, und tags darauf wurde er in Worms, seinem letzten einzigen
Wunsche gemäß, an der Seite des großen Rabbi bestattet. Keiner kann das Grab
des Maharam (hebräisches Akronym von 'Unser Lehrer Rabbi Meir')
besuchen, ohne das des Wohltäters zu grüßen… Der Vater des Maharam, Rabbi
Baruch Ben Rabbi Meir, muss etwas zurücktreten; er steht auch hier im
Schatten des großen Sohnes…
Wir verbeugen uns in Ehrfurcht vor der Ruhestätte der 'zwölf Parnassim' (vgl.
https://de.wikipedia.org/wiki/Parnas_(Judentum)) an der Mauer, die
mit ihrem Freitod hier das Blutbad des ersten Kreuzzuges (vgl.
https://de.wikipedia.org/wiki/Judenverfolgungen_zur_Zeit_des_Ersten_Kreuzzugs)
am 1. Siwan (vgl.
https://de.wikipedia.org/wiki/Siwan_(Monat)) 1096 eingeleitet haben.
Nach einigem Suchen, das hier unvermeidlich ist, stehen wir auch am Grabe
des Maharil (vgl.
https://de.wikipedia.org/wiki/Jakob_ben_Moses_haLevi_Molin), des
Schöpfers und Schlüsselbewahrers von Minhag (vgl.
https://de.wikipedia.org/wiki/Minhag_(Judentum)) und Nigun (vgl.
https://de.wikipedia.org/wiki/Niggun)) vor 500 Jahren. Als
Todestag wird der 22. Ellul (vgl.
https://de.wikipedia.org/wiki/Elul) angegeben. Ein stummer Gruß für
das Grab des Rabbi Jaspho Schammes (vgl.
https://de.wikipedia.org/wiki/Juspa_Schammes), dieses heiligen,
sonderbaren Synagogendieners mit den Qualifikationen eines Oberrabbiners,
dessen Aufzeichnungen wir das spärliche Wissen um die Wormser Vergangenheit
danken. Noch einige Gräber, aus denen Blumen heiliger Erinnerungen wild
herausschießen, fesseln das Auge und der Besuch findet im Vorgelände mit
einem Minchah-Gebet (vgl.
https://de.wikipedia.org/wiki/Mincha) unter freiem Himmel seinen
Abschluss.
Die Rückfahrt führt eine große Strecke am Rhein entlang. In den Städtchen
und Dörfern, die vormittags im frischen Fahnenschmuck der Festzüge harrten,
gab es jetzt Jahrmarktstrubel und Tanz. In einer Gartenwirtschaft direkt vor
den tanzenden Paaren halten wir Rast an einer gut improvisierten
Kaffeetafel. Für den Rest der Fahrt hat aber die jüngere Jugend das Wort.
Heiterkeit, Frohsinn und Sangesfreude halten die 'Ehemaligen' in edler
Geselligkeit beisammen bis zu den Toren Frankfurts, die man mit dem
sinkenden Tag erreicht. Das Charakteristische dieses Ausflugs: Die Jüngsten
waren beim akademischen Teil angesichts der Stätten und Gräber vom gleichen
Ernst und gleicher Weihe ergriffen wie die Ältesten. Die Älteren und
Ältesten dafür auf der sangesfrohen Rückfahrt so jung und glücklich wie die
Jüngsten. Und damit war der Zweck des Ganzen in schönster Weise erreicht." |
Neue
Publikation zur Geschichte der Stadt Worms (1932/34)
Artikel in der Zeitschrift "Der Israelit"
vom 19. April 1934: "Aus der Geschichte der Stadt Worms.
Zusammengestellt von der Arbeitsgemeinschaft für Geschichte. Worms 1932.
243 Seiten.
In diesem Buch, das einen aufschlussreichen Gang durch die Geschichte der
Stadt Worms darstellt, befindet sich, was uns hier am meisten interessiert,
ein Kapitel über die Juden in Worms. In gedrängter Form finden wir die
Geschichte der Wormser jüdischen Gemeinde von ihren Anfängen – 1034 bestand
bereits eine blühende Gemeinde mit großer Synagoge – bis ins 18. Jahrhundert
hinein. Leid und Freude der mittelalterlichen und neuzeitlichen
Judengemeinde Worms sprechen in kurzen, eindrucksvollen Worten zu uns. Die
weitere Geschichte ist fortgelassen. Auch in anderen Kapiteln des Buches
werden die Wormser Juden erwähnt, so in dem von den Kreuzzügen und in dem
'Worms, die Stadt der Treue', wo davon berichtet wird, dass Heinrich IV. (vgl.
https://de.wikipedia.org/wiki/Heinrich_IV._(HRR)) mit den Wormser
Bürgern auch die Juden für die ihm bewiesene Anhänglichkeit belohnte. Eine
weitere Erwähnung der Juden hätte man auch in den Kapiteln über die
Bevölkerung der Stadt im Mittelalter und ihren Handel und Gewerbe erwartet.
Unter dem dem Buche beigegebenen reichhaltigen Bildermaterial finden wir
auch eine Abbildung der alten Synagoge." |
Artikel
über "Das jüdische Worms und seine Sehenswürdigkeiten" (1933)
Artikel in der "Gemeindezeitung für die Israelitischen Gemeinden
Württembergs"
vom 1. Mai 1933: "Feuilleton. Das jüdische Worms und seine
Sehenswürdigkeiten Wir entnehmen der Zeitschrift 'Der Jugendbund' folgende
Artikel:
Noch immer ist es zu wenig bekannt, dass die sagenumwobene
Nibelungenstadt am Rhein nicht nur die älteste jüdische Gemeinde
Deutschlands in ihren Mauern birgt, sondern auch in ihren jüdischen
Altertümern ein Bild jüdisch-mittelalterlichen Lebens so treu und
unverwischt erhalten hat, wie man es zum zweiten Male wohl in ganz Europa
nicht zu finden vermag. Hier braucht man der Fantasie nicht erst Flügel
leihen, nicht in mitternächtiger Stunde Schatten der Vorzeit zu beschwören,
um den Geist längst entschwundener Zeiten wieder zu erleben. Denn hier weht
er im hellen Licht des Tages, hier umfängt er den geschichtskundigen Juden
sowohl mit Schauern tiefer Ehrfurcht wie mit Wonnen seelischer Erhebung.
Hier ist einmal zur vollen Wahrheit und Wirklichkeit geworden das alte Wort
'Die Steine reden'. Und sie reden eine so laute und eindringliche Sprache,
dass, wer sie einmal gehört hat, sie nimmer vergisst.
Betrachten wir sie in aller Kürze.
Zunächst die Judengasse. Was hat sie nicht alles an Freud und Leid erfahren!
Hier tagte die berühmte Rabbiner-Versammlung des Jahres 1028, an deren
Spitze Rabbenu (Rabbiner) Gerschon (vgl.
https://de.wikipedia.org/wiki/Gerschom_ben_Jehuda) stand, 'das Licht
des Exils'. Hier wurden 1096 mehrere hundert jüdische Menschen erschlagen
als erste Opfer der Kreuzzüge (siehe
Artikel oben von S. Mannheimer) . Hier forderte mittelalterlicher
Wahn 1349 mehr jüdische Blutopfer als der unerbittliche 'schwarze Tod' (vgl.
.
https://de.wikipedia.org/wiki/Judenverfolgungen_zur_Zeit_des_Schwarzen_Todes)
Hier führte der Pöbel 1614 ein trauriges Nachspiel des Fettmilchaufstandes (vgl.
https://de.wikipedia.org/wiki/Fettmilch-Aufstand) auf und trieb
sengend und brennend die Juden aus ihren Häusern zur Stadt hinaus.
Die Synagoge stammt aus dem Jahr 1034, wie
der zur Rechten des schönen Hauptportals in die Mauer eingelassene Stein in
lapidarem Stil meldet. Es ist ein schmuckloser, doch durch seine schlichte
Einfalt und Harmonie wohltuender romanischer Bau, der durch zwei mit
prächtigen |
Kapitälen
geschmückte Säulen in zwei kreuzgewölbte Schiffe geteilt ist. Die heilige
Lade mit der schmiedeeisernen Tür, über der vier goldenen Kronen prangen –
an 'Sprüche der Väter' 4, 17 erinnernd (vgl.
https://de.wikipedia.org/wiki/Sprüche_der_Väter) – enthält
viele altertümliche Thorarollen. Die älteste derselben soll R.(abbi) Meir
von Rothenburg (vgl.
https://de.wikipedia.org/wiki/Meir_von_Rothenburg) in
Ensisheim als Gefangener des Kaisers
Rudolf (vgl.
https://de.wikipedia.org/wiki/Rudolf_I._(HRR)) geschrieben und auf
wunderbare Weise in den Besitz der Wormser Gemeinde gebracht haben. Vor der
Lade hängt 'die ewige Lampe' mit zwei Flammen 'den zwei unbekannten Fremden'
geweiht, die ihr Leben für die Gemeinde geopfert und am 7. Pessachtage
(vgl.
https://de.wikipedia.org/wiki/Pessach) 1348 den Feuertod erlitten
haben.
An die Männersynagoge schließt sich rechtwinklig die Frauensynagoge aus dem
Jahre 1213 an, in frühgotischem Stil, mit einem schönen Hauptportal. Außer
zahlreichen alten Leuchtern verdient der dem Leuchter des Zions
nachgebildete (vgl.
https://de.wikipedia.org/wiki/Menora und
https://de.wikipedia.org/wiki/Zion) aus dem 17. Jahrhundert
besondere Erwähnung.
An die Westwand der Synagoge schließt sich eine Kapelle, die nach Raschi
benannt ist, der im 11. Jahrhundert hier lernte und lehrte. In ihr sieht man
den uralten Stuhl aus Stein, auf dem der Meister gesessen hat. – Das
Frauenbad im Hof der Synagoge ist ein zehn Meter tiefer unterirdischer Bau,
der auf den Fundamenten einer Zisterne aus der Römerzeit im 11. Jahrhundert
in frühromanischen Formen errichtet worden ist.
Auch das ehemalige Spiel- und Tanzhaus der Gemeinde ist auf dem Synagogenhof
zu sehen.
Nach der historischen literarischen und kunsthandwerklichen Seite ergänzt
das kleine, aber inhaltsreiche Museum in der ehemaligen Ratsstube der
Gemeinde das Gesehene in überaus interessanter Weise. Hier kann man die
ältesten bis auf Kaiser Karl V. (vgl.
https://de.wikipedia.org/wiki/Karl_V._(HRR)) zurückreichenden
Urkunden, Schutzbriefe, Hypothekarbücher und hochwertige uralte
Handschriften sowie altes Silbergerät in prächtiger Ausführung sehen.
Mit dieser Schilderung ist der Schatz der Altertümer und Sehenswürdigkeiten
des jüdischen Worms nicht erschöpft. Noch ist vor allem der
Friedhof zu nennen, der zu den ältesten in
Europa gehört und eine große Anzahl Heroen jüdischer Wissenschaft und
Märtyrer jüdischen Glaubens birgt.
Stolz blickte die Gemeinde Worms auf ihre große Vergangenheit zurück, die
hier lebendig vor ihren Augen steht. Dieser Stolz teilt sich auch dem
jüdischen Besucher mit. Dr. Holzer
Vgl. noch zu Rabbiner Gerschon:
https://schumstaedte.de/entdecken/memorstein-fuer-gerschom-ben-jehuda/
https://www.deutsche-biographie.de/sfz98632.html
Zur Geschichte von den zwei Gästen, denen das Ewige Licht geweiht ist, siehe
Artikel oben. |
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